Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Neue Akteure im alten Streit um ein anderes Schulsystem in Deutschland

Dezember 2003

Die Angst vor einer neuen, von PISA angeregten, Strukturdebatte in Deutschland sitzt tief. Zu mühsam und schmerzlich war der Kompromiss zwischen Befürwortern und Gegnern der Integrierten Gesamtschule, dieses neue System nicht, wie in Hessen geplant, in der Fläche einzuführen, sondern es nur dort weiter auszubauen, wo Eltern in einer genügend großen Anzahl eine solche integrierte Schule für ihre Kinder fordern. Dieses Ergebnis eines viele Jahre tobenden Schulkampfes in Frage zu stellen, sollte in der Tat nicht aus ideologischem Übermut unternommen werden, sondern nur auf der Basis neuer Erkenntnisse.

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Die Strukturfrage - ein Nebeneffekt der PISA-Studie

Die PISA-Studie, die ja keineswegs als Beitrag der internationalen Schulforschung zur nationalen Debatte unseres Schulsystems gedacht war und deren deutsche Vertreter sich zunächst auch gegen den Beginn einer solchen Debatte wehrten, hat doch neue, empirisch fundierte Argumente dafür geliefert. So wollte die Studie in ihrem zentralen Testbereich zur Lesekompetenz nicht nur wissen, wie sich Fünfzehnjährige prozentual den fünf Stufen ihres Kompetenzmodells zuordnen lassen, sondern welcher sozialen Schicht die Befragten angehören. Die Ergebnisse dieser Zuordnung überraschen weniger grundsätzlich als in ihrem Ausmaß. Dass der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung sich in Deutschland nach 1945 allmählich lockerte, ist empirisch erwiesen, wie eng dieser Zusammenhang aber heute immer noch ist, hat doch auch die Experten überrascht, und zwar vor allem der Umstand, dass die Gruppe der Jugendlichen, die die elementare Kompetenzstufe I nicht überschreiten (von PISA als "potenzielle Risikogruppe" bezeichnet), in den unteren sozialen Schichten im internationalen Vergleich überall groß, bei uns aber am größten ist (23%).
Diese Jugendlichen finden sich überwiegend in der Sonderschule und in der Hauptschule. In Letzterer findet sich zudem der höchste Anteil von Jugendlichen mit "Migrationshintergrund" (40%), mit zum Teil unzureichenden Deutschkenntnissen. Das wiederum ist nach PISA die praktische Konsequenz eines früh differenzierenden Systems. Müssten nämlich "Übergangsentscheidungen" schon am Ende des 4.Schuljahres getroffen werden, sei einfach der Zeitraum, der für "verteilungsrelevante Interventionen", d.h. für erfolgreiche Fördermaßnahmen, zur Verfügung steht, zu schmal im Vergleich zu Systemen, die erst später differenzieren.1
Für PISA scheint die negative Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginne und an den Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt werde. Die Entkoppelung dieses Zusammenhangs, die in allen Ländern besser, in Ländern wie Finnland, Schweden, Island, Korea und Japan wesentlich besser, gelinge als bei uns, müsse auch nicht mit einer Absenkung des Niveaus verbunden sein, vielmehr deute sich die Tendenz an, dass bei einem Verzicht auf frühe Differenzierung mit ihren negativen sozialen Auswirkungen das Gesamtniveau steige, "ohne dass in der Leistungsspitze Einbußen zu verzeichnen wären". "Eine Optimierung beider Gesichtspunkte - Sicherung eines hohen Kompetenzniveaus und Verminderung sozialer Disparitäten" hänge "maßgeblich vom Erreichen eines befriedigenden Niveaus der Lesekompetenz in den unteren Sozialschichten ab".2
