Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Ein Volksentscheid und die Aussichten auf Schulfrieden in Hamburg

April 2010

Am 18.März 2010 stellte die Initiative „Wir wollen lernen“ den Antrag auf die Durchführung eines Volksentscheids. Verhindert werden soll die am 7.Oktober 2009 ins Schulgesetz aufgenommene schulpolitische Vereinbarung von Schwarz-Grün. Die Voraussetzung für den Antrag war ein erfolgreiches Volksbegehren, bei dem die Initiative 184000 Unterschriften sammelte, dreimalmehr als erforderlich. Zur Abstimmung, die am 18.Juli 2010 stattfinden wird, stehen die Forderungen an Bürgerschaft und Senat der Stadt

  • „eine Ausgliederung der Klassen 5 und 6 aus dem Gymnasium und anderen weiterführenden Schulen und deren Anbindung an die Grundschule als ‚Primarschule’ zu unterlassen“,
  • „Gymnasien und weiterführende Schulen in der bisherigen Form“ zu erhalten,
  • den Eltern wie bislang das Recht einzuräumen, „die Schulform für ihre Kinder nach Klasse 4 zu wählen.“

Sollte bei der Abstimmung eine Mehrheit der rund 245000 erforderlichen Wähler/innen zustimmen, wäre die Schulreform von Schwarz-Grün in wesentlichen Punkten gescheitert.

 

Zur Vorgeschichte des Konflikts

Es gab in Hamburg nach PISA 2003 und verstärkt dann mit Blick auf die Bürgerschaftswahl 2008 viel Bewegung in der Debatte über eine Reform der Schulstruktur, und das vor allem bei der alleinregierenden CDU. Sie zog schließlich nach intensiver Beratung in einer parteiübergreifenden Enquetekommission mit einem schulpolitischen Programm in den Wahlkampf, dessen Eckpunkte waren:

  • Neben dem Gymnasium gibt es künftig nur noch eine Schulform, die Stadtteilschule, in der Hauptschule, Realschule und Gesamtschule fusionieren.
  • Am Ende der vierjährigen Grundschule führen die Lehrer/innen mit den Eltern Beratungsgespräche und danach entscheiden die Eltern, ob sie ihr Kind an einer Stadtteilschule oder an einem Gymnasium anmelden.
  • Bis zum Ende von Klasse 6 können Schüler/innen zwischen Stadtteilschule und Gymnasium wechseln. Danach entscheidet das Gymnasium, wer bleiben darf oder auf die Stadtteilschule wechseln muss.
  • Nach Klasse 9 gibt es an beiden Schulformen den Ersten Bildungsabschluss und nach der 10.Klasse den Mittleren Abschluss. Die beiden Abschlüsse entsprechen dem Haupt- und Realschulabschluss.
  • Das Gymnasium führt in 8 Jahren zum Abitur. In der Stadtteilschule können die Schüler/innen nach Klasse 12 die Fachhochschulreife erlangen und nach Klasse 13 das Abitur.
  • Schwache Schüler/innen bleiben in der Stadtteilschule nicht mehr sitzen, sondern werden individuell gefördert. (ZEIT, 18.1.07, S.34)

Die Frage war, wie die Opposition im Wahlkampf auf dieses für eine CDU-Regierung beachtliche Programm reagieren würde. Während die Grünen (GAL) wie schon bei der Wahl 2004 eine neunjährige „Grundschule“ nach skandinavischem Vorbild forderten („Neun macht klug“), die das gegliederte System, das Gymnasium bis Klasse 9 eingeschlossen, ersetzen sollte, hat die SPD auf einem bildungspolitischen Parteitag am 2.12.2006 eine Strukturreform des Hamburger Schulwesens mit folgenden zentralen Aussagen beschlossen:

