Bleibt Bayern der letzte Hort einer dreigliedrigen Schule?
Januar 2014
Probleme mit der Hauptschule
Nachdem das benachbarte Baden-Württemberg unter einer grün-roten Landesregierung mit der Einführung der Gemeinschaftsschule auf ein zweigliedriges Schulsystem zusteuert, ist Bayern das letzte Bundesland, das, ohne Gesamtschulen, an der traditionellen Dreigliedrigkeit aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium festhalten möchte, trotz der schwindenden Akzeptanz der Hauptschule auch in Bayern.
Verstärkt wurde die Hauptschulkrise in den Bundesländern seit der PISA-Studie 2000 mit ihren alarmierenden Ergebnissen der sozialen Selektion in unserem Schulsystem und dem hohen Anteil an „Risikoschüler/innen“ mit und ohne Hauptschulabschluss, die immer geringere Vermittlungschancen haben auf dem Ausbildungsmarkt in Konkurrenz zu Schüler/innen mit Mittlerem Abschluss oder Abitur. Wer will noch freiwillig sein Kind einer Schule anvertrauen, in der, neben der Sonderschule, die meisten dieser „Risikoschüler/innen“ sich versammeln?
Die Folge ist in Bayern die Schließung von immer mehr Hauptschulen und ein immenser Druck auf die Grundschule, die in diesem Bundesland noch verpflichtet ist, bis zum Ende von Klasse 4 verbindlich zu entscheiden, wer die Realschule oder das Gymnasium besuchen darf und wer in die Hauptschule gehen muss.
Ganz untätig blieb in dieser angespannten Situation das zuständige Ministerium unter dem damaligen Kultusminister Siegfried Schneider nicht. Schulexperten wurden beauftragt, schon einmal insgeheim über das Problem Hauptschule und über mögliche Problemlösungen nachzudenken. Als die Ergebnisse des Nachdenkens 2006 an die Öffentlichkeit gelangten, waren darin Sätze zu lesen wie „Hauptschulen sind eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform“ oder „Es hilft dieser Schulform nicht, wenn man unflexibel und unbeirrt an alten Hauptschulvorstellungen festhält“. Als die Grünen im Landtag aus dieser Expertise zitierten, sei es, berichtet die „Tageszeitung“ am 30.11.2006, zu einem kleinen Tumult gekommen. Der CSU-Fraktionsvorsitzende habe, um die Woge zu glätten, mitteilen lassen, niemand in der Fraktion kenne dieses Expertenpapier und die Hauptschule bleibe, „was sie immer war, die beliebteste Schule Bayerns“.
Treue Verbündete für den Erhalt der Hauptschule findet das Kultusministerium im Bayerischen Philologenverband und im Bayerischen Realschullehrerverband. Letzterer zeigt sich besonders betroffen durch den Wunsch einer wachsenden Zahl von Eltern, die Hauptschule zu vermeiden und ihr Kind wenigstens an einer Realschule unterzubringen – oder sich gar die Forderung der größten Lehrerorganisation im Land, dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) zu eigen zu machen, der seit Jahren, zusammen mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), für eine grundlegende Schulreform und ein längeres gemeinsames Lernen über die Grundschule hinaus eintritt.
(V.Merkelbach: Zur aktuellen schulpolitischen Auseinandersetzung in Bayern: www.valentin-merkelbach.de /August 2008)
Die Mittelschule als Lösung
Die CSU verlor 2008 nach Jahrzehnten Alleinregierung ihre absolute Mehrheit, konnte aber mit der FDP weiterregieren und so ziemlich ungehindert bestimmen, wie es nach der Wahl schulpolitisch weitergehen soll. Am 16.3.2009 heißt es in einer kurzen Notiz in der Frankfurter Rundschau:
Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) will die Hauptschule umbenennen. Ein Ministeriumssprecher sagte, ein neuer Name könnte treffender für das künftige Profil der Hauptschule als „berufsorientierte weiterführende Schule“ sein. Außerdem habe das Image der Hauptschulen in der Diskussion über diese Schulart „stark gelitten“.
In einer Pressemeldung des Kultusministers heißt es unter dem Titel „ Die Mittelschule – der Weg der Hauptschule in die Zukunft“:
Es ist nicht mein Ziel, nur das ‚Türschild’ an den Hauptschulen zu verändern: Mit dem neuen Namen gehen neue inhaltliche Schwerpunkte einher. Er dokumentiert auch einen neuen Anspruch. (...) Die ausgeprägte Berufsorientierung der Mittelschule bildet eine sehr gute Basis für die Aufnahme einer Berufsausbildung.
Am Ende der Pressemeldung kommt das wohl stärkste Motiv für die neue Mittelschule zum Vorschein: Kleine Hauptschulen, die nicht mehr lebensfähig sind, können sich zu „Schulverbünden“ zusammenschließen, die die Chance eröffnen, „so viele Standorte von Hauptschulen in ländlichen Regionen so lange wie möglich zu erhalten und so die Lebensqualität für die Menschen vor Ort zu sichern“.
(http://bildungsklick.de/ 30.6.2009)
Drei Monate vor der Wahl 2013 erläutert der Minister in einer Pressemeldung noch einmal, warum für ihn das „Hauptinstrument“ zum Erhalt von Schulstandorten, die Bildung von Mittelschulverbünden, die Hauptschule retten wird:
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In Mittelschulverbünden können auch Hauptschulen erhalten werden, „an denen nicht mehr durchgängig alle Jahrgangsstufen vorhanden sind“.
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In Mittelschulverbünden können auch Klassen gebildet werden, „wenn die grundsätzlich an weiterführenden Schulen vorgesehenen 15 Schüler pro Klasse nicht erreicht werden“
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Selbst Hauptschulen, „die noch nicht formell geschlossen sind, können bei veränderten Schülerzahlen und wenn dies im Mittelschulverbund gewünscht ist, neu belebt werden“.
