Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Es bleibt spannend in Hamburg - auch nach dem Volksentscheid

August 2010

Am 18. Juli 2010, 23:54 Uhr, als der Landeswahlleiter das Ergebnis des Hamburger Volksentscheids über die sechsjährige Primarschule verkündet hatte, erschien in ZEIT/Online unter dem Titel "Zäune und Wachmannschaften" ein Kommentar von Christian Bangel. Der Untertitel: "Die Hamburger haben gegen die Schulreform gestimmt. Doch die panische Abgrenzung der Mittelschicht wird das Problem verschärfen." Bangel hält die These, Kinder lernten besser, "wenn sie unter ihresgleichen seien", für längst widerlegt. Doch Argumente brauchten die Initiatoren des Volksentscheids seiner Meinung nach auch nicht. "Sie zehrten statt dessen von der latenten Furcht vor lernschwachen, gewaltbereiten Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern. Sie schürten die Angst, der Mittelschicht könne ein Refugium zivilisierter Erziehung verloren gehen."

Eine solche Wahrnehmung der Unterschicht verstärke jedoch, so Bangel, deren Isolation. Wer das nicht glaube, solle "junge Migranten auf ihre Erfahrungen mit Bewerbungen ansprechen" oder "junge, gebildete Großstadtbewohner fragen, ob sie ihr Kind in den geliebten Stadtteilen Berlin-Neukölln oder Hamburg-St.Pauli zur Schule schicken". Die Abschottung der Unterschicht im Schulsystem sei nicht nur volkswirtschaftlich ein Problem, "weil vielen klugen Menschen qua Geburt der Aufstieg verwehrt" bleibe; sie sei auch politisch problematisch. "Denn wie können wir Loyalität zu Demokratie, Grundgesetz und Marktwirtschaft erwarten, wenn die Gesellschaft ihr Versprechen nicht einhält, sie böte jedem eine Chance?" Der Hamburger Volksentscheid zeige, "wie tief die Ängste sitzen". "Doch wer jetzt Zäune und Wachmannschaften" aufstelle, "um sich vor dem Pöbel zu schützen", der werde "sie bald auch wirklich brauchen".

Die Primarschule - ein Kompromissangebot der CDU

Am 8. Juli 2010, zehn Tage vor dem Volksentscheid erschien, ebenfalls in der ZEIT, unter dem Titel "Weil sie es besser weiß" ein Porträt der Hamburger Bildungssenatorin Christa Goetsch, in dem Martin Spiewak wissen will, wie diese in einer streng katholischen Familie groß gewordene Professorentochter, für die "bürgerlich" nie ein Schimpfwort gewesen sei, motiviert werden konnte, sich für eine so heiß umstrittene, bei einem Teil der Konservativen tief verhasste Schulreform zu engagieren.

Schon in ihrem ersten Schulpraktikum im Frankfurter Bahnhofsviertel habe Christa Goetsch erfahren, was es heißt, ohne Privilegien aufzuwachsen. Als Haupt- und Realschullehrerin an der Theodor-Haubach-Schule, einer "Brennpunktschule" in Hamburg-Altona, an der sie 22 Jahre unterrichtete, habe sich dann ihr Sinn für Gerechtigkeit geschärft. Spiewak:

In ihrem Unterricht versammeln sich die Kellerkinder des Bildungssystems: Migranten ohne Deutschkenntnisse, Kinder von Sozialhilfeempfängern, aufmüpfige Jugendliche, die dem Gymnasium lästig waren. Dort erlebt Goetsch, "wie Schüler systematisch um ihre Möglichkeiten gebracht wurden". Sie erprobt neue Unterrichtskonzepte, paukt selbst Türkisch-Vokabeln, engagiert sich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) als Sprecherin für Migranten - lange vor der ersten Pisa-Studie, als das Thema noch niemand interessierte. Nur die Chancen ihrer Schüler verbessern sich kaum.
Erst als ihre Haupt- und Realschule die Trennung zwischen den beiden Schülergruppen aufhebt, ändert sich etwas. Plötzlich werfen die Hauptschüler ihre Lethargie ab, sie haben jetzt Vorbilder und schreiben bessere Noten - ohne die Realschüler in ihren Leistungen zu beeinträchtigen. Für Goetsch ist das ein "Schlüsselerlebnis", ihre pädagogische Erleuchtung: Gemeinsames Lernen ist möglich. (ZEIT, 8.7.2010, S.61)