  • Die Abschaffung der eigenständigen Hauptschulen und der Zusammenschluss von Haupt- und Realschulen zu Integrierten Haupt- und Realschulen ist ein erster Schritt.
  • Ein weiterer Schritt: Verschiedene Schulformen – Integrierte Haupt- und Realschulen, Gesamtschulen, Gymnasien – können sich in einem Schulbezirk zu Stadtteilschulen zusammenschließen.
  • Die Stadtteilschule führt wie Gymnasium und Gesamtschule auf einem direkten Weg zum Abitur, und dies nach 12 oder 13 Schuljahren.
  • Eine Kooperation von Gymnasien, Gesamtschulen und Stadtteilschulen in der Oberstufe ist anzustreben.
  • Die formelle Schullaufbahnempfehlung am Ende der Grundschule wird ersetzt durch „individuelle, qualitative Beratung“ der Eltern.

Bei der Wahl verlor die CDU ihre absolute Mehrheit. Die Aufgabe der neuen Partner war, das grüne Konzept „Neun macht klug“ mit dem Zwei-Säulen-Modell der CDU mit Stadteilschulen und Gymnasium auf einen für beide Seiten verträglichen Nenner zu bringen. Die Vereinbarung sah in ihren strukturrelevanten Aussagen so aus:

  • Die Grundschule wird um die Klassen 5 und 6 erweitert und soll künftig Primarschule heißen.
  • Beide Schulformen der Sekundarstufe I, Gymnasium und Stadtteilschule, bereiten, wie in dem CDU-Plan vor der Wahl, auf alle Abschlüsse vor.
  • Die Primarschule entscheidet jetzt am Ende von Klasse 6 verbindlich, wer fürs Gymnasium und wer für die Stadtteilschule geeignet ist.
  • Dafür kann das Gymnasium in den Klassen 7 bis 10 Schüler/innen mit Lernproblemennicht mehr an die Stadtteilschule abgeben.

Unter dem Titel „Schulreform muss sorgfältiger und besser geplant werden“ hat sich der Landesvorstand Hamburger SPD am 17.7.2009 zu der Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Grün, insbesondere zum Überraschungscoup einer sechsjährigen Primarschule, neu positioniert. Der Strukturplan der neuen Regierung führe dazu, heißt es in dem Beschluss, „dass von vornherein wieder die Schüler in zwei Kategorien sortiert werden“. Die Gymnasiasten sollen „auf eine akademische Karriere“, die Stadtteilschüler/innen „auf eine berufliche Laufbahn“ vorbereitet werden. Bei der Umwandlung der vierjährigen Grundschule in eine sechsjährige Primarschule werde es „ein böses Erwachen“ geben, „wenn das Ausmaß der Probleme sichtbar“ werde. Hauptkritikpunk ist für die SPD die Abschaffung des Elternwahlrechts, und das bei zwei Schulformen, die beide auf einem direkten Weg zum Abitur führen. „Die große Chance auf einen Hamburger Schulfrieden, wie er von der Enquet-Kommission vorbereitet“ worden sei, werde durch die sechsjährige Primarschule gefährdet.

Die Hamburger SPD hält am Fernziel der Bundes-SPD, „einer gemeinsamen Schule bis zur zehnten Klasse“, fest, akzeptiert jedoch bei den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen das von Schwarz-Grün beschlossene Zwei-Säulen-Modell – unter der Bedingung: Das Elternwahlrecht am Ende der Primarschule muss erhalten bleiben und die Stadtteilschule darf nicht „zu einer Schule zweiter Wahl“ herabgestuft werden. Sie „braucht ein klares Profil, das sich beispielsweise an den guten Profilen erfolgreicher Gesamtschulen orientieren sollte“.

 

Zwei Bürgerinitiativen machen mobil

Während die Kritik der Opposition eher moderat ausfiel, auch weil es an der Basis der SPD durchaus Sympathien mit dem neuen Schulplan von Schwarz-Grün gab, gingen gleich zwei Bürgerinitiativen auf die Barrikaden. Die eine forderte seit Jahren bereits „Eine Schule für alle“, die andere trat neu an die Öffentlichkeitund streitet unter dem Motto „Wir wollen lernen“ für den Erhalt des Gymnasiums von 5 bis 12.

