Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Die sächsische Schule – ein Modell für Deutschland?

Zu einer Studie über den Schulformwechsel vom Gymnasium zur Mittelschule

Februar 2008

Sachsen war mit seinen guten Ergebnissen in der Ländervergleichsstudie PISA 2003 die große Überraschung, - weniger unter den ostdeutschen Ländern; da hatte auch Thüringen und Sachsen-Anhalt gut abgeschnitten gegenüber PISA 2000. Sachsen stellte auch die in der ersten Studie erfolgreichen westdeutsche Länder Bayern und Baden-Württemberg in den Schatten. Auf die Frage nach den Gründen kam man sehr rasch zu der Vermutung, die guten Ergebnisse könnten etwas mit der Struktur des sächsischen Schulsystems zu tun haben. Das Land hatte, wie auch Sachsen-Anhalt und Thüringen, für kurze Zeit nach der Wende ein dreigliedriges System und hat seitdem neben dem Gymnasium nur noch eine Mittelschule, in der Haupt- und Realschule vereinigt sind. In die Mittelschule gingen 2003 61,3 Prozent der Schüler/innen, ins Gymnasium 32 Prozent.

Seit der Veröffentlichung des zweiten PISA-Ländervergleichs wird darum die nicht ganz neue Frage heftiger diskutiert, ob nicht schon eine Reduktion der Schulformen von vier oder drei auf zwei uns im internationalen Leistungsvergleich voranbringen könnte und zugleich die vor allem westdeutschen Probleme mit der rapide schwindenden Akzeptanz der Hauptschule beseitigen würde. Was in dieser Diskussion bislang kaum ins Blickfeld geriet: Sachsen ist zweigliedrig nur bis Ende Klasse 6 und bis dahin muss in der Mittelschule entschieden und für Eltern begründet sein, wer sich in separaten Klassen auf den Hauptschulabschluss und wer sich auf den Mittleren Abschluss vorbereiten kann. Der Unterschied zum traditionell dreigliedrigen System besteht also in der zeitlich gestaffelten Auslese nach Klasse 4 in Mittelschule und Gymnasium und nach Klasse 6 in "abschlussbezogene" Haupt- und Realschulklassen. Das war übrigens bis vor einigen Jahren auch das bayrische Schulsystem. Jetzt beginnt in Bayern die Realschule, wie im dreigliedrigen System sonst üblich, auch bereits mit Klasse 5. (Merkelbach 2007, S.2 f.)

Ein Forschungsauftrag der Stadt Dresden

Seit Februar 2005 gelten in Sachsen veränderte Zugangsbedingungen für das Gymnasium. Statt eines Notendurchschnitts von 2 reichen jetzt bereits 2,5 für eine gymnasiale "Bildungsempfehlung" der Grundschule. Es war zu erwarten, dass nicht nur der Zustrom zum Gymnasium noch einmal zunimmt, sondern auch der schon in den Jahren davor erhebliche Schulformwechsel vom Gymnasium zur Mittelschule sich noch einmal verstärken würde, - mit all den Problemen, die das für die Mittelschule bedeutet. Das hat den Stadtrat der Landeshauptstadt Dresden veranlasst, die "Erarbeitung einer Konzeption für die Integration von Wechselschülern an den Mittelschulen (so genannte ‚Rückkehrer’)" zu beschließen. Das war der Ausgangspunkt für ein Forschungsprojekt von Erziehungswissenschaftler/innen der Technischen Universität Dresden zum "Schulformwechsel von Gymnasien zu Mittelschulen", dessen Ergebnisse im Oktober 2006 veröffentlicht wurden (Schulformwechsel 2006).