Sichtbarster Effekt der Gliederung eines Systems in Schulformen ist die Homogenisierung der Lerngruppen. Im deutschen System wird dies noch einmal verstärkt durch die häufig praktizierten Klassenwiederholungen und den häufigen Schulformwechsel. Nicht weniger als ein Drittel der getesteten deutschen Fünfzehnjährigen haben wenigstens einmal eine Klasse wiederholt oder waren Schulwechsler vom Gymnasium zur Realschule (12%), zur Hauptschule (18%) oder zur Integrierten Gesamtschule (25%).3
Die soziale Trennung durch frühe Differenzierung, da bestätigt PISA die Erkenntnisse der Jugendforschung, setzt sich nahtlos fort in Cliquen und Freundesgruppen und in deren Freizeitaktivitäten, die wiederum deutliche Bezüge zu den erworbenen Fachkompetenzen aufweisen. Hier stehen sich schuldistanzierte, häufig aggressive Gruppen mit problematischer Mediennutzung (Pornos, Gewaltvideos) Gruppen gegenüber mit einem stärker entfalteten Freizeitverhalten, worin auch Leseorientierung ein Rolle spielt.4
Mit diesem Ergebnis als einem ungewollten Nebeneffekt hat die PISA-Studie die bisherige Mehrheitsmeinung bei uns, dass Strukturfragen für die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems irrelevant seien und das gegliederte System sich ja doch auch unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit bewährt habe, schwer erschüttert. Es wird nicht mehr so leicht mögliche sein, die Forderung nach Qualitätsverbesserung des Unterrichts von der Strukturfrage abzukoppeln. Zu eindeutig zeigt sich beim internationalen Vergleich der Lesekompetenz die Überlegenheit integrierter System gegenüber früh differenzierenden, die es in Europa ohnehin nur noch bei uns, in Österreich und in einigen Kantonen der Schweiz gibt. Der Bildungsforscher Klaus Klemm bringt die Erkenntnis aus PISA über den Zusammenhang von Unterrichtsqualität und Schulsystem auf den Punkt, wenn er feststellt: Wenn die "soziale und leistungsmäßige Homogenisierung die Schwächeren nicht" befördere und die "Heterogenisierung die Stärkeren nicht" schwäche, dann werde "die bei uns praktizierte Separierung zumeist schon nach Klasse 4 zur Bremse für Qualitätssteigerungen"; dann sitze Deutschland mit seinem Schulsystem "in einer "Qualitätsfalle".5
In einer neuen Strukturdebatte geht es nicht mehr um das Leistungsvermögen Integrierter Gesamtschulen im Vergleich mit anderen Schulformen, insbesondere mit dem Gymnasium, wodurch für die deutsche Gesamtschule von Anfang an eine ruinöse Konkurrenzsituation bestand. PISA hat auch 19 Integrierte Gesamtschulen getestet, denen es nicht erkennbar besser als anderen Schulen gelang, den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Leistung aufzubrechen und zu mildern. Offensichtlich stellt sich in Integrierten Gesamtschulen, ungewollt oder auch beabsichtigt, das dreigliedrige System wieder her und ergeben sich durch Maßnahmen äußerer, aber auch innerer Differenzierung die drei Lernmilieus Hauptschule, Realschule, Gymnasium, vor allem in den oberen Klassen, wenn es um Abschlüsse geht bzw. um die Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe. Einer solchen Entwicklung haben sich wohl nur Gesamtschulen mit einem klaren Reformkonzept widersetzen können wie die Laborschule in Bielefeld, die Offene Schule Kassel-Waldau oder die Helen-Lange-Schule in Wiesbaden.