Für den Minister gehört die Mittelschule als „stark berufsorientierte Regelschule“ auch in Zukunft „zu den Säulen des differenzierten bayerischen Schulwesens, während die Gemeinschaftsschule, die die SPD im Wahlkampf 2013 fordere, wie bereits die Gesamtschule, „die leistungsstarken Schüler nicht ausreichend fordern und die leistungsschwächeren nicht genügend fördern“ könne.
(http://bildungsklick.de/ 3.6.2013)
Gemeinschaftsschulen für Bayern
Im September 2004 erschien ein Gutachten des Schulentwicklungsforschers Ernst Rösner für die schleswig-holsteinische SPD, in dem für das Bundesland eine Gemeinschaftsschule empfohlen wurde, die seitdem, auch in einer Großen Koalition, die Schulstruktur soweit verändert hat, dass inzwischen unter einer Koalition von SPD, Grünen und dem Schleswigschen Wählerverband absehbar ist, dass die Gemeinschaftsschule zur zweiten Säule neben dem Gymnasium sich entwickelt, in der alle Abschlüsse bis zum Abitur erreichbar sind.
Ernst Rösner hat das Konzept dieser Gemeinschaftsschule auch in einem im Dezember 2010 veröffentlichten Gutachten für die bayerischen Gemeinden Denkendorf und Kipfenberg empfohlen, die die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule als Modellversuch beschlossen und bei der Landesregierung beantragt haben. In dem Gutachten heißt es, dass die beiden Gemeinden der „von der Staatsregierung empfohlenen Umstellung auf das neue Konzept der ‚Mittelschule’ nicht folgen wollen, dass diese Mittelschule „keine substanzielle Aufwertung der Hauptschule“ bedeute. Rösner:
Kein empirischer Beleg stützt die Annahme, dass mit der Einführung eines modifizierten Basisbildungsgangs in Bayern, dessen innovativstes Merkmal die neue Bezeichnung ist, die Hinwendung der Eltern zu anspruchsvolleren Bildungsgängen aufgehalten oder gar umgekehrt werden könnte. Insofern ist es vom Grundsatz her eine richtige, zeitgemäße und zukunftsweisende Entscheidung der Gemeinden Denkendorf und Kipfenberg, in schulischen Organisationsmodellen, die allen örtlichen Grundschulabgängern ein angemessenes Bildungsangebot bereitstellen, eine Alternative zu suchen.
(E.Rösner: Gutachten zur Errichtung einer Gemeinschaftsschule als Modellversuch in Denkendorf und Kipfenberg, Dezember 2010, S.7 f.)
Die bayerische SPD unterstützt die beiden Gemeinden und identifiziert sich mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule. In einem Eckpunktepapier heißt es u.a.:
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Da die Gemeinschaftsschule von vornherein auf Heterogenität setzt, also die Verschiedenheit der Schülerpersönlichkeit zum Ausgangspunkt ihrer pädagogischen Überlegungen nimmt, ist sie in besonderer Weise auf Inklusion, also auf das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen ausgelegt.
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Die Gemeinschaftsschule setzt auf längeres gemeinsames Lernen und ist damit eine Schule für alle Kinder. In der ersten Ausbaustufe wird sie als Schule der Sekundarstufe I von der fünften bis zur zehnten Klasse angeboten. Um den dramatisch angestiegenen Übertrittsdruck in der Grundschule abzumildern, verzichtet die Gemeinschaftsschule auf ein Übertrittszeugnis und schafft damit Zugang für Kinder mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Weitergehendes Ziel ist es, die Grundschule in das pädagogische Konzept einzubinden und ein eigenes Oberstufenzentrum mit Abitur anzuschließen.
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Grundlage der Gemeinschaftsschule ist der Qualitätsstandard der bayerischen Schulformen. Basis des gemeinsamen Lernens sind die Lehrpläne der Mittel- und Realschule sowie des Gymnasiums und die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Bildungsstandards. Auf einem neuen pädagogischen Lernweg können am Ende des sechsjährigen Wegs in der zehnten Klasse sowohl der qualifizierende Hauptschulabschluss mit einer intensiven berufsorientierten Ausrichtung, einer der vier möglichen Realschulabschlüssen als auch der direkte Übergang auf eine berufliche oder gymnasiale Oberstufe erreicht werden.
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Die Gemeinschaftsschule ist eine rhythmisierte Ganztagsschule.
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Die Gemeinschaftsschule soll keinesfalls die schon bestehenden Schulformen ersetzen, sondern lediglich ein zusätzliches Angebot für die bayerische Schullandschaft darstellen.