Eines der Ziele der Studie war die Beantwortung der Frage, ob sich bei den Schüler/innen "mit einem Notendurchschnitt von 2,0 und schlechter in der Bildungsempfehlung bereits in höherem Maße schulischer Misserfolg andeutet und somit perspektivisch ein Wechsel zur Mittelschule anstehen könnte". (S.9 f.) Was den prognostischen Wert von Bildungsempfehlungen der Grundschule betrifft, gehen die Autoren der Studie von den Erkenntnissen von IGLU und PISA aus, dass nämlich "die institutionelle Leistungsdifferenzierung zu einem frühen Zeitpunkt der Schullaufbahn mit sozialer Segregation einhergeht". Grundschüler/innen "mit gleich hoher Kompetenz" im Lesen und Rechnen werden dem Gymnasium, der Realschule und der Hauptschule zugewiesen. "Für ein und dasselbe Kompetenzniveau vergeben Lehrkräfte fast das gesamte Notenspektrum" (S.10 f.). Ein Kind aus einer Arbeiterfamilie hat dabei im Vergleich zu einem Kind aus einer Akademikerfamilie "eine rund siebenmal geringere Chance eines Gymnasialbesuchs". (S.12)

Diese in internationalen Vergleichsstudien gemessenen Werte fallen in Sachsen zwar günstiger aus, dennoch habe auch in Sachsen "ein Kind mit besseren Herkunftsbedingungen ohne Unterschied in den Leistungen eine doppelt so große Chance für das Gymnasium empfohlen zu werden" (S.12). Auch dort, wo Eltern in einem Bundesland entscheiden dürfen, in welche Schulform ihr Kind geht, könnten Eltern aus oberen Sozialschichten aufgrund ihrer ökonomischen und kulturellen Ressourcen riskantere Bildungsentscheidungen treffen als Eltern mit geringeren familiären Ressourcen. Was bei der frühen Zuweisung zu unterschiedlich anspruchsvollen Schulformen herauskommt, zeigen für die Projektgruppe eindrucksvoll die sächsischen Ergebnisse des PISA-Ländervergleichs, wonach "die ursprüngliche Bildungsempfehlung auch am Ende der Sekundarstufe I noch zu einer fast 50-prozentigen Überschneidung zwisschen den Schularten bei gleichem Kompetenzniveau führt" (S.13). D.h. 50 Prozent der fünfzehnjährigen Mittelschüler/innen in Sachsen könnten auch auf dem Gymnasium lernen und das Gymnasium hätte dann nicht 32 Prozent, sondern mehr als 60 Prozent der Schüler/innen zu unterrichten, die Mittelschule hingegen nur noch etwa 30 Prozent. Letzteres wäre dann etwa der Schüler/innen-Anteil, der in Bayern 2003 die Hauptschule besuchte (32,2 Prozent).

Der Forschungsauftrag galt nun allerdings nicht der Frage, warum die 50 Prozent Mittelschüler/innen auf Gymnasialniveau nicht im Laufe der Sekundarstufe I aufs Gymnasium gewechselt sind und was ein solcher Aufstieg für die Rest-Mittelschule bedeuten würde, sondern wie die Schüler/innen, die vor allem in den oberen Klassen vom Gymnasium in die Mittelschule abgeschult werden, besser in ihr neues Lernmilieu integriert werden können. Dieses Problem bestand zwar schon lange, dürfte aber, war zu befürchten, noch einmal dringlicher werden, seit in Sachsen der Zugang zum Gymnasium leichter geworden ist. Und in der Tat hat sich der bundesweite Trend eines wachsenden Gymnasialbesuchs durch die neue Regelung (2,5 Notendurchschnitt) bereits im Jahr der Einführung in Dresden so entwickelt, dass im Schuljahr 2005/06 zum ersten Mal mehr Kinder zum Gymnasium als zur Mittelschule gingen (52,94 Prozent; in Sachsen insgesamt: 44,54 Prozent). Dieser Trend hat sich im Schuljahr 2006/07 fortgesetzt. (S.16 f.)