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Von der Nachhaltigkeit eines naturalistischen Begabungsbegriffs

Wenn das so ist, muss die Strukturfrage jenseits aller politischen Grabenkämpfe der letzten drei Jahrzehnt neu gestellt werden. Entscheidend wird dabei das Auftreten neuer Akteure sein, die von einer ermüdeten, über Parteigrenzen hinweg nur noch reagierenden Bildungspolitik ernster genommen werden, als die vor allem pädagogisch motivierten Befürworter gemeinsamen Lernens über die Grundschule hinaus. Eine eher pessimistische Prognose für einen solchen Neubeginn findet sich allerdings in dem Beitrag "Von Finnland nach Bayern" von Hartmut Holzapfel, dem ehemaligen hessischen Kultusminister, der jetzt, von Rücksichten auf sein Ministeramt und wohl auch auf seine Partei, die SPD, befreit, offen von seinen bewegenden Schulerfahrungen in Skandinavien sprechen kann und von den PISA-Reaktionen bei uns. Für kurze Zeit habe es so ausgesehen, "als könne der PISA-Schock dazu beitragen, eine wirklich grundlegende Diskussion über die Philosophie des deutschen Schulwesens und seiner Strukturen zu führen"; doch bevor die Diskussion überhaupt beginnen konnte, sei ein Tabu errichtet worden: "in keinem Fall über Strukturfragen reden" und es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, "bis die Ergebnisse von PISA wieder eingepasst waren in den Horizont des naturalistischen Begabungsbegriffs".6
Bei dem Begabungsbegriff bezieht sich Holzapfel auf Gero Lenhardt, Soziologe und Mitarbeiter am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Dieser sieht in der deutschen Bildungstradition nach wie vor tief verwurzelt die Vorstellung, dass sich an der Begabung eines Kindes "Substanzielles nicht ändern" lässt. Leistungsschwache Schüler/innen seien deswegen "zurecht einer Schulform mit niedrigeren Leistungsansprüchen zuzuführen". Es gehören "zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Schulkultur, dass der unbegründete anthropologische Pessimismus als besonders realitätstüchtig und smart" daherkomme. Das deutsche Bildungswesen bewege sich damit in einem Teufelskreis. Die Selektion erzeuge das Problem, das sie lösen soll, indem sie den schwächeren Schülern Bildungsmöglichkeiten entziehe, die mit den schulischen Bildungserwartungen die größte Mühe hätten. Das seien "vor allem die Heranwachsenden aus den unteren Berufs- und Bildungsschichten sowie aus Einwandererfamilien". Für Lenhardt wird darum die Formulierung in der PISA-Studie, dass es in Deutschland nicht so wie in anderen Ländern gelinge, "die schwachen Schülerinnen und Schüler zu fördern", der Schulpraxis nur bedingt gerecht; denn wo ein naturalistischer Begabungsbegriff herrsche, misslinge die Förderung der Leistungsschwachen nicht, sondern sie gelte "als unmöglich und unnötig" und sei "letztlich also nicht gewollt".7
Für Hartmut Holzapfel, der diese Einschätzung teilt, ist die Alternative darum nicht "die Wahl zwischen Nordrhein-Westfalen und Bayern, sondern zwischen Finnland und Bayern: zwischen einer Schule, die hohe Leistungsstandards mit Chancengleichheit und hoher Bildungsbeteiligung" verbinde, oder "einer Schule, die hohe Leistungsstandards mit sozialer Selektion und geringer Bildungsbeteiligung" erkaufe. Deutschland scheine "seine Wahl zu treffen: es sei denn, auch außerhalb Baden-Württembergs gäbe es zunehmend Handwerkskammern", die merkten, "in welche Sackgasse wir uns begeben".8
Zum öffentlichen Tabubruch bereit ist jetzt auch der ehemalige Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Gerd Harms (Bündnis 90/Die Grünen), für den die "Klage über das Auseinanderfallen der Gesellschaft und die mangelnde Identifikation mit ihren Werten" hohl klinge, "wenn die Eliten der Gesellschaft ihre Kinder gezielt von anderen Kindern in der Nachbarschaft trennen wollen". Harms beruft sich in seinem Plädoyer für gemeinsames Lernen auf keinen Geringeren als Johann Amos Comenius (1592-1670), der in seiner "Großen Didaktik" fordert, man dürfe Kinder "nicht so früh von einander trennen und einigen wenigen Gelegenheit bieten, sich mehr zu dünken als die anderen und diese neben sich zu verachten".9