Trotz der entschiedenen Ablehnung durch das Kultusministerium will die SPD gemeinsam mit den Kommunen und den Eltern die Zulassung der ersten Gemeinschaftsschulen durchsetzen. Die SPD geht davon aus, dass der Kultusminister auf Dauer die Einführung einer gemeinsamen Schule für alle nicht ablehnen kann, wenn Kommunen und Eltern das wollen und einen fertigen Plan zur Einführung des neuen Schultyps präsentieren. (http://bildungsklick.de /5.9.2011) In ihrem Regierungsprogramm für die Landtagswahl 2013 bekräftigt die SPD ihre Position zur Gemeinschaftsschule. (S.73)
Die Grünen reagierten in einer Pressemeldung vom 30.9.2009 auf die „Umetikettierung“ der Hauptschule als neue Mittelschule. „Dieses Konzept“, erklärt der schulpolitische Sprecher, Thomas Gehring, „stoppt weder das Hauptschulsterben auf dem Lande, noch steigert es die Zukunftsperspektive der betroffenen Schülerinnen und Schüler auf dem Arbeitsmarkt“. Bayern brauche „eine echte Schulreform und kein fortgesetztes Herumdoktern an einem überkommenen Schulsystem“. Die Mittelschule löse keine Probleme, sondern erhöhe letztlich nur den „Übertrittsdruck in Klasse vier“. (http://bildungsklick.de /30.6.2009) Mit dem Mittelschulkonzept würden „die Hauptschulen lediglich noch an anfangs mehreren Standorten aufrechterhalten und nach und nach dann die kleinen, nicht konkurrenzfähigen Standorte geschlossen. Die Grünen fordern darum „eine Öffnungsklausel für die Umsetzung von vor Ort passenden Konzepten und längerfristig Schulkonzepte, die längeres gemeinsames Lernen zulassen“. (http://bildungsklick.de /10.5.2011) Mit einer Öffnungsklausel im bayerischen Schulgesetz, so Gehring, sollen „neue integrative Schulmodelle, insbesondere Gemeinschaftsschulen, auf den Weg gebracht werden können“.(http://bildungsklick.de /2.5.2012)
Das besondere Interesse der Grünen an der Gemeinschaftsschule wird in ihrem Wahlprogramm 2013 bestätigt und begründet:
Wo vor Ort gewünscht, sollen Gemeinschaftsschulen bis Klasse 10 und 12/13 entstehen, die alle Abschlüsse und Hochschulzugangsberechtigungen anbieten. In der Gemeinschaftsschule werden die SchülerInnen nach Klasse 4 nicht mehr getrennt, sondern sie lernen weiter gemeinsam und werden zugleich individuell gefördert. Das heißt: Die Landespolitik initiiert und steuert diesen Prozess, sie schafft die gesetzlichen Voraussetzungen, sie schafft – als Rahmen für die einzelnen Modelle – die Qualitätsstandards, sie setzt Zielvorgaben und sorgt mit einer zusätzlichen Ressourcenausstattung für Anreize. Innerhalb dieses Rahmens erhalten die Schulen eigene Gestaltungsspielräume. Wie man am Haupt- und Mittelschulsterben erkennt, reichen die SchülerInnenzahlen oftmals für keine weiterführende Schule mehr aus. Die Öffnung für die Gemeinschaftsschule hat für die ländlichen Räume eine besondere Bedeutung, weil wir GRÜNE klar sagen: Jede Schule braucht ihren Ort und jeder Ort braucht seine Schule. (S.74)
SPD und Grüne in Bayern wollen, ähnlich wie Grün-Rot in Baden Württemberg, keine bestehende Schulform, auch nicht die neue Mittelschule, abschaffen, wohl aber den Kommunen, auch angesichts rückläufiger Schülerzahlen, ermöglichen, eine Schule mit gymnasialen Standards einzurichten, in der alle Schüler/innen alle Abschlüsse machen bzw. nach Klasse 10 auf eine berufliche oder gymnasiale Oberstufe wechseln können.
Andere strukturelle Konfliktzonen
Inklusion
Im Juli 2011 beschloss der Bayerische Landtag mit den Stimmen aller Fraktionen ein Gesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention. Bereits im Schuljahr 2011/12 hat das Kultusministerium 41 Schulen mit einem entsprechenden Konzept zu „Schulen mit dem Schulprofil Inklusion“ ernannt. Im Schuljahr 2012/13 kamen 45 weitere Schulen hinzu, darunter neben 28 Grundschulen und 9 Mittelschulen auch 4 Realschulen und 4 Gymnasien.
Der überparteiliche Konsens im Landtag wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn SPD und Grüne auch die Frage hätten klären wollen, was längerfristig aus den Förderschulen werden soll und ob ein Nebeneinander von Förder- und Regelschulen nicht auf Dauer Inklusion schon aus finanziellen Gründen zum Scheitern verurteilen könnte.
In einer aktuellen Studie für die Bertelsmannstiftung resümiert der Bildungsökonom Klaus Klemm: „Solange das Doppelsystem aus Regel- und Förderschulen in der heutigen Form besteht, ist erfolgreiche Inklusion schwierig, weil die Förderschulen jene Ressourcen binden, die dringend für den gemeinsamen Unterricht benötigt werden.“ Selbst wenn die Mittel der Förderschulen weitgehend zu den Regelschulen umgeschichtet werden, so Klemm, wären bundesweit jährlich 660 Millionen Euro für 9300 zusätzliche Lehrkräfte erforderlich, um inklusiven Unterricht in angemessener Qualität anzubieten. (http://bildungsklick.de /18.3.2013)
Für Bayern stellt sich darum mit besonderer Dringlichkeit die Frage, welche Chancen Inklusion überhaupt hat in einem nach wie vor so ausgeprägt exklusiven System. Wenn vom Kultusministerium die Tatsache, dass unter 86 „Schulen mit dem Profil Inklusion“ sich neuerdings auch 4 Realschulen und 4 Gymnasien befinden, als Erfolg gefeiert wird, so zeigt das doch auch, wie schwer es diesen beiden Schulformen, die die Hauptschule/Mittelschule unbedingt erhalten wollen, fällt, sich der pädagogischen Herausforderung Inklusion zu stellen. Wie sollen diese Schulen Eltern gegenüber begründen, Schüler/innen mit attestiertem sonderpädagogischem Förderbedarf individuell zu fördern und ihre individuellen Lernfortschritte zu bewerten, anderen Schüler/innen ohne dieses Testat aber die Versetzung zu verweigern oder sie gar abzuschulen?
Inklusion, so ernst oder lästig sie einem auch sein mag, ist letztlich pädagogisch nur umsetzbar, das spüren Befürworter wie Gegner, in einer Schule für alle, ausgestattet mit ausreichend Ressourcen, sich um jede Schülerin und jeden Schüler individuell zu kümmern und bis zu einem möglichst qualitativen Abschluss zu führen. Dass das keine Illusion ist, zeigen bei uns, nicht nur in Finnland, bereits zahlreiche für alle Kinder offene, also inklusiv arbeitende Schulen.