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Strukturspezifische Ergebnisse der Studie

War beim verstärkten Zustrom zum Gymnasium zu erwarten, dass von da auch mehr Schüler/innen an die Mittelschule zurückgeschickt werden, so wird eine solch naheliegende Entwicklung offensichtlich durch den massiven Rückgang der Schülerzahlen in Sachsen insgesamt gebremst. An den Gymnasien ging die Schülerzahl zwischen 2000/01 und 2005/06 um 38 Prozent und an Mittelschulen sogar um 46 Prozent zurück. Während in Dresden 2001/02 noch etwa viermal so viele Schüler/innen vom Gymnasium zur Mittelschule wechselten wie von der Mittelschule zum Gymnasium, waren es 2005/06 nur knapp zweimal so viele. D.h. mit dem Rückgang der Schülerzahlen nimmt offensichtlich auch das Interesse des Gymnasium ab, Schüler/innen mit Lernproblem wieder loszuwerden. Dazu zitiert die Projektgruppe eine Gymnasiallehrerin, die berichtet, man gehe jetzt "sehr verantwortungsvoll" mit dem Schulformwechsel um. In den zurückliegenden Jahren sei man schneller bereit gewesen zu sagen "Wechsel an die Mittelschule", und die Projektgruppe ergänzt, es werde jetzt "eher ein schlechtes Abitur in Kauf genommen oder eine ‚Ehrenrunde’ gedreht". Keine Schule lasse "Schüler bei einem generellen Schülerrückgang gerne gehen" (S.67). Zu der Prognose, dass der Schulformwechsel vom Gymnasium zur Mittelschule wohl nicht mehr zunehmen wird, zitiert die Projektgruppe zwei Gymnasiallehrer. Der eine beendet sein Statement mit "Gehen sie raus und suchen sie für einen 16jährigen eine Lehrstelle. Viel Spaß" und der andere ergänzt:

Jeder der große Kinder hat, die sich bewerben müssen, wird ihnen das bestätigen. Es wollen ja nicht alle studieren, aber auf dem Lehrstellenmarkt haben die Abiturienten eben bessere Chancen, egal was da für Zensuren stehen. Deswegen bin ich sehr vorsichtig geworden mit der Empfehlung "Geben Sie ihr Kind lieber an die Mittelschule", das überlege ich mir sehr, ehe ich diesen Satz ausspreche. (S.78)

Das sind Einstellungen und Sorgen von Gymnasiallehrer/innen. Ganz anders die Erfahrungen und Befürchtungen der Lehrer/innen an der Mittelschule. Was schon vor dem erleichterten Zugang zum Gymnasium zu beobachten war, verstärkt sich seit dem Schuljahr 2005/06. "Der Anteil der Schüler mit schwächeren Leistungen und Leistungsdefiziten in einer Klasse" werde höher. In allen Mittelschulen würden "ausschließlich negative Auswirkungen auf das zu erreichende Leistungsniveau und vor allem auf das gesellschaftliche Ansehen der Schulform Mittelschule" wahrgenommen. Als repräsentativ für diese Auffassung zitiert die Projektgruppe einen Lehrer:

Es waren immer ein paar Leistungsspitzen mitgekommen, die gibt es nicht mehr, wir haben eine bedeutende Konzentration von Verhaltensauffälligkeiten, das nimmt zu, die Arbeit der Mittelschullehrer wird immer schwerer. Ich habe Bedenken, dass die Mittelschule zur Förderschule wird, wie das Gymnasium künftig zur Gesamtschule wird. (S.79)

Die Projektgruppe ergänzt: Durch die "Homogenisierung der Schüler" mehrten sich die Problemfälle in den Klassen und mit der Häufung von "Teilleistungsstörungen" und "sozial bedingten Schwierigkeiten" verstärkten sich die "ohnehin vorhandenen Vorbehalte gegenüber der Mittelschule". Hauptbedenken seien darum, dass die Mittelschule zur "Restschule" werde und das Niveau insgesamt absinke. Einen Notendurchschnitt von 2,5 könne im Grund jedes Grundschulkind erreichen, sofern "keine schwerwiegenden Lernbeeinträchtigungen vorliegen". Nicht zuletzt erscheine "die Glaubwürdigkeit der Bildungsempfehlung noch fragwürdiger", denn die Grundschullehrer/innen stünden unter Druck, weil die Eltern "die besten Chancen für ihr Kind" wünschten und diese würden meist "mit dem Besuch des Gymnasiums gleichgesetzt". Schließlich sei der Wechsel von der Mittelschule zum Gymnasium kaum noch möglich "durch das frühe Einsetzen der 2.Fremdsprache in Klasse 6". (S.79 f.)

