Das Berliner Zwei-Wege-Modell und eine Schule für alle
Januar 2017
Nach der Landtagswahl 2006 vereinbarte die SPD mit ihrem Koalitionspartner, der Partei Die Linke, eine „Pilotphase Gemeinschaftsschule“, an deren Ende 2012/13 über eine grundlegende Reform des Berliner Schulsystems entschieden werden werden sollte. Doch schon vor dem Ende der Pilotphase beschloss der Berliner Senat ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasium und Integrierter Sekundarschule.
Pilotphase Gemeinschaftsschule
Die Pilotphase Gemeinschaftsschule war ein Kompromiss der SPD mit dem Koalitionspartner, der im Wahlkampf eine Schule für alle von 1 bis 10 gefordert hatte, während die SPD nicht geschlossen hinter einem solchen Konzept stand. Konkret sollte es um die Frage gehen, ob am Ende der Pilotphase in Berlin die Gemeinschaftsschule in der Fläche, unter Einschluss des Gymnasiums, eingeführt wird. Für Schulen, die sich an dem Pilotprojekt beteiligen wollten, wurden in einem Positionspapier „Gemeinschaftsschule Berlin“ vom 23.5.2007 folgende Bedingungen formuliert:
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die Gemeinschaftsschule umfasst alle Jahrgänge vom 1.Schuljahr bis zur Hochschulreife. Wo dies beim Übergang in die Oberstufe von der Schulgröße her nicht möglich ist, muss dieser Übergang durch eine verbindliche Kooperation mit benachbarten Schulen geregelt werden.
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Gemeinschaftsschulen sind Ganztagsschulen, über deren Organisationsform, freiwillig oder verpflichtend, die Schulkonferenz entscheidet.
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Gemeinschaftsschulen sind nicht verpflichtet, Schüler/innen anderer Schulen aufzunehmen. Das gilt vor allem für Abschulungen des Gymnasiums.
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Klassenwiederholungen finden nur auf Wunsch und im Einverständnis der Schüler/innen und ihrer Eltern statt. Die bislang für Klassenwiederholungen verwendeten Mittel stehen den Gemeinschaftsschulen anteilmäßig für Maßnahmen individueller Förderung zur Verfügung.
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Alle Kinder und Jugendliche, auch die mit Beeinträchtigungen oder mit besonderen Potenzialen (Hochbegabte), lernen gemeinsam. Es wird nicht mehr erwartet, dass alle in der gleichen Zeit das Gleiche lernen. Eine äußere Leistungsdifferenzierung als durchgängiges Prinzip findet nicht statt.
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„Inklusionspädagogik“, d.h. Grund- und Praxisfragen gemeinsamen Lernens in heterogenen Gruppen sind in Aus- und Fortbildung dauerhaft als Schwerpunkt verankert.
(www.gemeinschaftsschule-berlin.de/ 23.5.2007)
Nach dem Aufruf zur Beteiligung an der Pilotphase im Mai 2007 bekundeten 65 Berliner Schulen ihr Interesse an dem Projekt, darunter Grundschulen, Haupt-und Realschulen, Gesamtschulen mit und ohne Oberstufe, kein Gymnasium. Von diesen 65 Schulen erhielten 16 aufgrund ihres Bewerbungsantrags die Genehmigung, sich vom Schuljahr 2008/09 an an der Pilotphase zu beteiligen.
Zwei Wege zur Hochschulreife
Statt das Ende der Pilotphase mit wissenschaftlicher Begleitung abzuwarten, hatte der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, schon vor der Landtagswahl 2006 gegen den Widerstand von Bildungspolitiker/innen in der SPD-Fraktion und unter dem Druck der Gymnasiallobby entschieden, dass das Gymnasium auch in der Sekundarstufe I in jedem Fall erhalten bleibt.
Um nach der Wahl den Widerstand in der Koalition zu brechen, holte Wowereit den altgedienten Jürgen Zöllner aus Rheinland-Pfalz als neuen Bildungssenator. Zöllners Geschäftsgrundlage war nicht mehr, dass erst am Ende der Pilotphase Gemeinschaftsschule über eine grundlegende Reform des Berliner Schulsystems entschieden werde, sondern er sollte möglichst bald die eskalierenden Probleme an Berliner Hauptschulen (Rütli Schule) in den Griff zu bekommen. Nachdem zunächst nur Haupt- und Realschulen zu einer „Regionalschule“ wie in Rheinland-Pfalz fusionieren sollten, erweiterte Zöllner seinen Plan, indem er auch die zahlreichen Berliner Gesamtschulen in eine neue Schulform neben dem Gymnasium einzubringen gedachte. Am 14.7.2009 beschloss der Senat einen Gesetzentwurf für ein zweigliedriges Schulsystem. Neben dem Gymnasium wird es ab dem Schuljahr 2010/11 nur noch die neue „Integrierte Sekundarschule“ geben, in der alle Berliner Haupt-, Real- und Gesamtschulen aufgehen.