Ganztagsschule
Das Kultusministerium warnt vor einer „Entmündigung“ der Eltern durch die von der SPD geforderte gebundene, also für alle verpflichtende, Ganztagsschule und weiß sich dabei einig mit der Landeselternvereinigung an Realschulen und Gymnasien. Die gebundene Form der Ganztagsschule sei nur möglich, wenn ein entsprechendes Gesamtkonzept für eine Kommune vorliege und der Elternwille berücksichtigt werde. (http://bildungsklick.de /15.1.2013)
In ihrem „Regierungsprogramm 2013-2018“ fordert die SPD für jedes Kind „das Recht auf einen gebundenen Ganztagsplatz“; denn eine gebundene Ganztagsschule sei „mehr als Nachmittagsbetreuung“. Sie organisiere „verbindlich Lern- und Übungszeiten, aber auch Arbeitsgemeinschaften und Freizeitangebote über den ganzen Schultag verteilt, sodass Schülerinnen und Schüler ausreichend Zeit und Raum für ganzheitliche Bildung und Persönlichkeitsentwicklung bekommen“. Mit der Regierung einig ist sich die SPD, dass „guter Ganztag“, also die gebundene Form, Geld kostet für zusätzliche Stunden und zusätzliches Personal. „Damit Kommunen die Anpassung der Schulräume an die Anforderungen eines guten Ganztags ermöglichen können“, will die SPD „gezielte Förderprogramme auflegen“. („Regierungsprogramm“, S.74)
Für die Grünen gehört den Ganztagsschulen die Zukunft, weil sie „einen schülergerechten Lernrhythmus“ ermöglichen und „Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf“; weil sie durch „verbesserte Bildungsangebote auch am Nachmittag“ Bildungsdefizite abbauen und „die Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg“ durchbrechen können; weil „neben dem Unterrichten auch Fragen der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen mehr an Gewicht“ gewinnen. Für die Grünen ist es allerdings nicht nur wichtig, „gebundene Ganztagsschulen in Bayern zu gestalten, sondern auch hohe Qualität aller Ganztagsangebote zu gewährleisten“. (Wahlprogramm 2013, S.71)
G8 oder G9?
Auch in Bayern ist die Unzufriedenheit vieler Schüler/innen und Eltern groß mit der verkürzten Gymnasialzeit in der Sekundarstufe I. Darauf musste der Kultusminister schließlich reagieren. Er tat das mit einem „Flexibilisierungsjahr“, das einzelnen Schüler/innen in begründeten Fällen in einem freiwilligen zusätzlichen Jahr in der Mittelstufe die Chance gibt, Schulstoff zu intensivieren, zu wiederholen oder zu ergänzen. G8, das sich bewährt habe, bleibe davon unberührt. Eine Rückkehr zu G9 lehnt der Minister entschieden ab. (http://bildungsklick.de /31.7.2012)
Die SPD fordert keine generelle Rückkehr zu G9, wohl aber eine sechsjährige Mittelstufe in der für viele Schüler/innen schwierigen Entwicklungsphase der Pubertät und danach, wie die hessische SPD, eine flexible Oberstufe, wo Schüler/innen mit klarem Ziel, Abitur zu machen, sich entscheiden können, ob sie sich dafür zwei oder drei Jahre Zeit nehmen. (http://bildungsklick.de /31.7.2012)
Für die Grünen bringt es nichts, Schüler/innen, die Gefahr laufen, G8 nicht zu schaffen, „einfach lapidar eine Art Ehrenrunde anzubieten“. Sie fordern „eine Überarbeitung der Lehrpläne, eine Verbesserung der Situation in der Mittelstufe und ganz besonders den Ausbau von Ganztagsangeboten“. Sie können sich allerdings auch wie die SPD vorstellen, „dass die Oberstufe am Gymnasium künftig in unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchlaufen wird“. (http://bildungsklick.de /9.3.2012)
Lehrerbildung
Für den Kultusminister ermöglicht die Modularisierung der universitären Ausbildung, dass sich Studierende parallel auf den Erwerb der Befähigung zum Lehramt an mehreren Schularten vorbereiten können. An einer in zwei Phasen aufgeteilten, weiterhin schulformbezogenen Ausbildung an den Universitäten und im berufspraktischen Vorbereitungsdienst soll allerdings nicht gerüttelt werden. (http://bildungsklick.de /7.7.2011)
Die Grünen bestreiten, dass sich die schulartspezifische Lehrerbildung bewährt habe. Das Lehramtsstudium, so der schulpolitische Sprecher Thomas Gehring, müsse sich „an den Aufgaben orientieren, die die Lehrerinnen und Lehrer heute in der Schule zu leisten haben, wie z.B. Inklusion“. Neben der frühzeitigen Praxisorientierung müssten „sich die verschiedenen Lehramtsausbildungen an den Alterstufen der SchülerInnen orientieren, nicht an den Schularten“. (http://bildungsklick.de /7.7.2011)
Die SPD fordert für „eine Schule, die längeres gemeinsames Lernen ohne Aussieben der Schwächeren, aber auch die Teilhabe von Kindern mit und ohne Handicaps ermöglicht“, „eine neue Lehrerausbildung“. Die SPD geht „von der Gleichwertigkeit der Lehrämter aus, sodass der Grundsatz gelten“ müsse: „kein Lehramt ohne Masterabschluss.“ („Regierungsprogramm“, S.72)
Das Übertrittsverfahren am Ende der Grundschule
In einer Pressemeldung „Übertrittsdruck vergiftet Atmosphäre an Schulen“ berichtet der Leiter der Rechtsabteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Hans-Peter Etter, wie sich die Situation an Grundschulen in Bayern aktuell darstellt. Immer öfter würden Eltern aggressiv bis ausfallend, wenn sich abzeichne, dass ihr Kind den Sprung auf ein Gymnasium nicht schaffe. Sie schlagen den Rechtsweg ein und zweifeln die Noten ihrer Kinder an. Für die Lehrer/innen bedeute dies, dass jede Note, jede Bewertung, jeder Test nach allen Seiten überprüfbar und letztlich auch unantastbar sein müsse. Im Vordergrund stünden Absicherungsbemühungen gegenüber den Eltern und nicht die Bedürfnisse der Kinder, die in diesem Alter in der Regel ein gutes Verhältnis zu ihrer Lehrkraft hätten. Durch solche Kämpfe werde jedoch nicht nur das Vertrauen zerstört, auch die Lernmotivation gehe verloren.