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"Schlussfolgerungen und Empfehlungen"

Im letzten Kapitel der Studie geht es um "Schlussfolgerungen und Empfehlungen" der Projektgruppe an die Adresse ihrer Auftraggeber. Dem Forschungsauftrag gemäß, eine "Konzeption für die Integration von Wechselschülern an den Mittelschulen" zu erarbeiten, macht die Gruppe erst einmal systemkonforme Vorschläge, so etwa "die vollständige Durchlässigkeit nach Klasse 6 zwischen Mittelschule und Gymnasium wieder herzustellen", also am Gymnasium nicht mit der 2.Fremsprache schon in Klasse 6 zu beginnen, geeignete Fortbildung der Lehrkräfte und kleine Klassenfrequenzen an Mittelschulen, Ganztagsschulen, Unterstützung durch Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen.

Ähnliche Vorschläge wie für die Mittelschule macht die Projektgruppe dann allerdings auch für Gymnasien, die zwar weniger mit der Integration von aufgestiegenen Jugendlichen zu tun haben, dafür aber mit einer wachsenden Heterogenität ihrer Schülerschaft, die sie bei rückläufigen Schülerzahlen auch nicht gerne mehr vermindern will. Darum müssten auch an Gymnasien "die Möglichkeiten der differenzierten Förderung der Schüler – sowohl der leistungsschwächeren wie auch der leistungsstärkeren" deutlich erhöht werden, "auch über die Klasse 5 und 6 hinaus". Es gehe auch am Gymnasium um "um differenzierte Lerngeschwindigkeiten", "offene Unterrichtsformen", "kleinere Klassenfrequenzen" usw. (S.81 ff.)

Neben diesen Vorschlägen für Mittelschulen und Gymnasien, die alle darauf hinauslaufen, in Unterstützungssysteme für die je spezifischen Probleme der beiden Schulformen zu investieren, benennt die Gruppe über ihren systemkonformen Auftrag hinaus auch das zentrale strukturelle Problem, die frühe Zuweisung der Kinder in ein hierarchisch gegliedertes System, zumal sie sich dazu durch die Aussagen der befragten Lehrkräfte legitimiert sieht. Die "weitestgehende und von der Mehrheit der Lehrkräfte beider Schulformen vorgeschlagene Lösung" sei nämlich "die Verlagerung der Schullaufbahnentscheidung auf einen biographisch späteren Zeitpunkt". Dafür spreche auch, "dass die Mehrzahl der Abgänge vom Gymnasium zur Mittelschule nach Klasse 8 erfolgt". Damit erledige sich dann auch "das Thema Schulformwechsel" (S.82). Es komme hinzu, dass dieser Wechsel vom Gymnasium zur Mittelschule "bildungsbiographisch betrachtet, oft der Endpunkt eines längeren Misserfolgsweges" sei, "der zu Demotivation und Lernunlust führen kann bis hin zum vollständigen schulischen Versagen". Er falle "in die Zeit der Jugendphase, die ohnehin höhere physische und psychische Belastungen für die Jugendlichen mit sich bringt". (S.86)

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Eine Perspektive für Sachsen

Ohne dass aus der Studie hervorgeht, wie es konkret weitergehen soll, - bemerkenswert ist das Ergebnis, dass bei den wachsenden Problemen, die es in beiden Schulformen, in der Mittelschule <i'>und im Gymnasium, gibt, eine Mehrheit der befragten Lehrkräfte in beiden Schulformen für längeres gemeinsames Lernen votiert.

