Der Schulkompromiss von Schwarz-Grün in Hamburg
Juni 2008
Die Parteien vor der Wahl
Es gab in Hamburg seit PISA 2003 und verstärkt dann mit Blick auf die Bürgerschaftswahl 2008 viel Bewegung in der Debatte über eine Reform der Schulstruktur, und das vor allem bei der alleinregierenden CDU. Sie zog schließlich nach intensiver Beratung in einer parteiübergreifenden Enquetekommission mit einem schulpolitischen Programm in den Wahlkampf, dessen Eckpunkte waren:
- Neben dem Gymnasium gibt es künftig nur noch eine Schulform, die Stadtteilschule, in der Hauptschule, Realschule und Gesamtschule fusionieren.
- Am Ende der vierjährigen Grundschule schreiben die Kinder einen Test. Die Lehrer/innen führen mit den Eltern Beratungsgespräche und danach entscheiden die Eltern, ob sie ihr Kind an einer Stadtteilschule oder an einem Gymnasium anmelden.
- Bis zum Ende von Klasse 6 können Schuler/innen zwischen Stadtteilschule und Gymnasium wechseln. Danach entscheidet das Gymnasium, wer bleiben darf und wer zur Stadtteilschule wechseln muss.
- Das Gymnasium führt in acht Jahren zum Abitur. In der Stadtteilschule können die Schüler/innen nach Klasse 12 die Fachhochschulreife erlangen und nach Klasse 13 das Abitur.
- Schwache Schüler/innen bleiben in der Stadtteilschule nicht mehr sitzen, sondern werden individuell gefördert. (ZEIT, 18.1.07, S.34)
Die Frage war, wie die Opposition im Wahlkampf auf dieses für eine CDU-Regierung beachtliche Programm reagieren würde. Während die Hamburger Grünen (GAL) wie schon bei der Wahl 2004 eine neunjährige „Grundschule” nach skandinavischem Vorbild forderten („Neun macht klug”), die das gegliederte System, das Gymnasium bis Klasse 9 eingeschlossen, ersetzt, hat die Hamburger SPD auf einem bildungspolitischen Parteitag am 2.12.06 eine Strukturreform des Hamburger Schulwesens mit folgenden zentralen Aussagen beschlossen:
- Die Abschaffung der Hauptschulen und der Zusammenschluss von Haupt- und Realschulen zu Integrierten Haupt- und Realschulen ist ein erster Schritt.
- Weitere Schritte müssen folgen. Diese entstehen, indem sich Schulen verschiedener Schulformen – Integrierte Haupt- und Realschulen, Gesamtschulen, Gymnasien – im jeweiligen Schulbezirk zu Stadtteilschulen zusammenschließen.
- Stadtteilschulen sind als Ganztagsschulen zu führen. Stadtteilschule, Gesamtschule und Gymnasium bieten den direkten Weg zum Abitur an. Dieser kann 12 oder 13 Jahre dauern.
- Eine Kooperation von Gymnasien, Gesamtschulen und Stadtteilschulen in der Oberstufe ist anzustreben.
- „Es kann nicht mehr hingenommen werden, dass sich Schulen einfach von schwächeren Schülern trennen. Hier muss der Gedanke der Teilhabe an Förderung in den Mittelpunkt gestellt werden und nicht der Gedanke von Abschulen. Dies sollte nur im Einvernehmen von Eltern, abgebender und aufnehmender Schule möglich sein. Dies gilt auch für Gymnasien. Sitzenbleiben ist ein oft gewähltes Mittel, sich von schwächeren Schülern zu trennen. Sitzenbleiben wird abgeschafft. Stattdessen erhalten diese Schüler besondere Fördermaßnahmen. Lernstandsberichte geben besser Auskunft über die Leistungsfähigkeit von Schülern. Diese sind den Eltern zu erläutern.”
- „Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen bedürfen besonderer Förderung: Dort müssen die Schülerzahlen geringer sein., durch zusätzliche Förderprogramme und weitere pädagogische Kompetenzen unterstützt werden.”
- Die formelle Schullaufbahnempfehlung nach der Grundschule wird ersetzt durch „individuelle, qualitative Beratung” für die Eltern und die Schüler/innen.
In den Schulplan der SPD wird auch die Sonderschule einbezogen. Unter sozialdemokratischen Bürgermeistern sei ein Fördersystem entwickelt worden, „indem behinderte Kinder in Integrationsklassen und integrativen Regelklassen gemeinsam mit nichbehinderten Kindern lernen”. Allerdings werde „die überwiegende Mehrheit der behinderten und vor allem der lernbehinderten Kinder” nach wie vor in die Sonderschule überwiesen, „von denen 80 % diese dann ohne Abschluss und damit ohne Berufsperspektive” verlassen. Als Fernziel strebt die SPD eine „Inklusion” an, „ nach der behinderte und nichtbehinderte Kinder grundsätzlich gemeinsam auf Regelschulen unterrichtet werden”. Keinem Kind dürfe mehr „aus Kapazitätsgründen die Aufnahme in eine wohnortnahe Integrationsklasse verwert werden, wenn Eltern dies wünschen” und darum würden „in allen Schulformen und Klassenstufen” Integrationsklassen „bedarfsgerecht” ausgebaut.