In derselben Pressemeldung kommt auch der Vorsitzende des BLLV, Klaus Wenzel, zu Wort, der die Erfahrungen des Rechtsexperten ins Politische wendet. „Wir wissen längst“, so Wenzel, „dass die Grundschulzeit für viele Kinder zu kurz ist, um Defizite auszugleichen“. Häufig würden „gut situierte Eltern schon bei acht- und neunjährigen Kindern mit privat finanzierter Förderung“ nachhelfen. Sozial schlechter gestellte Kinder bekämen diese Förderung nicht. Diejenigen, die es sich leisten können, schickten ihr Kind auf Privatschulen. Im Ministerium wisse man „sehr genau, was sich an den Grundschulen abspielt“. Es werde aber offenbar in Kauf genommen, „um an einer veralteten Schulstruktur festhalten zu können“. Wenzels Vorschlag zum Besseren: Den Druck vermindern könne in einem ersten Schritt die Freigabe des Elternwillens sein, „nach eingehender Beratung durch die Grundschullehrkraft“. (http://bildungsklick.de /25.4.2012)
Diese massive Kritik am Übertrittsverfahren und an der gesamten bayerischen Schulstruktur wies der Kultusminister entschieden zurück. Das Übertrittsverfahren habe „sich bewährt“ und finde „an den Grundschulen weithin Zustimmung“, zumal die Übertrittsempfehlung“ der Grundschullehrkräfte „in hohem Maße zutreffend“ sei. In der Forderung des BLLV, den Elternwillen bei der Schulwahl freizugeben, stellt der Minister mit Verweis auf Erkenntnisse der Bildungsforschung fest: „Wenn die Eltern allein, ohne pädagogische Empfehlung als Grundlage, über die Schulwahl entscheiden würden, wird dies nicht zu mehr Gerechtigkeit für unsere Kinder führen.“ (http://bildungsklick.de /25.4.2012)
Auf die pädagogische Problematik an Grundschulen geht der Minister ebenso wenig ein, wie auf die davon abgeleitete Kritik an der frühen Auslese einer „veralteten Schulstruktur“. Es geht dem BLLV, der ja die Freigabe an eine „eingehende Beratung durch die Grundschullehrkraft“ knüpft, nicht um ein mehr oder weniger an Ungerechtigkeit, sondern längerfristig um ein anderes System, in dem Kinder am Ende der Grundschule nicht aussortiert werden; es geht um eine Schule, in der, wie in der Grundschule, weiter unterrichtet und gemeinsam gelernt wird. Diese Systemkritik ist für den Minister zur Zeit allerdings noch völlig indiskutabel.
Dennoch sieht sich das Kultusministerium durch die massive Kritik genötigt, auf eine 2009 erfolgte Änderung des Übertrittsverfahrens hinzuweisen. Um den jungen Menschen gerecht zu werden und die Belastung der Kinder und ihrer Eltern zu senken, sei die Beratung von Eltern und Schülern über die Vielfalt der Schullaufbahnen intensiviert und die Verantwortung der Eltern beim Übertritt deutlich gestärkt worden, auch durch den gegebenenfalls anschließenden Probeunterricht in Mathematik und Deutsch. Erreicht das Kind jeweils die Note 4, liege die Entscheidung für den Übertritt ans Gymnasium oder an die Realschule bei den Eltern. Bei einer 5 oder 6 in einem der beiden Fächer sei es allerdings dann nicht mehr verantwortbar, dass das Kind die angestrebte Schulart zu diesem Zeitpunkt besuche. (http://bildungsklick.de /25.4.2013)
Was das Ministerium als Reform des Übertritts ansieht, mag für manche Eltern, die bereit sind, nach dem Stress der Grundschule ihrem Kind eine weitere Prüfung zuzumuten, als ein Fortschritt erscheinen. Wie aber stellt sich dieser punktuelle Test für die betroffenen Kinder dar, vor allem für die, die auch im Probeunterricht scheitern und ihre Eltern ein weiteres Mal enttäuschen müssen?
„Wer in sein Schulsystem Vertrauen hat“, so der schulpolitische Sprecher der SPD, Martin Güll, „und die Beratungskompetenz der Lehrkräfte vor allem in der Grundschule anerkennt“, der könne „auch Verantwortung an die Eltern abgeben“. Güll verweist in diesem Zusammenhang auf die weiterführende Forderung der SPD, „alternative Schulmodelle, vor allem die Gemeinschaftsschule, zuzulassen“, in der Kinder ohnehin länger gemeinsam lernen und für die die Grundschule auch nicht mehr sortieren muss, weil diese Schule allen Kindern Chancen bietet, „ihr Potenzial zu entwickeln“. (http://bildungsklick.de /2.5.2012)
Auch die Grünen kritisieren „den großen Druck auf SchülerInnen, Eltern und GrundschullehrerInnen, der durch die ‚Sortierung’ der Kinder auf drei Schularten entstehe. Für ihren schulpolitischen Sprecher im Landtag, Thomas Gehring, nimmt die „auf Noten zu einem festen Zeitpunkt fixierte Praxis der Trennung der Kinder“ keine Rücksicht auf deren Entwicklung. Nach zahlreichen Studien hängen, so Gehring, „die Übertrittschancen vom Einkommen der Eltern ab“ und zementieren so „die soziale Ungerechtigkeit des bayerischen Bildungssystems“. Zudem zeigten „die hohen Drop-out-Quoten an den Gymnasien und die hohe Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer an die Mittelschule klar, dass die ‚Sortierung’ nach der vierten Klasse offensichtlich nicht funktioniert“. Die „verpflichtende Vorgabe eines bestimmten Notendurchschnitts“ sollte darum ersetzt werden „durch die qualifizierte Beratung der Eltern durch die Grundschullehrkräfte und ein freies Elternwahlrecht“. Das generelle Ziel der Grünen aber bleibe, „dass Kinder länger gemeinsam lernen können“. Vorgeschlagen wird die oben schon genannte „Öffnungsklausel“ im Schulgesetz für „integrative Schulmodelle, insbesondere Gemeinschaftsschulen“. (http://bildungsklick.de /2.5.2012)
Ein Lagerwahlkampf
Die schwarz-gelbe Landesregierung, in der die CSU mit dem Kultusministerium den schulpolitischen Kurs bestimmte, wird unterstützt von zwei Lehrerverbänden, dem Realschullehrer- und dem Philologenverband. Neu ist, dass das andere Lager, SPD und Grüne sich inzwischen klar positioniert hat mit der gemeinsamen Forderung an die Regierung, eine Öffnungsklausel für neue, alternative Schulmodelle mit längerem gemeinsamen Lernen zuzulassen wie die von den Kommunen Denkendorf und Kipfenberg favorisierte Gemeinschaftsschule. Unterstützung erfuhr die Opposition im Landtag von einem breiten außerparlamentarischen Bündnis, das sich im „Forum Bildungspolitik in Bayern“ zusammen gefunden hat. Ihm gehören zusammen mit den beiden großen Lehrerverbänden BLLV und GEW insgesamt 46 Gruppierungen an aus dem Bereich der Vorschule und Schule, der organisierten Elternschaft und verschiedenen Jugendverbänden, die sich auf eine Reihe von „Wahlprüfsteinen“ für die im Landtag vertretenen Parteien einigen konnten. Am 6.Mai 2013 diskutierten die bildungspolitischen Sprecher der Parteien auf Einladung des „Forums“ mit Eltern, Schüler/innen und Lehrer/innen. Es ging dabei um die Fragen, was die Parteien in der Bildung besser machen wollen und wie sie zu den Wahlprüfsteinen des „Forums“ stehen. www.forum-bildungspolitik.de
Interessanter als die Antworten der Parteien, die im Wesentlichen die oben beschriebenen Positionen bestätigten, sind die Vorgaben in den Prüfsteinen, darunter vor allem drei besonders brisante, die das zwischen den beiden Lagern heftig umstrittene bayerische Schulsystem betreffen.