Vor dem Hintergrund eines solchen Mehrheitsvotums, auch von Gymnasiallehrer/innen, stellt sich die Frage, ob dieses bis Ende Klasse 6 zweigliedrige System Modell sein kann für die Reform des Schulsystems in anderen Bundesländern. Auch wenn Sachsen den Zugang zum Gymnasium wieder erschweren sollte und die 50 Prozent der Schüler/innen, die nach den Ergebnissen von PISA 2003 auch am Gymnasium zurecht kämen, wieder an der Mittelschule gehalten würden, - das Interesse am Gymnasium wird sich kaum abschwächen und damit der Druck auf die Grundschule sich verstärken, für möglichst viele Kinder Gymnasialempfehlungen auszusprechen.

Es bleibt das Verdienst der Studie, dass sie Einblicke gewährt in ein Schulsystem, das so viele Jahre schon nominell ohne Hauptschule auskommt und das mit respektablen Ergebnissen im PISA-Ländervergleich von 2003 sich als Modell für andere Bundesländer empfiehlt. Die Studie zeigt allerdings, dass die sächsische Mittelschule mit ihrer zweifachen Auslese der Schüler/innen nach Klasse 4 und 6 offensichtlich so rapide an Akzeptanz bei den Eltern verliert, dass ihr schon mittelfristig das Schicksal der Hauptschule als "Restschule" droht. Für einen Teil der Jugendlichen bedeutet das, dass sie ohne oder auch mit einem Hauptschulabschluss in der schärfer werdenden Konkurrenz zu den Jugendlichen mit einem Mittleren Abschluss oder dem Abitur nur noch schwer vermittelbar sind in der Arbeitswelt und ohne eine Berufsperspektive wachsende gesellschaftliche Probleme bereiten. Hinzugezählt werden müssen die Jugendlichen, die in einem ganz hohen Prozentsatz ohne Abschluss die Sonderschulen verlassen und unter denen der Anteil von Kindern aus Zuwandererfamilien in den letzten Jahren rapide gestiegen ist.

Ein Gymnasium, in das immer mehr Kinder drängen und eine Mittelschule auf dem Weg zur Hauptschule scheint weder für Sachsen noch für ein anderes Bundesland eine dauerhafte Lösung zu sein. Diese Auffassung vertritt in Sachsen nicht nur die dortige GEW, sondern auch der Juniorpartner in der Großen Koalition, die sächsische SPD. In einem "Aufruf" "Sachsens Zukunft – Eine Schule für alle Kinder" vom 3.12.2005 fordert die Bildungsgewerkschaft einen "System- und Perspektivenwechsel hin zu einem integrativen/inklusiven Schulsystem", - nicht als "abrupten Systemwechsel", "da eine neue Schul- und Lernkultur nicht verordnet werden" könne, sondern wachsen müsse. Und das erfordere einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Der "Aufruf" wendet sich an "alle Eltern, Schüler/innen und Lehrer/innen sowie Organisationen und Interessenverbände" die das Ziel teilen, sich der Initiative anzuschließen.

Machen wir uns gemeinsam stark für ein langes gemeinsames Lernen aller Kinder und Jugendlichen, für die Beförderung einer integrativen Lehr- und Lernkultur im sächsischen Schulsystem und in der Alltagspraxis jeder einzelnen Schule in Sachsen. Wir unterstützen und befördern alle Bemühungen, die dazu führen, dass alle Kinder und Jugendlichen mit ihren individuellen Begabungen und Beeinträchtigungen möglichst lange gemeinsam lernen können. Alle Schulen, die sich auf einen solchen Weg machen, können deshalb mit unserer Unterstützung rechnen.