Ähnlich nüchtern wie Hartmut Holzapfel stellt auch dieser ehemalige Kultusminister fest, die "Trennung und Abgrenzung des gegliederten Schulwesens" seien uns, also auch den Menschen in den neuen Bundesländern mit einer ganz anderen Schulerfahrung, "inzwischen zu einer zweiten Natur geworden, nach der wir gedanklich Kinder sortieren". Das zu ändern setze voraus, "dass wir uns von diesen gedanklichen Barrieren befreien und den bildungsoptimistischen Blick auf die Potenziale aller unserer Kinder zurückgewinnen".10
Im Unterschied zu den beiden ehemaligen Kultusministern wäre für den amtierenden Berliner Bildungssenator Klaus Bröger (SPD) ein Wiederaufleben der Strukturdebatte "das Perverseste, was geschehen könne" 11 und er trifft sich darin, nicht in der Wortwahl, aber in der Sache, mit der prominenten bildungspolitischen Sprecherin der CDU, der baden-württembergischen Kultusministerin, Annette Schavan. In einem Interview, das Martin Spiewak mit ihr und dem Chefkoordinator der PISA-Studie, Andras Schleicher, geführt hat, wehrt sich die Kultusministerin geradezu verzweifelt gegen eine Enttabuisierung der Strukturfrage nach PISA. Auf Schleichers Hinweis, kein erfolgreicher Staat setze "auf eine so frühe Auslese und scharfe Abgrenzung"; vielmehr versuchten diese Länder, "ihre Bildungssysteme offen zu gestalten und jeden Schüler individuell zu fördern", entgegnet Schavan mit dem Argument: Mexico etwa habe die sechsjährig Grundschule und sei PISA-Letzter, Polen lasse die Kinder acht Jahre gemeinsam zur Schule gehen und schneide nicht besser ab als Deutschland und auch Frankreich liege mit seinem integrierten System nur im Mittelfeld. Dass es Länder gibt, die nicht viel besser oder noch schlechter sind als wir, kann Schleicher nicht leugnen. Seine Konsequenz ist nur eine andere: "Wäre ich Bildungspolitiker, würde ich diese Länder jedoch schnell vergessen und mich statt dessen fragen, was die Besten anders machen." Schavans trotzige Antwort darauf: "Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Schülerleistung eines Landes und seinen Bildungsstrukturen." Ja über Strukturen neu zu reden führe "nur zu den Geisterdebatten wie vor 30 Jahren" und außerdem dazu, "andere wichtige Fragen zu vergessen, etwa, wie man den Unterricht verändert oder die Lesefähigkeit verbessert". "Eine bessere individuelle Förderung" könnten "wir ebenso in unserem gegliederten Schulsystem erreichen".12

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Neue Töne aus der Wirtschaft

Die Angst Annette Schavans mit dem Tabubruch in der Strukturfrage, den ihre ehemaligen Ministerkollegen Holzapfel und Harms so leichtfertig begehen, in die "Geisterdebatten" der 1970er Jahre zu geraten, teilt der Baden-Württembergische Handwerkstag nicht mehr. Im Juli 2002, also Monate vor dem ZEIT-Interview der Ministerin, veröffentlichte er die umfangreiche Stellungnahme "Konsequenzen aus PISA. Positionen des Handwerks", deren Präambel mit der Bildungsphilosophie des PISA-Siegers Finnland beginnt: "Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht erlauben." 13
Im ersten Kapitel der Stellungnahme "Die Situation im Handwerk vor dem Hintergrund der PISA-Studie" wird die Diskrepanz beschrieben zwischen den steigenden intellektuellen Anforderungen in den Handwerksberufen und der Qualifikation der Schulabgänger, insbesondere der Hauptschüler, die sich als Auszubildende bewerben. Es fehlten dem Handwerk nicht nur Nachwuchskräfte, sondern Leistungseliten, potenzielle Betriebsnachfolger und Existenzgründer. Um den notwendigen Paradigmenwechsel herbeizuführen, werden im zweiten Kapitel dann "Anforderungen an das künftige allgemeinbildende Schulwesen" und für "eine leistungsstarke Schule" formuliert, die auch im Programm einer bei PISA erfolgreichen deutschen Reformschule stehen könnten: "Lernmotivation fördern", "individuelle Begabungen erkennen und fördern", "die Persönlichkeitsbildung unterstützen" usw.. Erst unter der vorletzten der insgesamt zehn Anforderungen soll die "leistungsstarke Schule" auch "Berufsorientierung bieten".