Im ersten Prüfstein („Ganzheitliche Bildung statt Reproduktion kognitiver Bildungsinhalte“) heißt es u.a.:
Schulen müssen vom Ausleseauftrag befreit werden. Für alle Beteiligten bringt das viele Vorteile: Schüler/innen können und dürfen sich auf die vernetzten Inhalte ihres Lernens konzentrieren. Die Lehrer/innen müssen nicht mehr einen Großteil ihrer Zeit und Energie auf Korrigieren, Durchführen und Rechtfertigen von justiziablen Notenerhebungen aufwenden. Schüler/innen können Lehrer/innen als Lernbegleiter/innen wahrnehmen und nicht als Instanz, die ihnen Lebenschancen zubilligt oder verweigert. Die Beziehungen zwischen allen Beteiligten – Eltern, Lehrer, Schüler – werden somit entlastet und kooperativ. (S.1)
Prüfstein Nr.5 („Das Dogma der starren Trennung von Schularten überwinden“):
Unsere Schullandschaft muss vielfältiger werden, entsprechend den Bedürfnissen der Gemeinden und Regionen – ein demokratischer Prozess. Anträge auf Schulversuche, die vor Ort gewünscht werden, müssen genehmigt werden, auch wenn sie nicht den bisherigen Strukturen entsprechen (z.B. Denkendorf, Kipfenberg u.a.). In andern Bundesländern wird vorgemacht, wie eine organische Schulentwicklung aussieht. Die Bildungspolitik verordnet keine einheitlichen Schulmodelle, sondern hilft den Schulen, die das wünschen, vor Ort bei der Entwicklung regional passgenauer Schulen. Hierzu müsste sich aber Bayern vom Dogma der ausschließlichen Drei- bzw. Viergliedrigkeit verabschieden und Schulentwicklung von unten zulassen. Gerade für kleinere Gemeinden ist der gemeinsame Schulbesuch ihrer Kinder und Jugendlichen bis zur 10.Klasse wesentlich, da sie sie nur so vor Ort behalten und lange Schulfahrten und leer stehende Schulhäuser vermeiden können. (S.14)
Prüfstein Nr.6 („Den Elternwillen beim Übertritt freigeben“):
Pädagogisch sinnvoll und ehrlich wäre es jedoch, wenn Eltern zusammen mit ihren Kindern die Entscheidung über den Übertritt in die weiterführende Schule treffen, nach intensiver Beratung mit Lehrpersonen, Schulpsycholog/innen und Beratungslehrkräften. Denn die Verantwortung für die Wahl der Schullaufbahn tragen letztlich die Eltern und nicht die Grundschullehrer/innen. Dies sorgt dafür, dass Grundschullehrer/innen wieder in Ruhe mit den Kindern arbeiten und Eltern deren Beratungskompetenz annehmen können. Erfahrungen aus anderen Bundesländern zeigen, dass nach Freigabe des Elternwillens die Übertrittquote auf Realschule und Gymnasium nicht signifikant gestiegen ist. (S.18)
Mit dieser klaren Positionierung der rot-grünen Opposition im Landtag und des „Forums Bildungspolitik in Bayern“ fand wohl zum ersten Mal in Bayern ein deutlich wahrnehmbarer bildungspolitischer Lagerwahlkampf statt.