Mit dieser langjährigen Erfahrung als Lehrerin macht Christa Goetsch unter dem Motto "Neun macht klug" Wahlkampf für gemeinsames Lernen bis zum Ende der Pflichtschulzeit, während ihr künftiger Koalitionspartner für ein Zwei-Säulen-Modell plädiert aus Gymnasium und einer Stadtteilschule, in der Haupt-, Real- und Gesamtsschule fusionieren sollen. Zu der Frage, wer denn in den Koalitionsverhandlungen auf die Idee einer sechsjährigen Grundschule gekommen sei, erfährt Martin Spiewak im Gespräch mit der Bildungssenatorin, dass die CDU die sechsjährige Grundschule den Grünen als Kompromiss angeboten habe, die dann als Primarschule Furore machte.

Optionen für die notwendige Schulgesetzänderung

Mit dem Volksentscheid hat sich das Kompromissangebot der CDU, die sechsjährige Primarschule, erledigt, Christa Goetsch aber will auch ohne dieses Herzstück der Reform und ohne ihren Hauptverbündeten, den Oberbürgermeister, als Schulsenatorin weitermachen. Mit welcher Perspektive? Wird es der Allparteien-Kompromiss von vor dem Volksentscheid sein, bei einer jetzt wieder vierjährigen Grundschule, oder das von Schwarz-Grün 2009 beschlossene Schulgesetz? Wird der Allparteien-Kompromiss und damit der Schulfrieden wenigstens unter den in der Bürgerschaft vertretenen Parteien bei der notwendigen Änderung des Schulgesetzes Bestand haben? Oder wird nur wieder ein Kompromiss der Regierenden zustande kommen?

Zur Erinnerung: Nach der am 7.Oktober 2009 beschlossenen Schulgesetznovelle informierte die Bildungssenatorin in einem "Schulbrief" die Hamburger Schulen über folgende zentrale Änderungen:

  • Am Ende der sechsjährigen Primarschule entscheidet die Zeugniskonferenz über die Berechtigung, das Gymnasium besuchen zu dürfen.
  • In Stadtteilschule und Gymnasium kann nach Klasse 9 der Hauptschulabschluss und nach Klasse 10 der Mittlere Abschluss (Realschulabschluss) erworben werden.
  • Beide Schulformen führen auf einem direkten Weg zum Abitur; das Gymnasium nach 12, die Stadtteilschule nach 13 Schuljahren.
  • Das Sitzenbleiben wird abgeschafft. Es gilt das Prinzip "Fördern statt wiederholen".
  • Das Abschulen wird abgeschafft. "Wer auf einem Gymnasium oder einer Stadtteilschule aufgenommen wurde, kann in den Klassen 7-10 nicht wegen mangelnder Leistung an eine andere Schulform abgegeben werden. Die Schule hat die Verantwortung, die Schülerin oder den Schüler so zu fördern, dass ein erfolgreicher Übergang in eine beruflich Ausbildung oder die gymnasiale Oberstufe möglich bleibt."
  • Gesetzlich festgeschrieben werden Obergrenzen für Klassengrößen: "an der Primarschule und der Stadtteilschule 25 Schülerinnen und Schüler, an Primarschulen in benachteiligten Stadtteilen 20, am Gymnasium 28."
  • "Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten erstmalig das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen, wenn die Eltern dies wünschen." (V.Merkelbach: Ein Volksentscheid und die Aussichten auf Schulfrieden in Hamburg: http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ April 2010, S.4)

Über diese Gesetzesnovelle gingen, als der Volksentscheid beantragt war, die Verhandlungen zwischen Schwarz-Grün und der SPD mit den vom Schulgesetz abweichenden Vereinbarungen, denen auch die Linkspartei zustimmte:

  • Am Ende der Primarschule entscheiden wie bisher am Ende der Grundschule die Eltern, in welche Schule ihr Kind geht.
  • In Klasse 7 des Gymnasiums gibt es ein Probejahr, an dessen Ende die Zeugniskonferenz über den Verbleib an der Schule entscheidet.
  • Die gesetzlich zugesicherten Klassenobergrenzen in der Primarschule werden noch einmal gesenkt: von 25 auf 23 und in sozial schwierigen Stadtteilen von 20 auf 19 Schüler/innen. (Merkelbach, a.a.O., S.5)