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In Sachsen, das nach der Wende zunächst das baden-württembergische Schulmodell übernahm, wurde sehr bald mit der Einführung einer "Mittelschule" die Trennung von Haupt- und Realschule aufgehoben. Während die sächsische CDU die guten Ergebnisse bei PISA auf dieses System mit nur zwei Schulformen zurückführt, will die SPD sich damit nicht abfinden und plädiert für "längeres gemeinsames Lernen, mindestens bis zur Klasse 8" (Dulig 2007, S.92). Ihr Schulreformkonzept von 2003 (www.gute-schule.info), das in einer Umfrage im Landtagswahlkampf 2004 81 Prozent der Befragten unterstützten, sieht nach der Grundschule mit einer "offenen Schuleingangsphase" (Vorschule, Klase 1 und 2) eine Mittelschule vor, die inzwischen "Gemeinschaftsschule" heißt, bis Ende von Klasse 8. Die vierjährige "Oberschule" danach besteht aus dem gymnasialen Zweig mit dem Abitur als Abschluss und einem "berufsbildenden Zweig", an dessen Ende ein "Berufsabschluss" stehen soll. "Zwischen Grund- und Mittelschule soll es feste Kooperationsbeziehungen geben, so dass der Bildungsgang mit Eintritt in die Grundschule bis zum Ende der Mittelschule überschaubar" sei.

Sonderschulen, die in Sachsen inzwischen auch wohlklingender "Förderschulen" heißen (als ob alle übrigen Schulen nicht auch Förderschulen sind oder sein sollten), werden als eigenständige Schulen "für Lernbehinderte und Erziehungshilfe" "schrittweise aufgelöst und statt dessen besondere Förder- und Beratungszentren flächendeckend an Schulen errichtet". "Die Integration behinderter Kinder" habe "Vorrang, wenn damit eine gute ganzheitliche Förderung und Entwicklung zu erwarten" sei. "Für integrierte Schüler" erhalte "die Schule zusätzliche Mittel".

In der Landtagswahl 2004 verlor die CDU ihre absolute Mehrheit und muss nun mit der SPD zusammen regieren, die im Koalitionsvertrag durchsetzen konnte, dass in Sachsen "der Schulträger eine Gemeinschaftsschule" als "Schulversuch" beantragen kann. 2006/07 entstanden die beiden ersten Schulen nach dem SPD-Konzept, 2007/08 kommen vier weitere dazu. Das Interesse von Kommunen, auch von CDU-regierten, wächst, die Schule als wichtigen Standortfaktor auch bei rückläufigen Schülerzahlen zu halten und Schulschließungen zu vermeiden. (Dulig 2007, S.92 f.)

Martin Dulig, schulpolitischer Sprecher der SPD, berichtet zum einen vom wachsenden Interesse von Kommunen an Gemeinschaftsschulen, aber auch von den Geburtswehen dieser integriert arbeitenden Schulen. Die CDU im Landtag lehne die Gemeinschaftsschule nach wie vor ab und versuche die vereinbarten Rahmenbedingungen zurückzunehmen.

Schulträger und Schulen, Eltern und Lehrer, die eine Gemeinschaftsschule vor Ort errichten wollen, benötigen aber bei der Erstellung des pädagogischen Konzepts Unterstützung und Ermutigung, auch seitens der Administration. Denn die Schulen erhalten für die konzeptionelle Arbeit keine Freistellung und müssen sich auf einen pädagogischen Weg begeben, der für sie oftmals Neuland ist. Zu den eigenen Zweifeln kommt aber dann auch noch der Gegenwind aus dem Ministerium. (Dulig 2007, S.94)

Dulig betont zuletzt, dass es der sächsischen SPD bei der Schulentwicklung "nie nur um äußere Strukturen, sondern immer um Inhalte" gegangen sei, "um individuelle Förderung, um eine Schul- und Lernkultur, welche den Einzelnen mit seinen individuellen Lern- und Bildungsbedürfnissen im Blick hat und zum Zuge kommen lässt". Deshalb sollen Gemeinschaftsschulen auch "die Spielräume der KMK-Vereinbarungen" nutzen, "auf äußere Differenzierung verzichten" und durch "Binnendifferenzierung" die "Anschlussfähigkeit" an bestehende Abschlüsse gewährleisten. (Dulig 2007, S.96 f.)