Die neue Regierung
Die CSU konnte bei der Wahl im September 2013 offensichtlich nicht von der breit aufgestellten bildungspolitischen Opposition um ihre absolute Mehrheit gebracht werden und die neue Regierung sieht erst einmal keine Veranlassung, ihren schulpolitischen Kurs zu ändern. Der alte Kultusminister, Ludwig Spaenle, ist auch der neue und ist jetzt noch für „Wissenschaft und Kunst“ zuständig. Er kann seine Schulpolitik gegen alle Kritik der Opposition fortsetzen, bestärkt durch den alten und neuen Regierungschef Horst Seehofer, der in seiner Regierungserklärung der bayerischen Bevölkerung verspricht, dass die Schulen „nach Jahren der ständigen Veränderungen jetzt in Ruhe arbeiten können“ und es „in den nächsten Jahren keine neuen Schulreformen geben“ wird. Daneben soll es bis 2018 ein „bedarfsgerechtes Ganztagsangebot“ in allen Schularten geben. Die „Inklusion von Kindern mit Behinderung“ bleibt in Bayern vereinbar mit dem Wahlrecht der Eltern „zwischen Förderschule und allgemeiner Schule“. (Regierungserklärung am 12.11.2013, S.3)
Bei soviel selbstbewusstem „weiter so“ der neuen CSU-Alleinregierung stellt sich die Frage, wie lange es gelingt, die schulpolitischen Forderungen der Opposition im Parlament und außerhalb abzuwehren, um vor allem die letzte Bastion der traditionellen Dreigliedrigkeit des Schulsystems unter den 16 Bundesländern zu verteidigen. Wird das Bündnis der Opposition mit den Kommunen die Situation verändern, wenn nämlich Kommunen wie Denkendorf und Kipfenberg gar nicht mehr ihre Hauptschulen in Mittelschulverbünde retten wollen, sondern durch das Wahlverhalten der Eltern und durch rückläufige Schülerzahlen an einer Schule interessiert sind, die wohnortnah alle Abschlüsse, auch das Abitur, erreichbar macht? Bei Sicherung des Standortfaktors Schule spielen, wie das in anderen Bundesländern zu beobachten ist, parteipolitische Loyalitäten keine Rolle mehr. Es wäre dies eine Schule längeren gemeinsamen Lernens, in der auch alle Probleme des Sortierens der Grundschule sich erledigen – für die Kinder, die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer.
Was sagen nationale Leistungstests über die Qualität von Schule und Unterricht?
Warum fällt es der bayerischen Landesregierung, auch nach einem souveränen Wahlsieg, so schwer, auf ihre Kritiker zuzugehen und den Kommunen mehr Spielraum zuzugestehen bei der Gestaltung ihre Schule vor Ort? Der wichtigste Grund ist offensichtlich das gute Abschneiden der bayerischen Schüler/innen bei nationalen Leistungstests. Spätestens seit Pisa 2000 ist die immer gleiche Antwort auf Reformvorschläge der Opposition die Gegenfrage: Warum sollen wir etwas ändern, wo wir so gut sind? In der Regierungserklärung 2013 liest sich das so:
Unsere Bildungseinrichtungen stellen das Kind in den Mittelpunkt und nicht irgendeine Ideologie. Wir fördern die besonderen Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes. Daher belegen Bildungstests seit Jahren: Bayern bietet beste Bildungschancen und Bildungsergebnisse. Lernen vom Besseren heißt lernen von Bayern. (S.3)
Am 6.Juni 2013, noch vor der heißen Phase des bayerischen Wahlkampfes, erschien in der ZEIT ein Beitrag unter dem Titel: „Von Strebern und Chaoten. Bayrische Schüler können besser lesen und rechnen als Berliner Schüler. Warum ist das so? Eine Forschungsreise zu zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.“ (S.35) Der Bildungsjournalist Martin Spiewak wollte sich nicht länger damit zufrieden geben, dass bei nationalen Leistungstests immer dieselben Bundesländer die Rankings anführen und andere immer an deren Ende landen; dass Viertklässler in Bayern in einer aktuellen Vergleichsstudie in Mathematik 519 Punkte erzielten, Berliner Kinder nur 451, was dem Lernfortschritt etwa eines Schuljahres entspreche. Wir kennen, so Spiewak, „die riesigen Leistungsdifferenzen zwischen den Bundesländern“, nur eines kennen wir nicht: „die Gründe für die gewaltigen Unterschiede.“ „Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirischen Erkenntnisse vor“, zitiert Spiewak den langjährigen deutschen Leiter der Pisa-Studien, Manfred Prenzel. Auch die Kultusministerkonferenz scheine an solchen tiefergehenden Studien nicht interessiert zu sein.
Um das nicht nur zu beklagen, hat Spiewak einen Anfang machen und damit die Bildungsforschung ermuntern wollen, es ihm gleichzutun. Er hat sich von der Schulverwaltung in Berlin und München jeweils eine „durchschnittliche Grundschule“ nennen lassen, um herauszufinden, „warum die Schüler in einem Bundesland so viel besser lesen als in einem anderen“. Und „weil Extreme das Allgemeine besonders gut zeigen“, suchte Spiewak „die Antwort an den beiden Polen der Bildungsrepublik: in Berlin und München“.
Beim Leistungsvergleich der beiden Schulen helfen Spiewak statistische Werte wie „Ausgaben pro Grundschüler und Jahr“ kaum weiter. In Berlin sind die Ausgaben mit 5500 Euro höher als in München (5200). Höher ist in München mit 37 % der Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund als in Berlin (35 %). Nicht der Geburtsort der Eltern bestimme offensichtlich die Schulkarriere ihrer Kinder, sondern deren „Einkommen und Bildungsstand“. Und hier klaffe „zwischen München und Berlin ein Abgrund“. So sei die Harz-IV-Quote bei Schüler/innen in Berlin fast dreimal so hoch (34 %) wie in München (12 %).
Aufschlussreicher noch sei der Vergleich des Unterrichts, insbesondere der Kontrolle der Lernenden und der Lehrenden, zwischen der Spree- und der Isar-Schule, wie Spiewak die beiden Grundschulen nennt. Es gibt an der Isar-Schule einmal im Jahr, unangemeldet, für alle Kolleginnen und Kollegen den Besuch der Schulleiterin, bei „Schwachleistern“ öfter, und alle vier Jahre, angemeldet, den Besuch der Schulrätin. Der Wochenplan muss spätestens montags um 7:45 zur Einsicht der Schulleiterin vorliegen. Die „Spree-Pädagogen“, stellt Spiewak fest, kennen solche Kontrollen und strikten Gebote nicht, es sei denn sie haben vor 1989 im Osten der Stadt unterrichtet. Den Lehrplan verstünden Berliner Lehrer/innen eher als groben Rahmen und vom Schulrat wüssten einige nicht einmal den Namen. Nur mit Voranmeldung dürfe die Schulleiterin in den Unterricht. Dennoch:
Im chaotischen Berliner Schulklima wächst offenbar Neues und Einzigartiges, was bei Pisa nicht gemessen wird – wie etwa die Zahl der Preisträger beim Deutschen Schulpreis zeigt. Das merkt man auch im Unterricht: Zweitklässler, die einen Vortrag über Eichhörnchen halten; Schüler, die ihr Lieblingsbuch vorstellen oder ihren Stadtteil mithilfe des Internets erkunden – all das gab es bei den Besuchen an der Spree-Schule zu sehen, an der Isar-Schule nicht. In Bayern scheint man für so etwas nur selten Zeit zu haben. Hier zählt jede Minute auf dem Weg zum Grundschulabitur.(...) Spricht man mit den Eltern der Isar-Schule, reden diese ständig über den Leistungsdruck. Im Gespräch mit den Spree-Eltern fällt das Wort „Druck“ kein einziges Mal. Das liegt nicht nur daran, dass die Grundschule in Berlin sechs Jahre dauert. Hier haben – wie in den meisten anderen Bundesländern – die Eltern das letzte Wort über die weiterführende Schule ihres Kindes und nicht die Lehrer.
