Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Zur aktuellen schulpolitischen Auseinandersetzung in Bayern

August 2008

Die guten bayerischen Ergebnisse der PISA-Studien haben ihren Preis. Hohe Hürden vor dem Gymnasium führen nicht nur der Realschule viele Schüler/innen zu, die in anderen Bundländern das Gymnasium besuchen. Profitiert davon hat lange Zeit auch die bayerische Hauptschule mit einem hohen Schüler/innen-Anteil, der außerhalb Bayerns vor allem Real- und Gesamtschulen besucht. Diese Situation hat sich nun ausgerechnet durch PISA auch für das deutsche PISA-Siegerland Bayern geändert. Zum einen findet auch in Bayern bei der Zuordnung zu den drei Regelschulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium die für ganz Deutschland so beschämende soziale Selektion statt. Was die bayerische Schulpolitik jedoch härter trifft, ist die im internationalen Vergleich viel zu geringe deutsche Quote an Schüler/innen mit Hochschulreife. Darin ist Bayern nun auch Spitze unter den Bundesländern mit gerade einmal 20 Prozent Abiturienten.

Was die PISA-Debatte noch öffentlich gemacht hat, ist der hohe Anteil an „Risikoschüler/innen” mit oder ohne Hauptschulabschluss, die immer geringere Vermittlungschancen auf dem Ausbildungsmarkt haben, in der Konkurrenz zu denen mit einem Mittleren Abschluss oder Abitur, und das auch in traditionellen Handwerksberufen. Dieser Trend der Abwertung der Hauptschule und des Hauptschulabschlusses macht auch vor den bayerischen Landesgrenzen nicht Halt und es hilft wenig, dass Bayern bei PISA gerade aufgrund seiner verschärften Auslese mit dem geringsten Anteil an „Risikoschüler/innen” im innerdeutschen Vergleich aufwarten kann.

Ausgelöst wurde die Hauptschulkrise bereits durch eine innerbayerische Strukturmaßnahme, die bereits vor PISA durchgeführt wurde. Bayern war, wie die ostdeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, bis Ende Klasse 6 zweigliedrig, ehe die Staatsregierung sich entschloss, Haupt- und Realschüler/innen auch bereits nach der Grundschule zu trennen. Damit verschärften sich die Probleme an Hauptschulen und begann das schleichende Hauptschulsterben, das der CSU schwer zu schaffen macht. Wer will noch freiwillig sein Kind einer Schule anvertrauen, in der im Verbund mit der Sonderschule sich die meisten der „Risikoschüler/innen” versammeln? Die Folge ist auch in Bayern ein verstärkter Druck auf die Grundschule, die ja verpflichtet ist, bis zum Ende von Klasse 4 verbindlich zu entscheiden, wer die Realschule oder das Gymnasium besuchen darf und wer in die Hauptschule muss.

„Die Hauptschule bleibt die beliebteste Schulform Bayerns”

Diese Entwicklung hatte wohl das zuständige Ministerium veranlasst, Schulexperten zu beauftragen, schon einmal insgeheim über das Problem Hauptschule und über mögliche Lösungen nachzudenken. Als die Ergebnisse des Nachdenkens 2006 an die Öffentlichkeit gelangten, waren darin Sätze zu lesen wie „Hauptschulen sind eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform” oder „Es hilft dieser Schulform nicht, wenn man unflexibel und unbeirrt an alten Hauptschulvorstellungen festhält”. Als die Grünen im bayerischen Landtag dann aus der Expertise zitierten, hat es, wie Christian Füller in der taz vom 30.11.06 berichtet, einen kleinen Tumult gegeben. Der Fraktionsversitzende der Regierungspartei habe, um die Wogen zu glätten, später mitteilen lassen, niemand in der Fraktion kenne dieses Experten-Papier und die Hauptschule bleibe, „was sie immer war, die beliebteste Schule Bayerns”.