(www.spd-hamburg.de/Bildungsserver)
Die Pläne von CDU und SPD hatten, was ihr pädagogisches Konzept betrifft, wenig gemeinsam. Dennoch stellte ich mir vor der Bürgerschaftswahl die Frage, wie ein Kompromiss auf struktureller Ebene aussehen könnte, wenn die beiden Parteien wie in der Großen Koalition von Schleswig-Holstein gezwungen wären, sich in der Schulpolitik zu verständigen, oder auch ohne diesen Zwang einen Kompromiss suchten, um Schulpolitik über Legislaturperioden und Regierungswechsel hinweg für Eltern verlässlicher und für Schulträger planbarer zu machen. Die SPD könnte, dachte ich mir, neben dem Erhalt des Gymnasiums das CDU-Konzept der Stadtteilschule akzeptieren als einer Integrierten Haupt- und Realschule, wie das ja auch der SPD-Plan als ersten Schritt vorsieht. Im Gegenzug akzeptiert die CDU das SPD-Konzept einer Schule für alle Kinder, auch die mit Beeinträchtigungen, die nach schleswig-holsteinischem Vorbild Gemeinschaftsschule heißen könnte. (V.Merkelbach: Neue Strukturmodelle in den Ländern und die Chancen für eine andere Lernkultur. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/strukturmodelle.htm, S.7 ff.)
Länger gemeinsam lernen in einer sechsjährigen „Primarschule”
Die Eckpunkte der Koalitionsvereinbarung
Die Wahl hat meine Spekulation über einen Schulkompromiss zwischen CDU und SPD rasch erledigt. Die Aufgabe der neuen schwarz-grünen Partner war nun, das grüne Konzept „Neun macht klug” unter Einschluss des Gymnasiums mit dem Zwei-Säulen-Modell von Stadtteilschule und Gymnasium auf einen für beide Parteien verträglichen Nenner zu bringen. Die Vereinbarung sieht in ihren strukturrelevanten Aussagen so aus:
- Es wird in Hamburg eine Grundschule geben, die Primarschule heißen soll, in der alle Kinder gemeinsam sechs Jahre gemeinsam lernen.
- Es wird in Hamburg keine „grundständigen Gymnasien” wie in Berlin geben, die bereits mit Klasse 5 beginnen. Alle Schulen der Sekundarstufe I beginnen mit Klasse 7.
- Es wird sechsjährige Grundschulen unter einem Dach geben und solche, die räumlich und personell mit nahegelegenen Stadtteilschulen oder Gymnasien kooperieren, aber auch dort selbständige Grundschulen bleiben.
- Angestrebt wird die Mitarbeit von Sekundarstufenlehrer/innen in der Grundschule, auch aus Gymnasien.
- Die neue Primarschule entscheidet am Ende von Klasse 6 verbindlich, wer fürs Gymnasium und wer für die Stadtteilschule geeignet ist.
- Wenn die Würfel gefallen sind, gibt es kein „Querversetzen” mehr vom Gymnasium in die Stadtteilschule. Auch das Gymnasium trägt die Verantwortung für seine Schüler/innen, mindestens bis zum Ersten Bildungsabschluss am Ende von Klasse 9.
- Die ersten Primarschulen sollen im Schuljahr 2010/11 ihren Betrieb aufnehmen.
Politische und pädagogische Auswirkungen
Ein Kompromiss zweier bildungspolitisch so weit auseinanderliegender Partner ist natürlich auch zu würdigen im Kontext der Koalitionsvereinbarung insgesamt und da ging es in Hamburg auch um ein Kohlekraftwerk, die Elbvertiefung und andere strittige und wichtige Themen. Zur bildungspolitischen Vereinbarung muss dennoch gefragt werden, wer von beiden Partnern den größeren, weil schmerzlicheren Beitrag geleistet hat und wie der Kompromiss bildungspolitisch und pädagogisch einzuschätzen ist.