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Die Aussicht auf einen tragfähigen Kompromiss

Die Studie über den Schulformwechsel vom Gymnasium zur Mittelschule zeigt insgesamt, dass Sachsen, trotz respektabler Ergebnisse bei PISA, schulpolitisch keine Insel der Seligen ist, ja dass gerade in diesem Bundesland mit einem auf zwei Schulformen reduzierten System die Aporien der hierarchischen Gliederung in zugespitzter Form wahrnehmbar werden und damit auch die Suche nach einem Kompromiss der bildungspolitischen Lager sich als besonders dringlich erweist.

Der Einstieg in einen solchen Kompromiss ist mit der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und SPD bereits erfolgt. Längeres gemeinsames Lernen in der Gemeinschaftsschule ist ein Angebot an jede Mittelschule und jedes Gymnasium oder auch, aus Kapazitätsgründen, an eine aus beiden Schulformen gebildete Schule. Eine solche Schule entsteht allerdings nur dort, wo Eltern, Lehrer/innen und die Kommune sich in einem demokratischen Abstimmungsverfahren dazu entschließen. Nur so entstanden und entstehen Integrierte Gesamtschulen, die ihrem pädagogischen Selbstverständnis nach das hierarchisch gegliederte System der Sekundarstufe I nicht erweitern, sondern ersetzen, mit einem für alle Kinder offenen Angebot zum gemeinsamen Weiterlernen nach Klasse 4, unabhängig von einer Bildungsempfehlung der Grundschule.

Ob die Gemeinschaftsschule mittelfristig auch eine Schule für Kinder mit "Beeinträchtigungen" wird, wie das GEW und SPD fordern, wird wesentlich von der Grundschule abhängen. Sie kann mit ihren langjährigen Erfahrungen in zahlreichen Klassen mit behinderten Kindern Aussagen darüber machen, unter welchen Bedingungen materieller und personeller Ressourcenzuweisung eine Schule für wirklich alle Kinder gelingen kann. Noch gibt es nur wenige Schulen der Sekundarstufe wie die Montessori-Gesamtschule in Potsdam, die sich diesem hohen pädagogischen Anspruch stellen und über ihre Erfahrungen Auskunft geben können. (Kahl 2005)

Die Bedingung für die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen als Kompromiss zwischen den beiden bildungspolitischen Lager muss allerdings die eigene gymnasiale Oberstufe oder ein Oberstufenzentrum für mehrere Gemeinschaftsschulen sein. Erst der direkte Weg auch dieser Schulform zum Abitur, mit den gleichen Standards allgemeiner Bildung wie am Gymnasium, wird die Gemeinschaftsschule zu einer mit dem Gymnasium formal gleichberechtigten Schulform machen. Formal gleichberechtigt, weil sich erst einmal am sogenannten Creaming-Effekt nicht viel ändern wird; d.h. am Gymnasium werden weiterhin vorwiegend die in der Grundschule leistungsstärkeren Kinder angemeldet und an Gemeinschaftsschulen vor allem Schüler/innen, die in Sachsen zur Zeit die Mittelschule und in anderen Bundesländern die Haupt- oder die Realschule besuchen.

Das wird zunächst so bleiben, auch wenn die Grundschule davon befreit wird, für zehnjährige Kinder eine Bildungsempfehlung, gar eine verbindliche, abzugeben und nur noch in beratender Funktion den Eltern bei der Schulwahl behilflich ist. Dennoch ist die formale Gleichberechtigung, ist der direkte Weg zum höchsten schulischen Abschluss, die entscheidende Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule um die Gunst der Eltern bei der Schulwahl. Die Attraktivität einer Schule hängt dann mittel- und langfristig nicht mehr einfach an der mehr oder minder angesehenen Schul-Form, sondern an den Inhalten des pädagogischen Programms, der konkreten Unterrichtspraxis und am Erfolg bei den erreichten Abschlüssen.