Im dritten Kapitel, dem Hauptteil der Stellungnahme, geht es dann um "Erste Vorschläge des Handwerks zur künftigen Strukturierung des allgemeinbildenden Schulwesens". Neben Vorschlägen zur vorschulischen Erziehung, zur Integration ausländischer Kinder, zur Lehrerbildung, zu neuen Inhalten und Methoden, Ganztagsschulen usw. fordert der Handwerkstag, und das ist die eigentliche Provokation, nicht nur für die Kultusministerin von Baden-Württemberg, sondern für die gesamte KMK, eine "Neue Organisation des Schulwesens". Die Ergebnisse der PISA-Studie betonten "die Notwendigkeit individueller Förderung" und stellten "die Dreigliedrigkeit in Frage". Kinder brauchten Lernanreize, doch es sei "mehr als fragwürdig, ob Selektion hierzu einen positiven Beitrag" leiste. Ein zweiter Aspekt, der gegen das dreigliedrige Schulsystem spreche, sei "die Tatsache, dass das Leistungsniveau der deutschen Schüler im Vergleich zu anderen Ländern, die kein gegliedertes System haben, wesentliche niedriger" sei. Die starke Homogenität unserer Schulen produziere "Schwierigkeiten im Umgang mit Unterschieden und Abweichungen". Selektion entlasse "die Schulen aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern" und stigmatisiere, wer nicht der Norme entspreche, "zum schlechten Schüler" 14. Die Begründung für die "Neue Organisation des Schulwesens" enthält neben dem spezifischen Interesse des Handwerks an "leistungsstärkeren Auszubildenden" all die Argumente, die seit PISA und lange davor mit empirischen Daten belegt gegen ein selektives und für ein integriertes System sprechen, das über die Grundschule hinaus bis zum Ende der "Allgemeinen Schulpflicht" gehen soll und von den Verfasser/innen der Stellungnahme in ein "3-Stufen-Konzept" gebracht wird:
"Die erste Stufe bildet der Vorschulische Bereich, der obligatorisch sein muss und ein bis zwei Jahre umfassen soll (...). Darauf aufbauend soll in einer Grundstufe, deren Name noch zu definieren ist und die neun Jahre dauern soll, eine breit angelegte Allgemeinbildung mit einem größeren Bildungsangebot erfolgen, um einer individuellen Förderung gerecht zu werden. Im Anschluss an diese Phase soll die Spezialisierung entweder im allgemeinbildenden Gymnasium oder in der beruflichen Ausbildung (duale Ausbildung, vollzeitschulische Maßnahmen, berufliche Gymnasien) jeweils über drei Jahre erfolgen. Der Abschluss der dritten Bildungsphase soll zum Hochschulstudium berechtigen, so dass der Weg zur Hochschule jedem offen steht." 15
Die Kühnheit des Vorschlags betrifft nicht nur die neunjährige integrierte "Grundstufe", sondern ebenso die dreigliedrige "Oberstufe" (berufliches Gymnasium, duale Ausbildung, allgemeinbildendes Gymnasium), die die im Vergleich zu allen anderen Industrienationen bescheidene Quote der Schüler/innen mit Hochschulzugang verbessern kann.