Dieses Diktum gegen die Analyse von Experten unter Beweis zu stellen, ist seitdem eine vorrangige Aufgabe des Kultusministeriums, das nun vor der Landtagswahl in kürzer werdenden Abständen die hohe Qualität und die gesellschaftliche Notwendigkeit der bayerischen Hauptschule erklärt. In einer Pressemeldung vom 24.7.08 etwa wehrt sich der Kultusminister Siegfried Schneider gegen das zu düstere Bild von der Entwicklung der Schullandschaft, wie es der Bayerische Städtetag gezeichnet hat und weist die Prognose eines „Hauptschulsterbens” entschieden zurück. Die Hauptschule sei in Bayern eine leistungsfähige Schulart. Zwar ließen sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der Schulwahl der Eltern für ihre Kinder nicht alle 1050 Hauptschulstandorte halten, das Netz der Hauptschulen aber lege sich auch in Zukunft viel dichter über den Flächenstaat Bayern als das der Realschule und des Gymnasiums. Im Übrigen sollen auch einzügige Hauptschulen erhalten bleiben und durch enge Zusammenarbeit mit Nachbarschulen lasse sich auch in solchen Schulen ein qualitativ hochwertiges Unterrichtsangebot sicher stellen. Ähnlich wie in Hessen unter der CDU-Regierung will der Kultusminister auch die bayerische Hauptschule zu einer berufsorientierten Schule ausbauen. (http://bildungsklick.de)

Angst vor dem Ende der Hauptschule

Verbündete für den Erhalt der Hauptschule findet der Kultusminister im Bayerischen Philologenverband und im Bayerischen Realschullehrerverband, wobei letzterer sich besonders betroffen zeigt durch den Wunsch einer wachsenden Zahl von Eltern, die Hauptschule zu vermeiden und ihr Kind wenigstens an einer Realschule unterzubringen – oder sich gar der Auffassung der größten Lehrerorganisation im Land, dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen Verband (BLLV), zu eigen zu machen. Der fordert seit geraumer Zeit nichts weniger als eine grundlegende Schulreform im PISA-Siegerland. Der BLLV, in dem sich traditionell vor allem Grund- und Hauptschullehrer/innen organisieren, gehört dem in allen Bundländern aktiven Verband Bildung und Erziehung (VBE) an, der sich ähnlich entschieden wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für längeres gemeinsames Lernen einsetzt.

Während der Philologenverband weder in Bayern noch andernorts ernsthaft um den Erhalt des Gymnasiums von 5 bis 12/13 bangen muss und mit der Realschule als Zweitschule ja auch noch die Möglichkeit der Abgrenzung nach Unten besitzt, fühlt sich der Verband Deutscher Realschullehrer (VDR) auch als Bayerischer Realschullehrerverband zunehmend existentiell bedroht, wenn die Hauptschule nun auch in den alten Bundländern als Schulform, zumindest dem Namen nach, verschwindet, wie neuerdings in Schleswig-Holstein, Hamburg und Rheinland-Pfalz.

Der Philologenverband hält es für problematisch, „dass inzwischen nicht mehr alle bayerischen Lehrerverbände an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, die verschiedenen bayerischen Schularten zu verbessern” und der BLLV sich unter seiner neuen Führung „offensichtlich als Promoterin der Gesamtschule” verstehe. Über das „Etappenziel Regionalschule”, die der Verband fordere, versuche er, zur „Einheitsschule und damit zu einer höheren Einheitsbezahlung für seine Klientel” zu kommen, was er bislang nicht erreicht habe. (http://bildungsklick.de, 30.7.08).

Gereizt und polemisch wirkt im Vergleich zu dieser in der Form eher moderaten Attacke eine Pressemeldung des Realschullehrerverbandes, in der der Vorsitzende, Anton Huber, am Ende des Schuljahres 2007/08 und mitten im bayerischen Wahlkampf fragt:„Wer schützt unsere bayerischen Schüler und Lehrkräfte endlich vor Verbandsfunktionären des Volksschullehrerverbandes, die den Grundkonsens einer leistungsorientierten Schule aufgeben, um Klientel- und Parteipolitik zu betreiben?” „Wer das erfolgreichste Bildungswesen Deutschlands mit Schmutzkampagnen” überziehe, habe „den Bezug zur Realität verloren”.

Diese Leute, welche angeblich Lehrkräfte vertreten, verstehen weder etwas von Pädagogik noch von erfolgversprechenden Bildungsreformen. Für diese simple Haltung gibt es nur zwei Erklärungen: Zum einen will man wohl mit der Besoldung eines Einheitslehrers die eigene Geldbörse besser füllen, zum anderen begibt man sich ohne Scham in die Situation von Steigbügelhaltern bestimmter politischer Gruppierungen, um ab Herbst die Gesamtschule in Bayern einführen zu können. Die Kinder und ihr Schicksal spielen dabei offensichtlich keine Rolle. (http://bildungsklick.de, 1.8.08)

Für eine grundlegende Schulreform

Die wüste Polemik gilt nicht direkt den „bestimmten politischen Gruppierungen”, das sind wohl Grüne und SPD im Landtag, die in ihren Wahlprogrammen beide längeres gemeinsames Lernen fordern. Die SPD plädiert für die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre und eine Sekundarschule aus Haupt- und Realschule neben dem Gymnasium. Zensuren und das Sitzenbleiben sollen abgeschafft werden. Die Grünen fordern, wie auch in anderen Landesverbänden, eine neunjährige gemeinsame Schule, in der die individuelle Förderung des Kindes im Mittelpunkt steht, in der es kein Sitzenbleiben mehr gibt und niemand die Schule ohne Abschluss verlässt.

