Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Chancen einer Schule für alle in der aktuellen Auseinandersetzung

März 2009

„Wer das Gymnasium abschaffen will, wird abgewählt“. Mit dieser lapidaren Schlagzeile beginnt Spiegel Online am 17.12.08 ein Interview mit Wilfried Bos, dem deutschen Leiter der IGLU-Lesestudie. Es geht darin u.a. um die Frage, warum Kinder am Ende der Grundschule im Schnitt gute Leseleistungen zeigen, am Ende der Sekundarstufe I jedoch auch in PISA 2006 mit nur bescheidenen Ergebnissen aufwarten. Die naheliegende Frage, warum man nicht Kinder über die Grundschule hinaus länger gemeinsam lernen lässt, wie in 95 Prozent aller Länder, verweist für Bos auf eine in Deutschland „ständestaatliche Tradition“, die ziemlich gut funktioniere und die niemand werde abschaffen können: das Gymnasium.

Spiegel Online: Und weil das Gymnasium sakrosankt ist, wird sich nie grundlegend etwas ändern?
Bos: Jedenfalls nicht am Gymnasium. Alle Eltern, die etwas zu sagen haben, die kampagnenfähig sind, schicken ihre Kinder aufs Gymnasium – die werden den Teufel tun, diese Schulform abzuschaffen. Die Diskussion ist schlicht müßig.
Spiegel Online: Also resignieren Sie?
Bos: Keineswegs, ich halte das bisherige System für ungerecht. Das sagen mir aber weniger die Iglu- oder die Pisa-Studie, das sagt mir vielmehr der gesunde Menschenverstand. Warum tun wir zehnjährigen Kindern den Stress an, sie mindestens ein halbes Jahr lang für den Schulwechsel zu drillen? Und warum lassen wir die Hauptschüler dumm in der Ecke stehen? Nur: Es wird nicht gelingen, das Gymnasium abzuschaffen. Wer das versucht, wird nicht wiedergewählt.

Für Wilfried Bos lässt sich das gegliederte System nicht gerecht gestalten. Das Maß an Ungerechtigkeit lasse sich nur abmildern, wie es das konservativ regierte Baden-Württemberg mit Erfolg betreibe. Dort können begabte Haupt- und Realschüler/innen an beruflichen Gymnasien das Abitur nachholen und das sei inzwischen jedes dritte Abitur. Das Land hole so „einen Großteil derer, die sie falsch sortiert haben, wieder zurück“.

Während Wilfried Bos sich angesichts der gesellschaftlichen Machtverhältnisse mit dem ungerechten Schulsystem abfindet und im Reparaturbetrieb Baden-Württembergs eine pragmatische Notlösung sieht, ist die Bildungsforscherin Brigitte Schumann mit einer solchen resignativen Haltung überhaupt nicht einverstanden. Die langanhaltende und publizitätsträchtige Debatte über die Verkürzung der Gymnasialzeit verdecke, „dass es unabhängig von G8 – z.B. mit der Abschiebung in andere Schulformen – Selektionsprobleme gab und gibt, die die Betroffenen in Angst und Verzweiflung stürzen“ könnten. Der „Klau der Kindheit“ fange nicht erst mit G8 an. Schon Grundschulkinder seien davon betroffen und demnächst vielleicht sogar die Kleinsten in den Kitas. „Erst die Erkenntnis, dass all dies mit der Existenz des Gymnasiums selbst zusammenhängt“, führe „zu des ‚Pudels Kern’“.

Spätestens seit das Gymnasium zum Marktführer unter den Schulformen in Deutschland geworden ist, sehen sich die Grundschulen als reine „Durchgangsschulen“ und „Zubringer“ zum Gymnasium für eine bestimmte und bestimmende Elternschaft entwertet. Die Qualität der Grundschule nur daran zu messen, wie gut sie Kinder für das Gymnasium fit macht, hat nichts mit der Verwirklichung einer kindgerechten Grundschulpädagogik zu tun.
(Schumann 2008, S.1)