Dem Bündnis „Eine Schule für alle“, das vor allem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft unterstützt wurde, gehörten auch die Grünen an, nicht aber die Sozialdemokraten. Während der Antrag auf Durchführung eines Volksbegehrens noch genügend Unterstützung fand, scheiterte das Volksbegehren selbst an der erforderlichen Zahl von 62000 Unterschriften. Am 10.Oktober 2008 erklärte Klaus Bullan, GEW-Vorsitzender in Hamburg:

Wir sind an der zweiten Hürde der Volksgesetzgebung gescheitert und müssen diese Niederlage akzeptieren. Die Frage jedoch, wie Kinder künftig lernen dürfen und die Forderung, dass der Zugang zu Bildung in Deutschland unabhängig vom sozialen Status sein muss, sind damit nicht zu den Akten gelegt. Vielmehr sind nun alle Beteiligte gefordert, einen Weg zu finden, der hin zu längerem gemeinsamen Lernen führt und die Tür aufstößt für ein sozial gerechtes Schulsystem. (http://bildungsklick.de/ 10.10.2008).

Im Mai 2008 trat die zweite Bürgerinitiativ „Wir wollen lernen“ an, die vor allem verhindern will, dass durch die sechsjährige Primarschule die Gymnasialzeit nach der Einführung von G8um zwei weitere Schuljahre verkürzt wird. Bei dem im Herbst 2009 durchgeführten Volksbegehren kämpfte das gut organisierte Netzwerk nicht gerade auf die feine hanseatische Art. Es gelang ihm, weit über den Kreis der am Erhalt gymnasialer Privilegien Interessierten die generelle Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Bildungspolitik der Parteien zu organisieren.

So stand auf den Plakaten nicht etwa „Rettet das Gymnasium“, sondern „Unterschreiben Sie gegen die Primarschule für eine gerechtere Bildungspolitik“. Dass die Primarschule auch verbindlich entscheiden soll, wer von den zwölfjährigen Kindern gymnasial geeignet ist und wer in die Stadtteilschule gehen muss, war für die Initiative gewiss kein zentrales Motiv für die Kampagne. Dennoch war es strategisch klug, im Namen aller Hamburger Eltern für den Erhalt der Wahlfreiheit am Ende der Grundschule einzutreten.

Für das Sammeln von Unterschriften heuerte man auch Studierende an, mit denen 1 Euro pro Unterschrift vereinbart wurde. Erst massive Kritik an dieser Aktion („gekaufte Demokratie“) veranlasste die Initiatoren, die Sache abzublasen.

Unter dem Titel „Blankenese beinhart“ nennt die Frankfurter Rundschau am 18.März 2010, am Tag, an dem die Initiative die Durchführung eines Volksentscheids beantragte, andere Beispiele, die zeigen, mit welch harten Bandagen da gekämpft wurde:

  • Stefanie von Berg, eine Lehrerin, gründete eine Initiative Pro Schulreform und warb mit einer kleinen Eule für längeres gemeinsames Lernen. Die Eule trug auf ihrer Brust ein S, das an das Superman-S erinnerte. Das ging gut, bis sich ein Münchener Anwalt meldete, der die Lehrerin auf eine Markenrechtsverletzung hinwies und mit einer Geldstrafe von 150000 Euro drohte. Den Hinweis auf die Markenrechtsverletzung hatte der Münchener Anwalt von dem Sprecher der Initiative, dem Hamburger Rechtsanwalt Walter Scheuerl, erhalten.
  • Der Chef der Drogeriekette „Budni“, der auch die Schulreform von Schwarz-Grün unterstützt, bekam zahlreiche Mails, die seiner Kette Kaufboykott androhten. Wie die Hamburger Morgenpost recherchierte, stammten die Mails aus Hamburgs reichen Stadtteilen, den Zentren des Protests.
  • Im Herbst 2008 erreichte einen Mitarbeiter der Projektgruppe Schulreform in der Hamburger Schulbehörde ein Brief vom Rechtsanwalt Walter Scheuerl. Hamburger Eltern wollten wissen, schrieb er, was ihn und die Projektgruppe befähige, die Schulreform umzusetzen. Da Scheuerl keine Antwort bekam, ließ er selber recherchieren und Lebensläufe von den Mitgliedern der Gruppe erstellen. Beim Adressaten des Briefes stellte sich heraus, dass er in jungen Jahren Mitglied der DKP war und sich einmal auch erfolglos als Lehrer beworben hatte. Auch diese Recherche schickte Scheuerl ihm und den andern Mitgliedern des Projekts. Fünf Monate später titelte BILD: „Exkommunist soll Schulreform durchpauken“.
  • (Dazu der Panorama-Beitrag vom 18.2.2010: Kampf um Schulreform: Eliten wollen unter sich bleiben“. http://daserste.ndr.de/panorama/media/panorama408.html)