Der Zorn des Realschullehrerverbandes richtet sich zurecht gegen den BLLV, der den „politischen Gruppierungen” aus pädagogischer Praxis und Erfahrung die Argumente für ihre Forderungen liefert. Der Ärger mit dem regierungskritischen Verband, der als „Volksschullehrerverband” tituliert wird und damit wohl diskreditiert werden soll, dauert auch schon eine Weile, nimmt aber mit jeder neuen Pressemeldung des BLLV zu. So fordert dessen Vorsitzender, Klaus Wenzel, am 19.5.07 „eine grundlegende Schulreform”. Die Konzentration auf „Auslesediagnostik” und die Vernachlässigung von „Förderdiagnostik” führten dazu, „dass ertragreiches und nachhaltiges Lernen unter die Räder” komme. Vorzeitiges „Aus- und Umsortieren der Kinder” sei „kontraproduktiv”. Wer möchte, „dass junge Menschen Lust auf lebenslanges Lernen bekommen”, dürfe „sie nicht unter Druck setzen”, sondern müsse „sie die Erfolge ihrer Lernarbeit genießen lassen”. Individuelle Lernfortschritte dürften keine untergeordnete Rolle mehr spielen. Solange Lehrer/innen „einen Großteil ihrer Energie darauf verwenden” müssten, „die Eignung oder Nichteignung von Schülern auf einzelne Schularten zu erfassen”, solange habe ein neuer „Leistungs- und Lernbegriff” keine Chance. Die Auslese dürfe nicht länger die Hauptaufgabe der Schule sein. Jedes Kind habe einen individuellen Förderbedarf, „ob es lernbeeinträchtigt oder hochbegabt” sei. (http://bildungsklick.de)

Das ist starker Tobak für Lehrerverbände, die mit der Schulpolitik der Regierung im Kern einverstanden sind und sich nur systemimmanente Verbesserungen wünschen. Doch für den BLLV und seinen Vorsitzenden Wenzel liegt noch mehr im Argen. Die Lern- und Arbeitsbedingungen an bayerischen Grundschulen seien alles andere als paradiesisch. Kinder und Lehrer/innen stünden unter massivem Druck. „Weil viele Eltern die Übertrittsentscheidung als existentiell für die Lebensperspektive ihrer Kinder” erlebten, setze der Druck immer früher ein, nicht selten mit dem ersten Schultag. Spätestens mit Beginn der vierten Jahrgangsstufe werde „es für alle Beteiligten unerträglich” und manche Schulen berichteten vom „Übertrittskampf”, der regelmäßig tobe. Immer mehr Kinder erlebten die Schule „als Ort der Angst”.

Die Grundschule als erfolgreichste und wichtigste Schulart läuft große Gefahr, durch den Übertrittsdruck deformiert zu werden. Die Frage stellt sich, warum eine so erfolgreiche Schulart nach vier Jahren wieder aufgelöst werden muss und warum Kinder, Eltern und Lehrer diesem Druck ausgesetzt sind. (http://bildungsklick.de)

Wenn der Philologenverband unterstellt, der BLLV wolle über das „Etappenziel Regionalschule zur Einheitsschule”, so bezieht sich das auf den Appell des BLLV-Vorsitzenden an das Kultusministerium, der „Regionalen Schulentwicklung ein Chance zu geben”, um das Hauptschulsterben, das es für die Regierung allerdings gar nicht gibt, zu stoppen. Das für den Verband von Experten entwickelte Konzept sei bereits zahlreichen Bürgermeistern vorgestellt worden und stoße auf breite Zustimmung. Ziel sei es, Schulschließungen zu vermeiden und „pragmatische, qualitativ hochwertige, pädagogische Konzepte vor Ort anzubieten”. Grundlegender Gedanke der Regionalen Schulentwicklung sei „eine höchst mögliche Freiheit der Schule vor Ort”. Bürgermeister und Landräte wüssten längst, dass Schule ein wesentlicher Standortfaktor ist und deren Schließung eine Gemeinde hart trifft. (http://bildungsklick.de, 30.6.08)