Dem Gymnasium und seinen Befürwortern ist es für Brigitte Schumann auch zu verdanken, „dass die Gesamtschule anders als in den europäischen Nachbarländern in den 1970er Jahren nicht zu der ersetzenden Schulform in Deutschland werden durfte“ und mit dem Modell der Zweigliedrigkeit werde „nunmehr der politische Versuch gemacht, die Entwicklung hin zur Gemeinschaftsschule zu torpedieren“. „Das Gymnasium soll so nicht nur erhalten, sondern zu einer exklusiven Schule ausgestaltet werden“. Dabei werde das Kindeswohl „in vielfältiger Weise unmittelbar und mittelbar beschädigt und verletzt durch die Existenz des Gymnasiums, mit dem die Leistungsselektion und die soziale Selektion institutionell stehen und fallen“. (Schumann 2008, S.3)

Am Ende ihres Beitrags fordert Brigitte Schumann die Diskussion über G8 zu erweitern um die Frage: „Brauchen wir das Gymnasium? Und wenn ja, für wen eigentlich?“ Die provokante Frage wird inzwischen in fast allen Bundesländern von Bürgerinitiativen und Organisationen, die längeres gemeinsames Lernen bis zum Ende der Pflichtschulzeit fordern, gestellt und hat in jüngsten Koalitionsvereinbarungen der Parteien auch aktuelle Antworten erfahren.

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Nicht das Gymnasium, die Gesamtschule wird abgeschafft

Im CDU-regierten Stadtstaat Hamburg begann nach PISA 2003 die Erörterung der Frage, ob man nicht die bescheidenen Ergebnisse der Studie, vor allem im unteren Leistungsbereich, durch eine Reduktion der Schularten, ähnlich wie im PISA-Siegerland Sachsen, mittelfristig verbessern könnte. Mit den Ergebnissen einer von der Stadtregierung eingesetzten parteiübergreifenden Enquetekommission plante die CDU-Regierung ein Zwei-Säulen-Modell mit Gymnasium und einer Stadtteilschule, in der sich Haupt-, Real- und Gesamtschulen vereinen und die nach 13 Jahren auch zum Abitur führt. Nach der Grundschule konnten nach diesem Plan die Eltern eine der beiden Schulformen frei wählen.

Das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium hatte die Möglichkeit, am Ende von Klasse 6 leistungsschwache Schüler/innen an die Stadtteilschule abzugeben, war danach aber verpflichtet, seine Schüler/innen sowohl auf den ersten Bildungsabschluss (Hauptschulabschluss) als auch auf den Mittleren Abschluss vorzubereiten.

Im Schulkompromiss von Schwarz/Gelb 2008 setzten die Grünen eine sechsjährige „Primarschule“ durch, die verbindlich entscheidet, wer das Gymnasium und wer die Stadtteilschule besucht. Das Gymnasium trägt, wie im Schulplan der CDU, ab Klasse 7 die Verantwortung für seine Schüler/innen bis zum Ersten und zum Mittleren Bildungsabschluss.

Während das Bündnis „Hamburg braucht eine Schule für alle“, dem bis zur Wahl auch die Grünen angehörten, mit einem Volksbegehren, dem ein Volksentscheid folgen sollte, gescheitert, aber damit wohl nicht am Ende ist, kämpft inzwischen eine „Volksinitiative“ „Wir wollen lernen“ gegen eine weitere Verkürzung der Gymnasialzeit von G8 auf G6. Die Frage ist: Wird sich die Hamburger CDU dieser konservativen und meinungsmächtigen Initiative auf Dauer widersetzen können? Und werden die Grünen über die Legislaturperiode hinaus gegen das Bündnis für längeres gemeinsames Lernen an der Abschaffung der Gesamtschule als einer Schule für alle festhalten? Werden sie mit der CDU zusammen rechtfertigen, dass die Grundschule zwölfjährige Kinder der „berufsorientierten“ Stadtteilschule oder dem „wissenschaftsorientierten“ Gymnasium verbindlich zuweist, - mit all den Folgen dieser rigiden Sortierung für die Arbeit der Grundschule und für die betroffenen Kinder und Eltern? (Merkelbach Juni 2008)