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Dass ein solcher Wettbewerb funktionieren kann, zeigen Integrierte Gesamtschulen, die sich, nicht selten in sozialen Brennpunkten, auf den Weg der Reform machten und inzwischen auch bei Eltern der Mittelschicht so beliebt sind, dass sie nur noch den geringeren Teil der angemeldeten Kinder aufnehmen können. In diesem Wettbewerb um die Gunst der Eltern bei gleichzeitigem Rückgang der Schülerzahlen wird sich auch das Gymnasium bewegen müssen und das wäre bei all dem, was wir über die Reformbereitschaft dieser Schulform wissen, ein nicht zu unterschätzender Erfolg für die Qualitätsentwicklung des deutschen Schulsystems insgesamt.

Wie lange es bei einem solchen Kompromiss in Sachsen neben dem Gymnasium und der Gemeinschaftsschule dann noch die Mittelschule geben wird, bleibt den Hauptakteuren der Schulentwicklung vor Ort überlassen: den Eltern, dem Kollegium einer Schule und dem Schulträger.

Wenn die sächsische CDU, auch ohne den Zwang einer Koalition mit der SPD, sich zu einem solchen Kompromiss der beiden bildungspolitischen Lager entschließen kann, wird dies mit dem bereits Gesetz gewordenen Schulkompromiss in Schleswig-Holstein, mit Regionalschule, Gemeinschaftsschule und Gymnasium, ein weiteres Modell für eine Strukturreform sein, die nicht von oben verordnet wird, sondern nur in dem Maße von unten wächst, als die beteiligten Akteure, Eltern, Schule und Kommune, dies wollen und beschließen. Mit der Gemeinschaftsschule als Schulversuch ist Sachsen bereits ausgestiegen aus der nur noch kleinen Gruppe von Bundesländern, die bislang eine für alle Kinder offene Schule strikt verweigert haben und damit gegen das Recht der Eltern auf freie Schulwahl verstoßen; denn dazu gehört eben auch die Wahl einer für alle Kinder offenen Schule.

Es gibt in Deutschland nach wie vor ein starkes Interesse am Erhalt des Gymnasiums auch in der Sekundarstufe I. Es gibt aber auch ein ausgeprägtes und seit PISA wachsendes Engagement für eine für alle Kinder offene Schule über die Grundschule hinaus. Die politisch Verantwortlichen in den Ländern sind gut beraten, an einem Interessenausgleich zu arbeiten, der den nächsten Regierungswechsel übersteht. Die Koalition aus CDU und SPD in Sachsen hat da bereits einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan.

Literatur

Dulig, Martin: Längeres gemeinsames Lernen aus Sicht der sächsischen SPD. In: Länger gemeinsam lernen! Fortschritte und Konzepte in der Bildungspolitik aus sieben Bundesländern. Dokumentation einer Tagung des Landesbüros Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung am 8. und 9.Juni 2007, S.91-97. www.forum-kritische-paedagogik.de November 2007.

Kahl, Reinhard: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen. Archiv der Zukunft 2004, 2.überarb. Auflage 2005 (Beltz Verlag)

Merkelbach, Valentin: Wozu ein Hauptschulabschluss ohne Hauptschule? http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Dezember 2007.

Schulformwechsel von Gymnasien zu Mittelschulen. Eine Expertise für die Landeshauptstadt Dresden. Hrsg. Eva-Maria Stange und Wolfgang Melzer, unter Mitarbeit von Stefan Heimpold, Luise Ludwig und Gerit Thomas, Oktober 2006. (Technische Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, Institut für Schulpädagogik, Weberplatz 5, 01217/ Postanschrift: 01062)

Letzte Aktualisierung: 01.02.2008