Ähnlich, wenn auch nicht so detailliert und konkret wie der Baden-Württembergische Handwerkstag plädieren auch die Bertelsmannstiftung 16 und der Chef der Unternehmensberatung McKinsey, Jürgen Kluge 17, für eine andere Schule. In einer Pressemitteilung von McKinsey & Company vom 8.1.2003 heißt es: "Einer der wichtigsten Einflussfaktoren für den Bildungserfolg ist die späte institutionelle Differenzierung in Schultypen. Gerade hier hat Deutschland im Ländervergleich den größten Reformbedarf. Trotzdem wird dieses Thema in der öffentlichen Diskussion auch aus Angst um eine endlose Strukturdebatte gern ausgespart." 18
Wie sehr ein Umdenken unter denen begonnen hat, die seither besonders lautstark das gegliederte System verteidigten, zeigt zuletzt ein Interview von Reinhard Kahl mit dem Chef der Hamburger Handwerkskammer, Jürgen Hogeforster 19. Auch Hogeforster ist, wie viele mit ihm, tief beeindruckt von den Schulen in Skandinavien. Man rede dort wenig über Leistung, erziele aber "hohe Leistungen, weil die Besonderheit eines jeden Kindes geachtet" werde. Das Geheimnis des Erfolges sei, "frühzeitige Selektion zu vermeiden und die Einzelnen zu fördern". Das aber gedeihe nur "in einem Vertrauensklima"; denn Selbstvertrauen entstehe nicht, wenn "Schüler ständig von Abstieg bedroht" seien. Unser System verspreche "Förderung durch Selektion", bewirke aber " genau das Gegenteil". "Wenn wir Schüler zusammenlassen, wenn sie mehr voneinander lernen und wir uns um ihre Schwierigkeiten kümmern, ermöglichten wir mehr Selbständigkeit und Zusammenarbeit, darauf kommt es in Zukunft an."
Natürlich kommt es jetzt und in Zukunft nicht nur im Beruf darauf an, sondern auch im privaten und öffentlichen Leben. Aber Hogeforster ist Chef einer Handwerkskammer und spricht hier im legitimen Interesse seiner Organisation. Auf den Einwand des Interviewers, die Anhänger des dreigliedrigen Systems argumentierten, das System würde den Unterschieden der Menschen besser gerecht, antwortet Hogeforster, der auch schon einmal wirtschaftspolitischer Berater des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht war, jetzt:
" Das ist Ideologie. Wenn ich selektiere, glaube ich an die Gleichheit in den jeweiligen Gruppen: Ihr müsst alle gleich doof sein oder alle gleich gut. Die Kinder kommen als Unterschiedliche rein und sollen als Gleiche rauskommen. So produzieren wir Ausgegrenzte und Verweigerer. Das ist tödlich. Jeder Mensch ist anders. Jeder hat mindestens eine Stärke und wird gebraucht, wenn seine Stärke nicht verschüttet worden ist. Das ist doch das Schöne am Menschsein, verschieden-, ja einzigartig zu sein und Toleranz zu erleben."