Für eine Regierung, die im Kampf um föderale Zuständigkeiten gerade im Bildungsbereich sich von keiner Landesregierung übertreffen lässt, sind solche Vorschläge, Föderalismus auch im Innern zu praktizieren, wohl eine arge Provokation, die nur noch übertroffen wird, wenn der BLLV-Vorsitzende kurz vor der Zeugnisvergabe für das Schuljahr 2007/08 auch noch das Tabu Ziffernnoten bricht und für andere Formen der Leistungserhebung plädiert. Wenzel kritisiert, dass ein erfolgreicher Schulbesuch nach wie vor von Noten abhänge, obwohl diese, wie die Bildungsforschung nachweise, wenig aussagekräftig seien. Es sei nicht möglich, „individuelle Leistungs- und Entwicklungsfortschritte in Ziffern zu pressen”. Lehrer/innen würden gezwungen, „nach Fehlern zu fahnden und unterdurchschnittliche Leistungen zu diskriminieren”. Wer jedoch Vierer, Fünfer und Sechser als Rückmeldung erhalte, verliere „nicht nur schnell Mut und Selbstvertrauen, auch berufliche Perspektiven” würden „massiv eingeschränkt”.

In den Schulen drehe sich immer noch alles darum „Leistungen möglichst präzise und perfekt zu messen. In den Aufgaben, Proben und Tests werde kurzfristig angehäuftes Wissen abgefragt und die Schüler/innen „je nach Funktionsfähigkeit ihres Kurzzeitgedächtnisses” in bessere und schlechtere eingeteilt und am Ende der Grundschule verschiedenen Schulformen zugeteilt. Nach den Prüfungen werde das Gelernte dann ebenso schnell wieder vergessen. Es handle sich letztlich um reine Reproduktion von Wissen, die „nachhaltiges und anwendungsorientiertes Lernen” verhindere. Bei diesem fragwürdigen und unpädagogischen Verfahren werde übersehen, dass Jahr für Jahr Tausende Schüler/innen scheitern, die Schule ohne Abschluss verlassen, sitzen bleiben oder in eine andere Schulart abgeschult werden. Dabei seien sich alle Experten einig, dass Sitzenbleiben „eine fantasielose Verwaltungsmaßnahme ist, die keine Probleme löst und neue schafft”. Es sei darum höchste Zeit für „eine neue Lern- und Leistungskultur”, für deren Realisierung der BLLV fordert:

  • bei der Leistungsmessung individuelle Lernfortschritte in den Vordergrund stellen
  • für jedes Kind die erforderliche individuelle Unterstützung und Förderung anbieten
  • Lehrerinnen und Lehrer vertraut machen mit Diagnoseverfahren zur Ermittlung von Lerndefiziten und individualisierten Methoden, diese zu beheben
  • Lernen und Arbeiten in kleinen Gruppen sicherstellen
  • allen Kindern eine deutlich längere gemeinsame Schulzeit ermöglichen

(http://bildungsklick.de, 30.7.08)

Die Positionierung der Elternverbände

Ob die auch pädagogisch begründete Kritik des BLLV bei Eltern ankommt, bleibt abzuwarten. Noch steht die Mehrheit der Elternverbände, die sich in der „Arbeitsgemeinschaft der Elternvereinigungen” zusammengeschlossen haben, in der Strukturfrage treu und fest an der Seite der Regierung. In einer gemeinsamen Konferenz mit dem Kultusminister erklärten sie am 11.7.08:

Das gegliederte Schulwesen von der Förderschule bis zu den beruflichen Schulen ermöglicht in besonderer Weise, Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer Begabungen zu fördern. Voraussetzung hierfür ist, dass sie an der richtigen Schulart sind. (http://bildungsklick.de)

Anders als die Regierungstreuen will der 1968 gegründete Bayerische Elternverband, laut Satzung „überparteilich und überkonfessionell”, „das Interesse der Eltern wie aller Staatsbürger an einer fortschrittlichen und zeitgemäßen Erziehung und Bildung” vertreten. Die Eltern im Landesvorstand des Verbandes haben Kinder in allen Schularten. Am stärksten vertreten sind Grundschule und Gymnasium, danach die Hauptschule, auch vertreten Realschule, Sonderschule und Berufsschule. Die heterogene Gruppe von Eltern konnte sich in den „Grundpositionen” des Verbandes unter dem Stichwort „individuelle Förderung” auf folgende Zielsetzung einigen:

Individuell fördern bedeutet, Menschen Aufgaben zu stellen, an denen sie sich bewähren können. Dazu müssen Eltern, Lehrer und Erzieher das einzelne Kind betrachten. Getrennte Schulformen versuchen in Bayern, Kinder und Jugendliche zu lern- und leistungsgleichen Gruppen zusammenzufassen. Das ist eine Illusion, denn alle Kinder sind verschieden, auch wenn sie gleich alt sind oder im Übertrittszeugnis denselben Notendurchschnitt haben. Scheinbar homogene Gruppen schränken die Entwicklungschancen erheblich ein, weil sie Unterschiede unterdrücken, statt sie zu nutzen. (www.bayerischer-elternverband.de)

Auf der Basis einer solchen Positionsbeschreibung verfolgt der Verband auch ganz pragmatische Ziele. So heißt es in einer Pressemeldung der Landesvorsitzenden, Isabell Zacharias, vom 12.6.08: Der nationale Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz habe gezeigt, dass die Hauptschule keine Zukunft hat, weil sie ihre Schüler/innen nicht für den Arbeitsmarkt fit machen kann. Auch für Bayern gelte: So wie die Hauptschule sei, dürfe sie nicht bleiben; denn auch in Bayern erhielten Hauptschulabsolventen keineswegs alle einen Ausbildungsplatz. Viele landeten in oft jahrelangen Warteschleifen, weil die Wirtschaft Realschüler/innen vorziehe. Ein kleiner Teil der Hauptschüler/innen habe zwar mit dem Mittleren Abschluss bessere Chancen; die anderen aber stünden noch schlechter da. Zacharias fordert ein verpflichtendes zehntes Schuljahr für alle Hauptschüler/innen, da sie nur so für die ständig wachsenden Ansprüche der Ausbildungsbetriebe fit gemacht werden könnten. Die Verbandsvorsitzende fordert Kultusministerium und Staatsregierung auf, endlich über ihren ideologischen Schatten zu springen und Modellversuche zu genehmigen, in denen Schulleiter/innen und Kommunen an ihrer Schule Haupt- und Realschulabschluss anbieten. (http://bildungsklick.de)

Eine Lehrerin, die nicht mehr mitspielen will

Dass es neben einem bayerischen Lehrerverband, der eine andere Lern- und Förderkultur fordert, Lehrer/innen gibt, die das bereits in ihrem Unterricht mit Erfolg praktizieren, geht aus einem Bericht von Christian Bleher in der taz vom 30.7.08 hervor („Wenn die Kids zu gut sind”). Die Grundschullehrerin Sabine Czerni verfasste kurz vorm Ende des Schuljahres 2007/08 einen Brief an das Kollegium, in dem sie darlegte, warum sie alle darunter zu leiden hätten, wenn das Schulsystem Notendurchschnitte nur zu dem Zweck erzwinge, Realschulen, Gymnasien und die ungeliebten Hauptschulen zu füllen. Ihre Klasse hatte in klassenübergreifenden Vergleichsarbeiten Notendurchschnitte von 1,8 und 1,6 erreicht, was den Unwillen der Schulleitung erregte.

Die Leiterin des Schulamtes dementierte zwar, dass man von Amts wegen Notendurchschnitte vorgebe, erinnerte aber die Schulleiterin an ihre Pflicht, einem so guten Notendurchschnitt nachzuforschen. Schließlich gebe es viele Möglichkeiten direkt oder indirekt zu beeinflussen. Schon in der Schule, von der Sabine Czerni kam, hatten die guten Leistungen in einer zweiten Klasse zur Konfrontation mit dem Schulrat geführt, der sie anwies, sich in der Notenvergabe an das Niveau der Parallelklassen anzupassen.

Bleher erfährt von der Lehrerin, sie habe in den zurückliegenden zehn Jahren ihres Berufslebens an mehreren Schulen mit Erfolg gearbeitet, habe jahrelange pädagogische, psychologische und medizinische Fortbildungen absolviert, wollte besser verstehen, wie man Kinder fürs Lernen begeistern kann. Aus ihrem Plädoyer für eine andere Lern- und Bewertungskultur zitiert Bleher:

Bitte, machen wir uns bewusst, dass es hier keinen objektiven Maßstab gibt, der die tatsächliche Leistung misst! Wir erstellen Proben mehr oder weniger bewusst von vornherein unter dem Gesichtspunkt, dass der Schnitt stimmen soll, bzw. passen den Notenschlüssel im Nachhinein entsprechend an, das heißt, wir produzieren schlechte Kinder.