Schon in der ersten rot/roten Koalition waren sich SPD und, damals noch, PDS grundsätzlich einig, dass es in Berlin gemeinsames Lernen von Klasse 1 bis 10, unter Einschluss des Gymnasiums, geben sollte, ohne dass im Laufe der Legislaturperiode ernsthaft an eine Umsetzung dieser Vereinbarung gedacht worden wäre. In der Auseinandersetzung vor der Landtagswahl 2006 entschied der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, die SPD werde in einer neuen Regierung das Gymnasium nicht abschaffen. Im neuen Koalitionsvertrag einigte man sich mit der Linkspartei, die weiterhin eine Schule für alle fordert, auf eine „Pilotphase Gemeinschaftsschule“ von 2008/09 bis 2012/13. Alle Schulen, Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I mit und ohne gymnasiale Oberstufe, waren eingeladen, sich mit einem Schulprogramm um die Teilnahme zu bewerben. Von 65 Schulen, darunter allerdings kein einziges Gymnasium, erhielten 16 die Genehmigung.

Erst nach der Koalitionsvereinbarung holte der alte und neue Regierende Bürgermeister, der die Pilotphase und damit die offene Diskussion über das künftige Schulsystem akzeptierte, zugleich aber dem Gymnasium seine Weiterexistenz garantiert, Jürgen Zöllner aus Rheinland-Pfalz als neuen Bildungssenator. Zöllner sollte den Streit in der Koalition schlichten und zugleich eine Schulentwicklung einleiten, die für das drängendste Problem des Berliner Schulwesens, die Hauptschule, eine Perspektive enthält.

Während die Schulen der Pilotphase gerade mit ihrer anspruchsvollen pädagogischen Arbeit begannen, erfuhr die Berliner Öffentlichkeit, was dem Bildungssenator als strukturelle Lösung der Berliner Schulprobleme vorschwebt. Ganz im Sinne des schwarz/gelben Hamburger Schulkompromisses soll es auch in Berlin mit seiner sechsjährigen Grundschule neben dem Gymnasium eine Zweitschule, die Regionalschule, geben, in der kurzfristig Haupt- und Realschulen und später auch die Gesamtschulen zusammengefasst werden. Auch diese Regionalschule soll, wie die Hamburger Stadtteilschule, zum Abitur führen. (Merkelbach Dezember 2008, S.9-13)

Ähnlich wie in Berlin haben sich in Bremen nach der letzten Landtagswahl 2007 zwei Parteien zu einer Koalition entschlossen, die vor der Wahl längeres gemeinsames Lernen propagierten, was in der langjährigen Großen Koalition nicht vereinbart werden konnte. Mit der Bildung der rot/grünen Koalition erwarteten die Befürworter einer Schule für alle, dass die beiden Parteien den Ankündigungen im Wahlkampf nun auch Taten folgen lassen.

Im Koalitionsvertrag vom 17.6.07 heißt es dazu allerdings schon eher vage: „Wir unterstützen die Schulen dabei, in den Regionen durch freiwillige Kooperationen kontinuierliches Lernen und Integration zu stärken. Unser Ziel ist eine gemeinsame Schule bis zu Klasse 10 für alle Kinder des Stadtteils.“ Von der neuen SPD-Bildungssenatorin, Renate Jürgens-Pieper, die den Auftrag bekam, einen Schulentwicklungsplan für Bremen zu erarbeiten, erfuhr die Bremer Öffentlichkeit erst einmal, sie wolle „werben“ für mehr gemeinsamen Unterricht und „aufklären“ über Themen wie Notengebung, Sitzenbleiben und Abschulung. Und sie wolle die bestehenden Schulformen weiterentwickeln, z.B. das Gymnasium, das in Bremen bereits von mehr als der Hälfte der Schüler/innen besucht werde und zur „Haupt“-Schule geworden sei. (Erziehung & Wissenschaft 9/07, S.33)

Statt eines Schulentwicklungsplans von Rot/Grün gab es dann am 19.12.08 den „Bremer Konsens zur Schulentwicklung“, der von den Parteispitzen von SPD, CDU, FDP und den Grünen ausgehandelt wurde und dem die Parteien noch zustimmen müssen. Der Konsens soll zehn Jahre, von 2009 bis 2019, gelten, unabhängig von der jeweiligen Regierung. Erst gegen Ende dieser Phase (2017) soll Bilanz gezogen werden. Die schulpolitisch relevanten Aussagen des Konsenspapiers sind folgende:

  • Neben dem Gymnasium gibt es nur noch eine Schulform, die „Oberschule“, in der, wie in der Hamburger Stadtteilschule, Haupt-, Real- und Gesamtschulen fusionieren.
  • Die Oberschule führt mit äußerer oder innerer Differenzierung zur „Berufsbildungsreife“ (Hauptschulabschluss), zum Mittleren Abschluss und nach 13 Jahren zum Abitur.
  • Auch an Gymnasien erwerben Schüler/innen „mit Versetzung in Klasse 9 die Berufsbildungsreife“ und wenn sie nach 12 Jahren das Abitur nicht bestehen, bekommen sie „je nach Leistungsbild einen mittleren Abschluss oder eine Fachhochschulreife zuerkannt“.
  • „Das Verlassen einer Schulart“ geschieht „nur noch auf Antrag der Eltern“.
  • Am Ende der Grundschule, die „einen durch die Stadtgemeinde festgelegten Einzugsbereich“ behält, ist die Wahlmöglichkeit zwischen Oberschule und Gymnasium „gesetzlich gesichert“.
  • „Eltern, die ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, können künftig wählen, ob ihr Kind eine allgemeinbildende Schule oder ein eigenständiges Zentrum für unterstützende Pädagogik besuchen soll.“
  • (GEW-PISA-Info 01/2009)

Die Einigung der beiden bildungspolitischen Lager auf ein zweigliedriges System auch in Bremen enthält gegenüber Hamburg einige beachtliche Elemente, die auch das Gymnasium nicht unangetastet lassen. Dennoch stellt sich die Frage: Kann die geplante Oberschule, auch mit dem pädagogischen Know-how der zahlreichen Bremer Gesamtschulen, zu einer Schule werden, die auf Augenhöhe mit dem Gymnasium um die Gunst der Eltern wirbt? Oder wird sie nicht doch die von Kritikern prognostizierte „Restschule“ für die leistungsschwächeren Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien?

Da SPD und Grüne vor der Wahl längeres gemeinsames Lernen propagierten, ist die Frage leicht zu beantworten, wer von den beiden schulpolitischen Lagern den größeren Preis gezahlt hat, wenn der Konsens der vier Parteien Gesetz werden sollte. Für die Linkspartei, die den Konsens nicht mitträgt, untermauert er „die Spaltung der Bildungslandschaft“. Für die GEW wird das gegliederte Schulsystem „für die nächsten zehn Jahre zementiert“ unddie „Schule für alle“, wie sie Rot/Grün wollte, rücke „in weite Ferne“. (Frankfurter Rundschau, 3./4. 09, S.15)

Schon vor dem Bremer Schulkompromiss hat die sozialdemokratisch geführte Große Koalition in Brandenburg nach der Landtagswahl 2005 eine Oberschule beschlossen, in der alle Gesamtschulen ohne eigene Oberstufe mit den Realschulen fusionieren. Das Land hatte sich nach der Wende für ein dreigliedriges Schulsystem ohne eigenständige Hauptschulen entschieden mit Gesamtschulen, Realschulen und Gymnasien. Von den 174 Gesamtschulen, die bis 2005 einen Schüler/innen-Anteil von mehr als 50 Prozent hatten, blieben noch 39 mit eigener Oberstufe übrig, denen bei weiter rückläufigen Schülerzahlen auch die Umwandlung in Oberschulen droht. Das Ziel ist offensichtlich ein zweigliedriges System mit dem Gymnasium als der „höheren“ Schule.

Wenn sich in Berlin der amtierende Bildungssenator durchsetzt und es neben dem Gymnasium nur noch eine Regionalschule geben wird, dann ist dies mit Brandenburg und Bremen die dritte sozialdemokratisch geführte Landesregierung, die dem Beispiel Hamburgs folgt und mit der Abschaffung der Gesamtschule sich von der seit den 1920er Jahren von der SPD geforderten Schule für alle auch in der Sekundarstufe I verabschiedet.