Zuletzt erörtert Spiewak die Frage: „Was können die Städte voneinander lernen?“ Der „Berliner Patient“ laboriere „an vielen Leiden“, die sich gegenseitig verstärkten. Mit einigen werde die Stadt leben müssen, andere, wie die „Laissez-faire-Haltung“ der Pädagogen, ließen sich sehr wohl verändern. Aber auch Bayern habe „keinen Grund zur Selbstzufriedenheit“. Zwar sorge die Schulverwaltung dafür, dass es „weniger schlechte Schulen und weniger schlechte Lehrer“ gebe als in Berlin. Allerdings verleide „der Leistungsdruck den Schülern den Spaß am Lernen“ und dabei gerate leicht aus dem Blick, „dass nur in einem freiheitlichen Klima Fantasie und Kreativität blühen“.
Martin Spiewak, der selbsternannte Bildungsforscher, beansprucht für seine Studie „nur bedingt Evidenz“; doch der Versuch zeige, „wonach die Schulforscher eigentlich Ausschau halten müssten“. Zuletzt outet sich Spiewak in einer „Fußnote“ als „befangen“; denn er habe zwei Kinder an einer Berliner Grundschule und oft wünsche er sich „mehr bayerische Verhältnisse in Berliner Klassen- und Lehrerzimmern“. Tauschen wolle er aber nicht. Er möchte nämlich „mit seinem achtjährigen Sohn keine Gespräche darüber führen, ob dieser auf dem Gymnasium das Abitur anstreben soll oder eher für die Haupt- oder Realschule geeignet ist“.
Ausblick
Die Regierungserklärung von Horst Seehofer deutet in ihrem bildungspolitischen Teil nicht darauf hin, dass die CSU nach ihrem Wahlsieg bereit sein könnte, auf die Opposition zuzugehen, die vor allem zwei zentrale schulpolitische Forderungen stellt:
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Es gibt für Kommunen, auch angesichts schwindender Akzeptanz der Hauptschule/Mittelschule und bei rückläufigen Schülerzahlen, eine Öffnungsklausel für alternative Schulmodelle vor Ort, wobei SPD und Grüne sich eine Gemeinschaftsschule nach schleswig-holsteinischem Vorbild vorstellen. Diese Schule soll dort entstehen, wo die Schulgemeinde und der Schulträger dies wollen.
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Am Ende der Grundschule wird die Wahl der weiterführenden Schule den Eltern freigegeben, nach eingehender Beratung durch die Grundschule, die damit entlastet wird von der konfliktträchtigen Aufgabe, zehnjährige Kinder drei unterschiedlich anspruchsvollen Schularten zuzuweisen.
Alle übrigen Reformvorschläge der Opposition besitzen nicht dasselbe Konfliktpotenzial. Das gilt für G8/G9, wo auch der Philologenverband mehr will als das „Flexibilisierungsjahr“ der Regierung. Oder es gibt, bei einem prinzipiellen Konsens mit der Regierunge, noch erhebliche Differenzen über den Weg, das Tempo und das Ziel der jeweiligen Reform, wie bei den finanziell aufwendigen Projekte Inklusion und Ganztagsschule. Die Strukturreform der Lehrerbildung wird erst aktuell, wenn es in Bayern, wie in fast allen Bundesländern inzwischen, neben dem Gymnasium eine zweite Schulform gibt, die auch zum Abitur führt und denselben Bildungsanspruch erhebt wie das Gymnasium, und so eine Hierarchisierung der Lehrämter, das Lehramt für die Grundschule eingeschlossen, nicht mehr begründbar sein wird.
Wann die Regierung in der zentralen Strukturfrage gesprächs- und kompromissbereit sein wird, hängt wesentlich ab von der Entwicklung der Mittelschule und wann die Regierung sich zu der Einsicht jener vom Kultusministerium eingesetzten Expertengruppe aus dem Jahr 2006 wird durchringen können, dass die Hauptschule „eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform“ ist und es nicht weiterhilft, „unflexibel und unbeirrt an alten Hauptschulvorstellungen“ festzuhalten. Die Frage wird aber auch sein, ob neben der Opposition im Landtag auch die außerparlamentarische Opposition, wie sie sich im „Forum Bildungspolitik in Bayern“ im Wahlkampf lautstark zu Wort gemeldet hat, sich vom Wahlausgang nicht wird einschüchtern lassen und den Reformdruck auf die Regierung aufrecht hält.
In einer Pressemeldung der GEW, einem wichtigen Mitglied des „Forums“, knüpft die Vorsitzende Gele Neubäcker als Reaktion auf den angekündigten Reformstopp der neuen Regierung an die zentrale Forderung des Bündnisses im Wahlkampf an. Es gehe letztlich „um eine Neudefinition schulischer Bildungsziele im Sinne eines umfassenden Bildungsbegriffs, weit über die Verwertbarkeit von Abschlüssen hinaus“. Konkret gehe es „um die Überwindung des überkommenen, zergliederten bayerischen Schulsystems zugunsten einer Schule, in der alle Kinder und Jugendlichen bis zum Ende der Pflichtschulzeit gemeinsam, erfolgreich und mit Freude lernen können“.