 

Ein All-Parteien-Kompromiss

Die intensiven Bemühungen des Senats im Vorfeld der Beantragung des Volksentscheids, mit dem Netzwerk vielleicht doch noch zu einer Einigung zu kommen, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Für die Initiative ist die sechsjährige Primarschule der Casus belliund für Rot-Grün das Herzstück der Reform. Da half auch nicht weiter, dass der Senat anbot, das Elternwahlrecht am Ende der Primarschule wieder einzuführen.

Der drohende Volksentscheid hat den Senat rasch veranlasst, mit der oppositionellen SPD über die am 7.Oktober 2009 beschlossene Schulgesetznovelle zu verhandeln. In einem „Schulbrief“ hatte die Bildungssenatorin, Christa Goetsch, unmittelbar nach dem Beschluss die Hamburger Schulen noch einmal über die zentralen Änderungen des Schulgesetzes informiert:

  • Am Ende der sechsjährigen Primarschule entscheidet die Zeugniskonferenz über die Berechtigung, das Gymnasium zu besuchen.
  • In Stadtteilschule und Gymnasium kann nach dem 9.Schuljahr der Hauptschulabschluss und nach Klasse 10 der Mittlere Abschluss (Realschulabschluss) erworben werden.
  • Beide Schulformen führen auf einem direkten Weg zum Abitur; das Gymnasium nach 12, die Stadtteilschulen nach 13 Schuljahren.
  • Das Abschulen wird abgeschafft. „Wer auf einem Gymnasium oder einer Stadtteilschule aufgenommen wurde, kann in den Klassenstufen 7 bis 10 nicht wegen mangelnder Leistung an eine andere Schulform abgegeben werden. Die Schule hat die Verantwortung, die Schülerin oder den Schüler so zu fördern, dass ein erfolgreicher Übergang in eine berufliche Ausbildung oder die gymnasiale Oberstufe möglich bleibt.“
  • Gesetzlich festgeschrieben werden Obergrenzen für Klassengrößen: „an der Primarschule und der Stadtteilschule 25 Schülerinnen und Schüler, an Primarschulen in benachteiligten Stadtteilen 20, am Gymnasium 28.“
  • „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten erstmalig das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen, wenn die Eltern dies wünschen.“

Über diese Gesetzesnovelle gingen die Verhandlungen der Parteien mit folgendem Kompromiss:

  • Am Ende der Primarschule entscheiden wie bisher nach Klasse 4 wieder die Eltern, in welche Schule ihr Kind geht. Dies war ja bereits das Angebot an die Initiative „Wir wollen lernen“ und war jetzt die Forderung der SPD.
  • Dafür akzeptiert die SPD in der Klasse 7 des Gymnasiums ein Probejahr, an dessen Ende die Zeugniskonferenzüber den Verbleib am Gymnasium entscheidet. Die SPD setzte bei dieser pädagogisch problematischen Sortierungsmaßnahme nur noch durch, dass in die Entscheidung der Zeugniskonferenz alle Schüler/innen einbezogen werden und nicht nur die ohne eine Gymnasialempfehlung.
  • Auch eine Stadtteilschule, die einzügig in die Oberstufe startet, erhält eine 11.Klasse, muss aber durch Kooperation mit einer benachbarten Oberstufe eine ausreichendes Bildungsangebot sicherstellen.
  • Auf Betreiben der SPD wurden die gesetzlich zugesicherten Klassenobergrenzen in der Primarschule noch einmal gesenkt wurden: von 25 auf 23 und in sozial schwierigen Stadtteilen von 20 auf 19 Schüler/innen.