Wie ein Kompromiss aussehen kann zwischen Befürwortern des Gymnasiums und einer Schule für alle

Der Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein 2005, nicht mehr zwischen Rot/Grün, sondern zwischen CDU und SPD, ließ das Gymnasium unangetastet neben einer Regionalschule (Haupt- und Realschule) und der neuen Gemeinschaftsschule, mit der Option für alle Schulen der Sekundarstufe I, sich allein oder mit anderen Schulen zusammen zu einer Gemeinschaftsschule zu entwickeln. (Merkelbach, Dezember 2008, S.4-7)

Die Gemeinschaftsschule ist also nicht eine Zweitschule unterhalb des Gymnasiums, sondern sie ist, wie die Gesamtschule, eine das gegliederte System ersetzende Schule, die überall dort entsteht, wo Schulen, Eltern und Schulträger das wollen. Diese Schulform bietet nicht nur alle Schulabschlüsse bis zum Abitur an. Sie hat auch denselben Bildungsanspruch wie das Gymnasium, ist also nicht, wie die Hamburger Stadtteilschule, eine „berufsorientierte“ Schule, sondern steht, ganz wie die Gesamtschule, in der Tradition der Reformpädagogik für ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand, worin Wissenschaftsorientierung und Berufsorientierung integrale Bestandteile sind.

Ob die Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein sich zu einer solchen Schule entwickeln kann, die auf Augenhöhe mit dem Gymnasium um die Gunst der Eltern wirbt, hängt davon ab, ob Schulen, die auch oder gar überwiegend leistungsschwächere Kinder und Jugendliche unterrichten, nach einem Sozialindex eine bedarfsgerechte personelle und materielle Unterstützung erfahren.

Nach der hessischen Landtagswahl 2008 versuchten SPD und Grüne, unter Tolerierung der Linkspartei, eine Regierung zu bilden, was bekanntlich gescheitert ist. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen ist als Regierungsprogramm zwar Makulatur, verdient aber in seinen schulpolitischen Kernaussagen insoweit Beachtung, als er ein Angebot sein könnte für einen Kompromiss der beiden politischen Lager, die sich in Hessen seit dem Schulstreit der 1970er Jahre immer noch unversöhnlich gegenüberstehen.

Die beiden Koalitionspartner vereinbarten, dass ab dem Schuljahr 2009/10 alle Schulen „in einer neugestalteten Sekundarstufe I mit binnendifferenziertem Unterricht ohne schulformbezogene Leistungsgruppen arbeiten können“. Dieser Weg sollte „allen heutigen Gymnasien, Haupt- und Realschulen, kooperativen und integrierten Gesamtschulen offen“ stehen, die Initiative aber „bei der Schulgemeinde – den Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern sowie den Eltern – und natürlich beim Schulträger“ liegen. Was die auch in Hessen dramatisch schwindende Akzeptanz der Hauptschule betrifft, wollte Rot/Grün mit den Schulträgern die Vereinbarung treffen, „dass im Laufe der Legislaturperiode keine neuen 5.Hauptschulklassen mehr gebildet werden“. (Koalitionsvertrag, Oktober 2008, S.11 f.)

In der neuen hessischen Landesregierung aus CDU und FDP übernimmt die FDP zum ersten Mal das Kultusministerium. Das könnte die verhärteten bildungspolitischen Fronten lockern. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits in der Koalitionsvereinbarung der beidenParteien. Sie wollen zwar das mehrgliedrige Schulsystem erhalten, weil es „den unterschiedlichen Begabungen, Talenten und Stärken der Schülerinnen und Schüler am besten gerecht“ werde; den Schulen aber „mit den beiden Bildungsgängen Hauptschule und Realschule“ wird „die innere Organisation freigestellt“. Vor Ort könne entschieden werden, ob „Haupt- und Realschulzweige in der fünften Klasse gemeinsame oder getrennte Eingänge haben“. (Koalitionsvereinbarung, Februar 2009, S.29 f.)

In einem Interview erläutert die neue Kultusministerin, Dorothea Henzler, diese Vereinbarung. Die einzelne Schule könne entscheiden, „ob sie alle Schüler gemeinsam unterrichtet oder auch getrennt“. Wie lange sie das macht („von mir aus bis Klasse 9“) und in welchen Fächern, solle die Schule entscheiden. Das Gymnasium bleibt in seinen selektiven Möglichkeiten unangetastet. Das Festhalten an G8 begründet die Kultusministerin so: „Das klassische Gymnasium“ sei „eine Schule für Kinder und Jugendliche, die ihre Schulzeit möglichst schnell durchlaufen und beenden und ein Jahr Lebenszeit gewinnen wollen“. Schließlich gebe es Wahlmöglichkeiten für G9 an Kooperativen nd Integrierten Gesamtschulen. (Frankfurter Rundschau, 3.2.09, S.R10)

Für Dorothea Henzler bleibt, ganz im Einklang mit der CDU, das Gymnasium die Schule für die Schnellen und Leistungsstarken und wer da nicht mithalten kann bzw. bei Lernproblemen keine private Unterstützung erfährt, wird an einer anderen Schule weiterlernen müssen. Dass diejenigen, die es schaffen, durch die Verkürzung der Gymnasialzeit in der Sekundarstufe I Lebenszeit gewinnen, wird von vielen Schüler/innen und Eltern allerdings ganz anders erlebt.