Kinder im Grundschulalter aber identifizierten sich mit ihren Noten und viele stellten irgendwann ihre Bemühungen ein, resignierten oder würden verhaltensauffällig. Das treffe vor allem Kinder aus sozial schwachen oder problematischen Familien und besonders die bräuchten ihre Hilfe als Lehrerin und die Aussicht auf Erfolge statt ständiger demoralisierender Rückmeldungen. Auch das Verhältnis zu den Eltern leide, wenn man denen erzähle, wie wichtig Förderung sei, andererseits aber genötigt werde, schlechte Noten zu vergeben.

Der Brief ans Kollegium hatte , berichtet Bleher, keine Konsequenzen. Zur Konferenz, auf der darüber diskutiert werden sollte, hatte sich die Schulleiterin krank gemeldet und eine Aussprache kam nicht zustande. Und nun gehe Sabine Czerni am 1.August in die Ferien mit dem Gefühl, „dass ihre fachlichen Fähigkeiten und ihr Engagement nicht wirkliche erwünscht sind”.

Dass der Brief inzwischen doch Konsequenzen hatte, war dann am 14.8. in der Sendung Monitor zu erfahren. Sabine Czerni, die in der Sendung zu Wort kam, erhielt kurz vor den Ferien vom Schulamt ein Schreiben, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie die Schule verlassen muss. Für ihre Kolleginnen und Kollegen seien ihre „Vorwürfe” „böswillige Unterstellungen” und sie werde, da „der Schulfriede nachweislich und nachhaltig gestört” sei, versetzt.

(Vgl. dazu den eindrucksvollen Erfahrungsbericht einer anderen bayerischen Grundschullehrerin: Fee Czisch: Kinder können mehr. Anders lernen in der Grundschule. München: Kunstmann 2004 )

Wie lange die Bayerische Landesregierung nach der Wahl im September in der Lage sein wird, an ihrem hochselektiven Schulsystem festzuhalten, mit all den Folgen für die pädagogische Arbeit vor Ort und für einen erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben, hängt wohl weniger von der absehbaren Opposition im Landtag ab – die ist schwach und zu uneins in dem, was sie will -, entscheidend wird der öffentliche Einfluss der organisierten Lehrer/innen und Eltern sein, die wie der Bayerische Lehrer und Lehrerinnen Verband und der Bayerische Elternverband eine grundlegende Schulreform fordern. Dabei steht in der aktuellen Debatte nicht das Gymnasium, wohl aber die Hauptschule und mit ihr die Realschule ab Klasse 5 zur Disposition.

Viel wird auch abhängen von der Entwicklung in den übrigen Bundesländern und da besonders im Nachbarland Baden-Württemberg, mit Bayern letzter Hort der reinen Dreigliedrigkeit. Dort ist durch die „Schulrebellen” aus Oberschwaben die Landesregierung erheblich unter Druck geraten. Die Rebellen sind Hauptschulleiter, die bei rapide schwindender Akzeptanz ihrer Schulform und drohenden Schulschließungen mit ihrer Forderung nach Abschaffung der Hauptschule und der Aufhebung des dreigliedrigen Schulsystems eine Welle der Zustimmung bei ihren Kolleginnen und Kollegen ausgelöst haben. Die Regierung versucht nun Druck aus dem Kessel zu lassen mit der Ankündigung, alle Hauptschulen in „Werkrealschulen” umzuwandeln. Das sind – eine baden-württembergische Spezialität – Hauptschulen, an denen Jugendliche in einem freiwilligen 10.Schuljahr auch den Mittleren Abschluss erreichen können. Ob diese als Aufwertung angekündigte Maßnahme die Hauptschule retten und die Rebellen zufrieden stellen kann, ist eher unwahrscheinlich.

 

Wie die schulpolitische Debatte nach der bayerischen Landtagswahl im September weitergeht, hängt gewiss auch davon ab, welcher Einfluss dem Thema Schulpolitik auf den Ausgang der Wahl zugeschrieben werden kann. Vielleicht sind dann doch jene Experten gefragt, die schon einmal über das Problem Hauptschule nachgedacht und wohl auch Vorschläge zu seiner Lösung gemacht haben.

Letzte Aktualisierung: 01.08.2008