Die SPD, die in ihrer Haltung gegenüber der Strukturreform von Schwarz-Grün gespalten war, hat auf einem Parteitag der Vereinbarung mit dem Senat fast einhellig zugestimmt. Auf einer Sondersitzung am 3.März 2010 hat die Bürgerschaft, auch mit den Stimmen der Linkspartei, den Kompromiss beschlossen. Nicht zugestimmt hat die Linkspartei allerdings der Selbstverpflichtung der drei anderen Parteien, „die Schulstruktur über einen Zeitraum von zehn Jahren zu garantieren – unabhängig davon, wer die Regierung stellt“.

Kritisch sieht die Linkspartei auch das gymnasiale Probejahr. Die Fraktionsvorsitzende, Dora Heyenn, erklärt dazu, das Probejahr bedeute „einen ernormen Druck in Klasse 7“, den sie gerne Eltern und Kindern erspart hätte. Erreicht hat sie allerdings, dass die Praxis des Elternwahlrechts in einem Sonderausschuss behandelt wird (www.taz.de/ 23.2.10). Neben Eltern und Kindern wird das Probejahr allerdings auch die Kollegien belasten, die sich entschließen, die Kinder, die sie von der Primarschule übernommen haben, individuell zu fördern und nicht einen Teil von ihnen womöglich schon nach einem Jahr wieder auszusondern.

 

Ausblick

Sollten sich die Hamburger/innen beim Volksentscheid am 18.Juli 2010 gegen die sechsjährige Primarschule entscheiden, so gibt es dennoch durch den All-Parteien-Kompromiss eine gute Ausgangslage, auf der Basis einer wieder vierjährigen Grundschule die Rahmenbedingungen weiter zu entwickeln für eine inhaltliche Schulreform, auf die allein es schließlich ankommt. Sollte es dem Vier-Parteien-Bündnis gelingen, das Partikularinteresse von „Wir wollen lernen“ abzuwehren und den Volksentscheid zu gewinnen, hätte nach Berlin und Bremen auch Hamburg ein Zwei-Säulen-Modell in der Sekundarstufe I.

Das G8-Gymnasium bleibt auch in Hamburg die Schule der Schnellen und Leistungsstarken, ist aber nicht mehr die Schule eines Bildungsganges, der erst mit dem Abitur als Abschluss regulär endet. Es muss in Klasse 9 den Hauptschulabschluss und in Klasse 10 den Mittleren Abschluss vorbereiten. Dieses Gymnasium muss sich außerdem öffnen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und kann diese anspruchsvolle Aufgabe nicht einfach der Stadtteilschule überantworten . Ob und wie das Gymnasium sich dieser Herausforderung stellt, bleibt abzuwarten.

Fragen gibt es natürlich auch zur Entwicklung der Stadtteilschule. Die Bedingung der SPD, das Zwei-Wege-Modell von Schwarz-Grün zu akzeptieren, war, neben dem Erhalt des Elternwahlrechts am Ende der Primarschule, dass die Stadtteilschule nicht „zu einer Schule zweiter Wahl“ herabgestuft wird. Sie müsse sich mit einem klaren Profil an erfolgreichen Hamburger Gesamtschulen orientieren. Ob das durch eine bedarfsgerechte Ressourcenzuweisung möglich gemacht wird oder ob diese neue Schulform in der Konkurrenz zum Gymnasium nicht doch, vor allem in sozial schwierigen Stadtteilen, das Schicksal der Hauptschule ereilt, wie Kritiker befürchten, wird sich schon mittelfristig zeigen.