Die Grünen haben sich für die laufende Legislaturperiode verabschiedet von ihrer Forderung einer Schule für alle bis Ende Klasse 9 und akzeptieren das zweigliedrige CDU-Modell, wenn auch erst ab Klasse 7. Sie akzeptieren damit einen Begabungsbegriff, der immer noch legitimieren soll, zehn- oder zwölfjährige Kinder in eher praktisch oder theoretisch bildbare zu sortieren. Die GAL verabschiedet sich auch aus dem Bündnis „Hamburg braucht eine Schule für alle”, das weiterhin ein Volksbegehren und zur Europawahl einen Volksentscheid über die künftige Schulstruktur in der Hansestadt anstrebt.
Die CDU verprellt ihrerseits mit einer weiteren Verkürzung der Gymnasialzeit von G8 auf G6 nicht nur den Philologenverband, sondern die konservative Gymnasialklientel insgesamt, die mit dem ursprünglichen Zwei-Säulen-Modell der CDU ab Klasse 5 noch gut leben konnte, auch wenn man nun auch der neuen Stadtteilschule das Abitur zugestand. Die weitere Verkürzung der Gymnasialzeit wird jetzt allerdings als ein so massiver Eingriff empfunden, dass sich inzwischen eine zweite „Volksinitiative” gebildet hat unter der Losung „Wir wollen lernen”, die für den Erhalt der fünften und sechsten Klassen an Gymnasien kämpfen will. (ZEIT, 12.6.08, S.70)
Was die konservative Initiative eigentlich versöhnen könnte und vielleicht auch bald versöhnen wird, ist der neue Sortierungsmodus am Ende der Grundschule. Blieb im CDU-Konzept vor der Wahl nach einem Test der Kinder und einem Beratungsgespräch den Eltern allein vorbehalten, sich für das Gymnasium oder die Stadtteilschule zu entscheiden und konnte das Gymnasium dann bis Ende Klasse 6 die „falschen” Schüler/innen aussortieren, so besorgt jetzt die sechsjährige Grundschule das harte Geschäft, das ja nicht erst im Abschlussjahr dieser Schulstufe beginnt, sondern die ganze Grundschulzeit prägt. Den Eltern bleibt nur noch, Druck auf die Grundschule auszuüben, und das wird der bildungsorientierte Teil der Elternschaft verstärkt tun, wenn nötig mit häuslicher und/oder institutioneller Nachhilfe, um am Ende die „richtige” Empfehlung für ihre Kinder zu erreichen. Es sei denn, man ist ohnehin entschlossen, sich möglichst früh aus dem öffentlichen Bildungssystem zu verabschieden.
Der erhöhte Druck auf die Grundschule wird das um zwei Jahre verlängerte gemeinsame Lernen schwer belasten, wovon vor allem die Leistungsschwächeren aus bildungsfernen Milieus betroffen sein werden. Solange der Run aufs Gymnasium anhält, bleiben dieser Schulform also zwei Filter, um leistungsschwächere Kinder fernzuhalten: die verbindliche Empfehlung der Grundschule und, wenn dieser Filter sich als zu weitmaschig erweist, die Auswahl der „richtigen” Schüler/innen aus der Überzahl der Anmeldungen.
Die Stadtteilschule wird in dieser Konstellation, trotz Fachhochschulreife und Abitur im Angebot, die Zweitschule der Leistungsschwächeren und der Leistungsschwachen sein. Das schließt nicht aus, dass ehemalige Gesamtschulen, wie die über Hamburg hinaus bekannt gewordene Max-Brauer-Schule, die ja nicht einfach von der Bildfläche verschwinden werden, auch für bildungsorientierte Eltern attraktiv bleiben. Sie werden, so ist zu hoffen, die Idee einer Schule für alle Kinder, auch für die mit Behinderungen, am Leben halten.
Was bedeutet nun pädagogisch, dass es den Grünen, die eine neunjährige „Grundschule” ohne jede Form der Auslese wollen, nicht gelungen ist, den Eltern die freie Wahl unter zwei Schulformen zu lassen, die doch beide alle Abschlüsse anbieten und also formal gleichrangig sind? Bei einem Verzicht auf eine verbindliche Schulformempfehlung der Grundschule hätten Hamburger Gymnasien wohl verstärkt die Möglichkeit, sich ihre Schüler/innen auszuwählen. Es würde auch bei freier Schulwahl der Eltern die von schwierigen und langsam lernenden Kindern wenig belasteten Gymnasien geben und die mehr oder weniger stark belasteten Stadtteilschulen.
Die Grundschule aber, das ist bei freier Schulwahl der springende Punkt, müsste nicht mehr in einem zeitaufwendigen und für das Lernen belastenden Prozess Schulformempfehlungen vorbereiten und in fragwürdigen Ziffernnoten so formulieren, dass solche Gutachten auch zur Not in Gerichtsverfahren Bestand haben. Die Grundschule könnte nicht nur vier, sondern sechs Jahre tatsächlich gemeinsames und individuelles Lernen fördern und ungehindert das tun, was in allen Lehrplanpräambeln die vornehmste Aufgabe der Schule sein soll. Sie könnte alle Kinder, die Entwickelten und die weniger Entwickelten, die Schnellen und die Langsamen, die Behinderten und die Nichtbehinderten bilden.