Dennoch: Neben dem Gymnasium bleibt in der Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP auch die Integrierte Gesamtschule unangetastet. Auf die Frage, warum sie in der Vereinbarung nicht erwähnt werde, antwortet die Ministerin der Hessischen Lehrerzeitung: Die IGS gehöre „zur Vielfalt der Angebote dazu“. Es gebe „supergute Integrierte Gesamtschulen und schlechte, genauso wie es supergute und schlechte Gymnasien“ gebe. Sie selbst habe „überhaupt keine ideologischen Vorbehalte gegen die IGS“. Zwei Töchter habe sie auf der IGS gehabt „und zwar ganz bewusst“ und ihre „Vorzeigeschule“ sei „immer dieIGS Stierstadt in Oberursel“.(HLZ 3/09, S.7)

Im Unterschied zu Hamburg und Bremen und analog zur Strukturreform der Großen Koalition in Schleswig-Holstein kann die Vereinbarung von CDU und FDP unter diesem Aspekt durchaus als ein Kompromissangebot an die Opposition wahrgenommen werden. Wenn es neben dem Gymnasium und einer fusionierten Haupt- und Realschule in Hessen weiterhin Integrierte Gesamtschulen gibt, bleibt mit dieser Schule eine für alle Kinder offene Schule erhalten. Und wenn Schulen im Einvernehmen mit Eltern und Schulträgern sich mit einem entsprechenden Konzept in eine Gesamtschule umwandeln wollen oder eine Neugründung notwendig wird und das dann nicht mehr, wie in der Vergangenheit, von der Schulbehörde behindert oder abgewiesen wird, könnte, wie in Schleswig-Holstein, auch in Hessen nach langer Eiszeit Tauwetter einsetzen zwischen den beiden bildungspolitischen Lagern.

***

Das Gymnasium in der Sekundarstufe I ist in keinem der neuen Schulpläne in seiner Existenz in Frage gestellt. Der Versuch von SPD und Linkspartei in Berlin, dies in einem Koalitionsvertrag ernsthaft in Erwägung zu ziehen, ist aus Angst der SPD vor einer Kampagne der Gymnasiallobby gescheitert. Brigitte Schumanns Frage, ob wir das Gymnasium brauchen und wenn ja, für wen eigentlich, ist mit Blick auf die neuen Strukturmodelle leicht zu beantworten. Wir brauchen das Gymnasium von 5 bis 9/10, weil eine mächtige Gruppe in der Gesellschaft will, dass ihre Kinder, wenn schon nicht mehr von Anfang an, so spätestens am Ende der Grundschule von den leistungsschwächeren Schüler/innen getrennt werden, die überwiegend die sozial und kulturell unterprivilegierten Kinder sind.

Mag das Gymnasium auch in keinem Bundesland ernsthaft zur Disposition stehen, so sind die Befürworter des gegliederten Systems durch die neuen Strukturmodelle doch gehörig irritiert und herausgefordert. Schließlich geht es dabei nicht nur um die Existenz des Gymnasiums, sondern auch um die uneingeschränkte Möglichkeit des Sortierens der Schüler/innen in leistungsstarke, leistungsschwächere und leistungsschwache, und das über die einmalige Bildungsempfehlung der Grundschule hinaus. Davon ist viele stärker als das Gymnasium die Realschule betroffen, die bei rapide schwindender Akzeptanz der Hauptschule in allen neuen Strukturmodellen mit der Hauptschule zusammen als eigenständige Schulform einfach verschwindet, was zu unterschiedlichen Reaktionen geführt hat.