Wann hat man so etwas von einem/einer amtierenden Kultusminister/in zuletzt gehört? In einem Interview mit Oskar Negt, der die Glockseeschule in Hannover gegründet und wissenschaftlich begleitet hat, kritisiert Jürgen Klausenitzer an der aktuellen bildungspolitischen Debatte, dass zwar "pausenlos von Qualität und Qualitätssicherung" die Rede sei, "die Inhalte von Bildung im emphatischen Sinne jenseits von Effizienz und Standardisierung" aber kaum eine Rolle spielten. Für Negt, der die Kritik teilt, hat die PISA-Studie mit dazu beigetragen; denn sie begreife zum Beispiel Lesekompetenz weniger als "Deutungskompetenz des Gelesenen, sondern als bloße Fertigkeit". Lesekompetenz als Deutungskompetenz mache jedoch Kommunikationsstrukturen erforderlich, die unterhalb des Lesens liegen. Ein Ergebnis der wissenschaftlichen Begleitung in der Glockseeschule sei: "Kinder, die die Möglichkeite haben, ihre emotionale und soziale Leistungsfähigkeit zu entwickeln" könnten auch "lesend deuten". Dies sei einer der Gründe, warum Finnen und Schweden bis zur 9.Klasse nicht selegierten; denn Selektion unterbreche "schon sehr früh den inneren Kommunikationsprozess der Schülerinnen und Schüler beim Lernen untereinander"; die Schwächeren und Stärkeren gingen "keinen Kooperationsprozess im Lernen ein". Das aber schade nicht nur den Schwächeren. Häufig begriffen die Begabteren erst das, was sie gelernt haben, wenn sie es den Schwächeren erklärten, und diese Zuwendung könne zudem auch emotionale Probleme begabterer Schülerinnen und Schüler lösen helfen. Negt empfiehlt darum dringend, "die alte, absolut richtige und begründete Forderung der ersten Reformperiode nach einer Gleichgewichtigkeit von kognitiven, emotionalen und sozialen Lernprozessen'" wieder aufzunehmen.20
In einer neuen Strukturdebatte kann mit solchen Erkenntnissen dann auch für Eltern deutlicher werden, und zwar kognitiv, emotional und sozial, was wir gerade begabteren Kindern antun, wenn wir sie am Ende der Grundschule aus ihren Lernprozessen mit weniger begabten herausreißen, um sie in homogeneren, leistungsstärkere Lerngruppen zu schicken. Eine solche Nachdenklichkeit zeigt sich in einer Resolution des Bundeselternrates (BER) vom 18.5.2003, in der es heißt: "Schule muss Kompetenzen vermitteln und Chancengleichheit sicherstellen. Eine gemeinsame Schule für alle ist der Weg dazu." 21 Während die BER-Delegierten auf Plenartagungen bislang zuerst für die Interessen ihrer jeweiligen Schulform eingetreten seien, erfahren wir von der Vorsitzenden, Renate Hendricks, hätten sich diesmal die Eltern nach PISA und IGLU von den Wissenschaftlern überzeugen lassen, dass der "deutsche Weg" des strickten und frühen Aufteilens auf Schulformen in eine Sackgasse führe. Dass dies auch die Vertreter von Gymnasium und Realschule so sahen, kommt für die Vorsitzende "einer Revolution" gleich. Den Eltern gehe es "um Kinder und nicht um Ideologien" und sie seien bereit, "fehlerhafte Entwicklungen zu korrigieren"; sie wollten "eine Schulform, die eine individuelle und begabungsgerechte Förderung der Schülerinnen und Schüler" ermögliche, und appellierten an die Kultusminister/innen, die bildungspolitische "Kleinstaaterei" endlich zu überwinden.22
Eine "gemeinsame Schule für alle" auch in den Klassen 5 bis 9/10, die nicht mehr Integrierte Gesamtschule heißen muss, sondern einfach Sekundarstufe I oder Mittelstufe heißen kann, wird zwar nicht kurzfristig die große "Risikogruppe" an deutschen Schulen zum Verschwinden bringen; sie scheint aber für immer mehr Expertinnen und Experten und Institutionen eine unabdingbare Voraussetzung dafür zu sein, dass Schulen zukunftstauglicher werden für unsere Kinder in ihrem privaten, öffentlichen und beruflichen Leben, am besten in dieser Reihenfolge.

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Anmerkungen

1 Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen 2001, S.374.