Eine solche von der Auslese entlastete Grundschule hinderte ja niemanden, weiterhin privat in die Schulkarriere seines Kindes zu investieren. Diese Grundschule aber wäre eine Wohltat für alle Kinder, nicht nur für die Leistungsschwächeren und Leistungsschwachen. Sie wäre für die Kollegien der Stadtteilschulen eine große Erleichterung, Kinder im Lernen zu fördern, die in der Grundschule zwar erfahren haben, dass sie in bestimmten Lernfeldern langsamer lernen als andere, aber auch da Fortschritte machten und nicht mit schlechten Ziffernnoten immer wieder in ein abstraktes Klassenranking gezwungen und entmutigt wurden.
Stadtteilschulen hätten so bessere Ausgangsbedingungen, ob als ehemalige Gesamtschulen oder als Integrierte Haupt- und Realschulen, einen Reformprozess einzuleiten, der auch bildungsorientierte Eltern überzeugt. Das wäre nicht nur eine wichtige Voraussetzung, in einen pädagogischen Wettbewerb mit dem Gymnasium einzutreten, es könnte zugleich Gymnasien antreiben, die Herausforderung auf der Ebene eines pädagogischen Reformkonzepts anzunehmen.
Beide Schulformen, die Stadtteilschule und das Gymnasium, die ja im Schulkompromiss von Schwarz-Grün ab dem 7.Schuljahr bis zum Ende der Pflichtschulzeit für ihre Schüler/innen voll verantwortlich sind, sind in dieser Zeit ohne die Möglichkeit der „Querversetzung” nicht mehr ausleseorientierte, sondern integriert arbeitende Systeme. Wenn sie bei freier Schulwahl der Eltern attraktiv sein oder werden wollen, auch angesichts rückläufiger Schülerzahlen, müssen sie individuell fördern. Sie können Schüler/innen mit Lernproblemen nicht einfach mitschleppen bis zum Ersten Bildungsabschluss, ohne bei Eltern einen Imageverlust zu riskieren.
Wie wird die SPD-Opposition, die in den Schulkompromiss von Schwarz-Grün nicht eingebunden war, auf die Abschaffung der freien Schulwahl der Eltern reagieren? In ihrem Wahlprogramm forderte sie ja ausdrücklich, die formelle Schullaufbahnempfehlung der Grundschule durch „individuelle, qualitative Beratung” der Eltern und der Schüler/innen zu ersetzen. In ersten Stellungnahmen kann sich die SPD zwar mit einer Verlängerung der Grundschulzeit als einem Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Schule für alle Kinder anfreunden, nennt dafür aber Bedingungen:
- „Keine Primarschulen an Gymnasien und keine Kooperation mit Gymnasien”
- „Wiedereinführung der von der CDU abgeschafften Bezirksgrundschule, d.h. kurze Beine – kurze Schulwege: die Kinder gehen in die von ihrer Wohnung nächstgelegene Primarschule”
- „So lange es unterschiedliche Schulformen gibt, entscheiden allein die Eltern am Ende Kl. 6 der Primarschule über die Schulform für ihr Kind”
(http://bildungsserver.spd-hamburg.de 10.6.08)
Im übrigen will die Hamburger SPD an ihrem im Dezember 2006 beschlossenen Bildungsprogramm festhalten, dessen Eckpunkte ich oben zitiert habe.
Der schwarz-grüne Schulkompromiss mit der sechsjährigen Primarstufe als Kernstück trifft auf massiven Widerstand zweier Bürgerinitiativen, von denen die eine seit geraumer Zeit für die Integration auch des Gymnasiums in eine Schule für alle kämpft, die andere den Kampf für dessen Erhalt von 5 bis12 gerade aufgenommen hat. Das wird den schwierigen Prozess, eine vierjährige Grundschule als sechsjährige zu etablieren, räumlich und inhaltlich, die nächsten Jahre begleiten. Die Koalition wäre gut beraten, in dieser Situation eine Kompromisslinie mit der Opposition in der Bürgerschaft zu suchen, was die CDU-Alleinregierung mit der Einrichtung einer parteiübergreifenden Enquetekommission ja schon einmal mit einigem Erfolg betrieben hat. Dabei wäre die Frage zu klären, wie sich legitimieren lässt, das Schulsystem in Hamburg in der Sekundarstufe I auf zwei Schulformen mit identischen Abschlüssen zu reduzieren, den Eltern aber die Wahl unter diesen beiden Schulformen zu verweigern.