Viel wird davon abhängen, wie kritisch die Befürworter einer Schule für alle Kinder die weitere Entwicklung begleiten. Viel wird aber auch von der Beantwortung der Frage abhängen, ob die SPD an ihrem Fernziel „einer gemeinsamen Schule bis zur zehnten Klasse“ festhält und für Rahmenbedingungen streitet, die es der Stadtteilschule möglich machen, mit dem Gymnasium in einen fairen Wettbewerb um das Vertrauen der Eltern einzutreten und so die immer noch privilegierte Schulform pädagogisch herauszufordern, wie es erfolgreiche Hamburger Gesamtschulen ja längst tun.

So sehr es dem Netzwerk „Wir wollen lernen“ darauf ankommt, das Gymnasium möglichst frei zu halten von langsamen und schwierigen Kindern aus unterprivilegierten Familien, - den Befürwortern einer guten Schule für alle kann es nicht gleichgültig sein, was sich an Gymnasienin dieser neuen Situation entwickelt. Das Motto „Wir wollen lernen“ gilt ja wohl am wenigsten für die Initiatoren dieses Netzwerkes. Es gilt für Kinder und Jugendliche, die jetzt und in Zukunft an Hamburger Gymnasien lernen wollen.

Es gibt, wie das bislang so erfolgreiche Netzwerk beweist, nach wie vor ein starkes Interesse an einer Schule für die Schnellen und Leistungsstarken, für die man, wenn sie denn doch einmal schwächeln, auch bereit und in der Lage ist, ein Menge Geld in Nachhilfe zu investieren. Dies geschieht gewiss bei vielen Eltern in der Überzeugung, dass ein solches Engagement für eine privilegierte Schule die beste Investition in die Zukunft der eigenen Kinder darstellt. Die Abschottung von Kindern aus anderen Milieus, möglichst vom ersten Schultag an, spätestens aber am Ende der Grundschule, wird dafür in Kauf genommen.

Daneben gibt es ein durch PISA wachsendes Interesse, auch von sozial und kulturell privilegierten Eltern, an einer Schule, in der Kinder aus unterschiedlichen Milieus gemeinsam lernen und Erfahrungen sammeln können über soziale Differenzen in der Gesellschaft, die das Leben und Verhalten von Mitschüler/innen prägen. Das Interesse an einer solchen Schule ist allerdings nicht losgelöst von der Erwartung der Eltern, dass das pädagogische Konzept und Know-how einer für alle Kinder offenen Schule auch Leistungsfähigkeit entwickelt und zuqualifizierten Abschlüssen führt. Dass dies kein utopisches Wolkenkuckucksheim ist, zeigen den Eltern längst Hamburger Gesamtschulen vor Ort und zeigen über Hamburg hinaus neuere empirische Studien, was Gesamtschulen, besonders unter dem gut darstellbaren Aspekt qualifizierter Abschlüsse, wirklich zu leisten vermögen. (V.Merkelbach: Erfolgreiche Gesamtschulen vor dem Aus? Oktober 2009: http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/)

Es ist gerade nach den Hamburger Erfahrungen schwer vorstellbar, dass die beiden divergierenden Auffassungen von einer guten Schule für die eigenen Kinder durch Koalitionsvereinbarungen, Parlamentsbeschlüsse und neue Schulgesetze zu einem Ausgleich gebracht werden können. Wozu ein demokratisch verfasster Staat unter dem Gebot von Chancengleichheit allerdings verpflichtet ist, sind Rahmenbedingungen, die alte Bildungsprivilegien abzubauen vermögen, was konkret heißt, jede einzelne Schule so auszustatten, dass sie für ihre je eigene Schülerschaft ihrem Auftrag nachkommen kann, Kinder und Jugendliche nach ihren unterschiedlichen Möglichkeiten individuell zu fördern und zu einem bestmöglichen Abschluss zu führen.

Letzte Aktualisierung: 01.04.2010