Neu beantwortet und gesetzlich geregelt werden muss nun allerdings, nachdem die Wahlfreiheit der Eltern beim Übergang in die Sekundarstufe I auch durch den Volksentscheid bestätigt wurde, was aus dem gymnasialen Probejahr in Klasse 7 werden soll. Unter den zahlreichen Fragen an die Schulbehörde, wie es nach dem Volksentscheid im neuen Schuljahre weitergehen soll, antwortet die Behörde auf eine besonders brisante Frage: "Bleibt es dabei, dass das Abschulen abgeschafft wird?"

Ja so ist es im gültigen Schulgesetz geregelt und diese Regelung ist vom Volksentscheid nicht betroffen. Wer die Berechtigung für den Besuch der 7.Klasse erworben hat, kann bis einschließlich Klasse 10 nicht abgeschult werden. (http://bildungsklick.de 23.7.2010).

Die Karten werden neu gemischt

Wer aber entscheidet über diese Berechtigung für den Besuch des Gymnasiums, wenn es die Primarschule am Ende von Klasse 6 nicht mehr verbindlich tut und auch das gymnasiale Probejahr in Klasse 7 sich durch den Volksentscheid erledigt hat? In dem Schulplan, mit dem die CDU in den Wahlkampf zog und in dem die Eltern am Ende der Grundschule die freie Wahl zwischen Gymnasium und Stadtteilschule hatten, war das Problem so geregelt: Bis Ende von Klasse 6 können Schüler/innen zwischen Stadtteilschule und Gymnasium wechseln; danach entscheidet das Gymnasium, wer bleiben darf oder auf eine Stadtteilschule wechseln muss.

Werden die Grünen, die vor der Wahl eine neunjährige "Grundschule" nach skandinavischem Vorbild forderten und vor der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters neu mit dem Koalitionspartner verhandeln müssen, eine solche Lösung akzeptieren? Wie wird die SPD sich positionieren, die am Fernziel der Bundes-SPD, "einer gemeinsamen Schule bis zur zehnten Klasse", festhält? Sie hat das von Schwarz-Grün beschlossene Zwei-Säulen-Modell akzeptiert unter zwei Bedingungen: Das Elternwahlrecht zwischen Stadtteilschule und Gymnasium muss erhalten bleiben und die Stadtteilschule darf nicht "zu einer Schule zweiter Wahl" herabgestuft werden; sie braucht "ein klares Profil", das sich "an den guten Profilen erfolgreicher Gesamtschulen" orientiert.

Das G8-Gymnasium wird in Hamburg, dafür sorgt spätestens die Beratung der Eltern durch die Grundschule, auch weiterhin vor allem die Schule der Schnellen und Leistungsstarken bleiben. Werden SPD, Grüne und Linkspartei nach dem Volksentscheid, in dem ein um zwei Jahre verlängertes gemeinsames Lernen verweigert wurde, akzeptieren, dass das Gymnasium das Recht behält, in den Klassen 5 und 6 die langsamen und demotivierten Kinder an die Stadtteilschule abzugeben? Und wie soll das im von Schwarz-Grün verabschiedeten Schulgesetz den Kindern mit Behinderungen verbriefte Recht, eine allgemeine Schule auch nach der Grundschule besuchen zu können, realisiert werden, wenn dieses Recht letztlich nur in der nicht mehr aussortierenden Stadtteilschule möglich ist?

Wird es den Grünen in Verhandlungen mit der CDU, und diesmal vielleicht auch im Einvernehmen mit der Opposition in der Bürgerschaft, gelingen, Rahmenbedingungen zu vereinbaren, die es der Stadtteilschule mögliche machen, mit dem Gymnasium in einen fairen Wettbewerb um das Vertrauen der Eltern einzutreten, um so auch die weiterhin privilegierte Schulform pädagogisch herausfordern zu können? Oder wird die neue Schulform unter der Last ihrer Aufgaben, vor allem in sozial schwierigen Stadtteilen, sehr bald das Schicksal der Hauptschule ereilen, wie Kritiker des Zwei-Säulen-Modells befürchten? Es bleibt spannend in Hamburg - auch nach dem Volksentscheid.

Letzte Aktualisierung: 01.08.2010