In Schleswig-Holstein sind die Realschulen nach heftigem Widerstand gegen eine Fusion mit der Hauptschule zur Regionalschule rasch zu Befürwortern der Gemeinschaftsschule geworden und beeinflussen wohl auch die wachsende Akzeptanz dieser neuen Schule für alle. In Hamburg fusioniert die Realschule mit Hauptschule und Gesamtschule. Ähnliches ist in Berlin und Bremen geplant. Damit können offensichtlich Realschulen und ihre Interessenvertretung leben. Überall dort allerdings, wo das Problem Hauptschule noch ungelöst ist und Landesregierungen an der ungeliebten Schulform festhalten wollen, wehrt sich die Realschule gegen eine Fusion und kämpft mit dem Gymnasium zusammen für den Erhalt der Hauptschule.

Dazu hat sich inzwischen in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und am 10.3.09 auch in Baden-Württemberg ein „Aktionsbündnis gegliedertes Schulsystem“ gegründet aus Lehrer/innen und Eltern, dem Philologenverband und dem Realschullehrerverband (Frankfurter Rundschau, 12.3.09). Das Bündnis richtet sich offiziell gegen die Gründung von Gemeinschaftsschulen, wehrt sich aber vor allem gegen die Fusion von Haupt- und Realschule, was zu einem zusätzlichen Run aufs Gymnasium führen dürfte, zulasten einer mit der Hauptschule vereinten Realschule. Eine solche Entwicklung lässt sich seit geraumer Zeit am sächsischen Schulsystem mit Gymnasium und Mittelschule studieren. (Merkelbach Dezember 2008, S.7-9)

Neben der mächtigen Interessenvertretung des Gymnasiums und der weit weniger mächtigen der Realschule gibt es eine dritte, repräsentiert durch eine stattliche Anzahl von Initiativen und Organisationen, die die Auffassung vertritt, dass es gut ist für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, wenn Kinder aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus in der öffentlichen Schule möglichst lange zusammen leben und lernen und ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen erfahren und reflektieren. Die Protagonisten dieser Gruppe engagieren sich seit Jahrzehnten für die Integrierte Gesamtschule und neuerdings auch für die Gemeinschaftsschule.

Eine Verständigung der beiden divergierenden Systeme auf einen fairen Wettbewerb könnte dazu führen, dass bei einer wachsenden Zahl von Eltern die Schulform an Bedeutung verliert gegenüber dem pädagogischen Programm der einzelnen Schule und dessen erfolgreicher Umsetzung. Ist ein solches konkurrierendes Nebeneinander von Gymnasium und einer Schule für alle als gleichrangige Schulen der Sekundarstufe I nicht vielleicht doch mehr als eine schöne Illusion, wenn es gelingt, unterschiedliche Belastungen der Schulen personell und materiell auszugleichen? Könnte ein solcher Wettbewerb um das Vertrauen der Eltern nicht auch der inneren Reform der deutschen Schule Auftrieb geben, hin zu einem nicht mehr selektions-, sondern förderorientierten Unterricht? Und ist eine solche Entwicklung nicht zuletzt eine unverzichtbare Voraussetzung für gemeinsames Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern, wie es eine vom Deutschen Bundestag im Januar 2009 ratifizierte UN-Konvention fordert?

Wer das Gymnasium abschaffen will, da ist Wilfried Bos’ Prognose wohl zuzustimmen, wird mit dieser Ankündigung in keinem Bundesland die nächste Wahl gewinnen. Wer jedoch den Befürwortern einer Schule für alle, sei es die Integrierte Gesamtschule oder die Gemeinschaftsschule, diese Schule als pädagogische Alternative verweigert, mag, wie seither schon, auch die nächste Wahl gewinnen, der Streit aber der beiden schulpolitischen Lager wird unvermindert weiter gehen.

Literatur

Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Hessen. Oktober 2008.

Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP in Hessen. Februar 2009.

Merkelbach, Valentin: Der Schulkompromiss von Schwarz-Grün in Hamburg. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Juni 2008.

Merkelbach, Valentin: Gesamtschule oder Gemeinschaftsschule? Zur Perspektive zweier Reformmodelle nach PISA 2006. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/. Dezember 2008.

Schumann, Brigitte: Das Gymnasium und der Klau der Kindheit. www.forum-kritische-paedagogik.de Dezember 2008.

Letzte Aktualisierung: 01.03.2009