2 Ebd., S. 389.
3 Ebd., S. 477.
4 Ebd., S. 485 f. Drei vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studien bestätigen diesen Befund: Rechtsextremistische, fremdenfeindliche Straftaten unter Jugendlichen (15- bis 24-Jährige) werden in der Regel von männlichen Jugendlichen mit niedrigem Bildungsniveau begangen, meist in Gruppen. Unter den Straftätern sind Hauptschulabsolventen überrepräsentiert. Neun von zehn dieser Straftäter sind bereits in der Grundschule als sozial auffällig eingeschätzt worden und ihre weitere Schulzeit ist oft von Leistungsversagen, Schulabbruch und Straffälligkeit gekennzeichnet. (Frankfurter Rundschau, 2.4.2002).
5 K. Klemm: Unfähig, die Schwächen der Schüler zu erkennen. In: Frankfurter Rundschau 6.12.2001, S.6.
6 H. Holzapfel: Von Finnland nach Bayern. In: H.Döbert/B.v.Kopp/R.Martini/M.Weiß (Hg.): Bildung vor neuen Herausforderungen. Neuwied 2003.
7 G. Lenhardt: Der unerschütterliche Begabungsglaube. Vordemokratische Bildungsorientierungen sind in Deutschland noch immer wirksam. In: Frankfurter Rundschau 11.6.2002, S.7.
8 Holzapfel (Anm. 6).
9 G. Harms: Die Guten in Töpfchen...Was spricht für eine längere gemeinsame Beschulung unserer Kinder? In: P.Heyer/L.Sack/U.Preuss-Lausitz (Hg.): Länger gemeinsam lernen. Positionen, Forschungsergebnisse, Beispiele. Frankfurt/M: Grundschulverband - Arbeitskreis Grundsschule und Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule 2003, S.39.
10 Ebd., S.43.
11 In: Der Tagesspiegel, 15.4.2002. Zitiert nach: P.Heyer u.a. (Anm.9), S. 327.
12 In: Die Zeit, 6.12.2002, S.39.
13 In: Schriftenreihe Baden-Württembergischer Handwerkstag. Juli 2002, S. 5.
14 Ebd., S.25. Diesen Passus zitiert Johannes Rau, auch bald ein "Ehemaliger", in seiner stark beachteten bildungspolitischen Reaktion auf PISA: "Freiheit für Bildung - Bildung für Freiheit" (Frankfurter Rundschau 25.11.2003, S. 9). Raus Kommentar: "Das sind sehr deutliche Worte. Sie sollten von allen ernst genommen werden, vor allem von denen, die dazu neigen, die beiden PISA-Studien nur darauf abzuklopfen, wie sich die Ergebnisse dazu nutzen lassen, um die eigenen, seit langem unverrückbaren Standpunkte zu bestätigen. Die zitierten Sätze kommen ja aus einem Teil der Gesellschaft, von dem man diese Form der Kritik an unseren Schulen wohl am wenigsten erwartet hat."
15 Ebd., S. 26.
16 Wir brauchen eine andere Schule. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Juni 2002.
17 Vom Nutzen der Bildung. Nach Pisa entdecken ein Unternehmer und ein Gewerkschafterin überraschend viele gemeinsam Ansätze für längst überfällige Reformen. In: Süddeutsche Zeitung, 10.9.2002, S. V2/10.
18 Zitiert nach: P.Heyer u.a. (Anm.9), S.330.
19 "Den Schulen Freiheit geben". Der Chef der Hamburger Handwerkskammer, Jürgen Hogeforster, über Nachwuchssorgen, neue Formen des Lernens und das Versagen des gegliederten Schulsystems. In: Die Zeit, 1.10.2003, S. 79.
20 J. Klausenitzer im Gespräch mit Oskar Negt. In: Hessische Lehrerzeitung 2003, H.9, S. 34 f.
21.Resolution der Frühjahrsplenartagung des Bundeselternrates vom 16.-18.5.2003 in Ludwigsfelde.
22 St. Lüke: Bundeselternrat wagt "Revolution". In: Frankfurter Rundschau, 21.5.2003, S. WB 6.

Letzte Aktualisierung: 01.12.2003