Das Gymnasium führt weiterhin nach 12 , die Integrierte Sekundarschule nach 12 oder 13 Schuljahren zum Abitur. Alle Sekundarschulen werden Ganztagsschulen. Ihre Ausstattung wird im Vergleich mit den bisherigen Haupt- und Realschulen erheblich verbessert. Sie erhalten Mittel für Erzieher/innen, Sozialarbeiter/innen und zusätzliche Lehrerstellen. Die Klassenstärke orientiert sich an der Richtgröße von 25 Schüler/innen (an Gymnasien sind es 29). Für die Schulwahl entfällt, wie bei Gymnasien, das Wohnortprinzip. Um allen Schüler/innen einen guten Übergang in die Berufswelt zu ermöglichen, bietet die Integrierte Sekundarschule das „Duale Lernen“ an, mit einem“stark praxisorientierten Unterricht in Werkstätten und in Kooperation mit Unternehmen“ .
Übergang auf weiterführende Schulen
Beim Übergang in die beiden weiterführenden Schulformen empfiehlt die Grundschule in einer „schriftlichen Förderprognose“ den Besuch einer Integrierten Sekundarschule oder eines Gymnasiums. Die Prognose erfolgt „auf Grund des Leistungsvermögens, der Lernkompetenzen, der Neigung der Schülerin oder des Schülers“ und mit Blick auf die unterschiedlichen Angebote der beiden Schulformen (Gymnasium: „intensives, hohes Lerntempo“; Sekundarschule: „günstige Personalausstattung, flächendeckender Ganztagsbetrieb, zusätzliche praxisorientierte Lernangebote“).
Mit der Information der „schriftlichen Förderprognose“ und einem „verbindlichen Beratungsgespräch“ durch die Grundschule entscheiden die Eltern, welche Schulart ihr Kind besucht.
Losverfahren bei „Überwahl“ einer Schule
Alle Schulen nehmen im Rahmen ihrer Kapazität alle angemeldeten Schüler/innen auf. Dort, wo eine Schule mehr Anmeldungen bekommt, als sie Plätze hat, schlug Zöllner zunächst vor, dass die Schule „im Rahmen eines Auswahlverfahrens bzw. eines Auswahlgesprächs mit den Eltern und der Schülerin oder dem Schüler nach transparenten, von der Schulaufsicht genehmigten gerichtsfesten Kriterien bis zu 50 Prozent der Plätze“ vergibt. Die restlichen 50 Prozent sollen durch ein Losverfahren vergeben werden. An Gymnasien ist für alle Schüler/innen das 7.Schuljahr ein „Probejahr“. Wer die Probezeit nicht erfolgreich absolviert, „wechselt auf die Sekundarschule und setzt dort in Klasse 8 seinen Bildungsweg fort“ (http://Berlin.de/sen/bwf/Pressemitteilung/ 26.5.2009) .
Nach heftigen Protesten der Opposition und der Gymnasien gegen das Losverfahren beschließt der Senat eine modifizierte Fassung des Verfahrens: In 70 Prozent der Fälle entscheidet die Schulleitung über die Aufnahme, die an Leistung, Schulprofil und einer Härtefallregelung orientiert ist. Dem Losentscheid sind dann nur noch 30 Prozent unterworfen. (bildungsklick.de/ 7.8.2009)
Wenn Integrierte Sekundarschulen, für die ja auch das Wohnortprinzip nicht mehr gilt, überwählt sind, haben auch sie die Möglichkeit, neben 10 Prozent „Härtefällen“ 60 Prozent der Schüler/innen auszuwählen und 30 Prozent durch Losverfahren zu ermitteln. Die Schüler/innen ohne Losglück werden dann Sekundarschulen mit noch freien Plätzen zugewiesen.
„Gleichwertig, wenn auch nicht gleichartig“ ?
Die beiden Schulformen als „gleichwertig, wenn auch nicht gleichartig“ zu bezeichnen, wie das Bildungssenator Zöllner getan hat (bildungsklick.de/ 14.7.2009), ist wohl eher Schönfärberei. Das Gymnasium bleibt spätestens nach Klasse 7 eine privilegierte Schule. Die Eltern erfahren bereits in der Hälfte des Probejahres, ob ihr Kind „gefährdet“ ist und können in den mit der Schule vereinbarten „Bildungs- und Erziehungsplan“ auch privat investieren, - soweit sie dazu in der Lage sind. Die Integrierte Sekundarschule hat nicht nur von Anfang an eine heterogenere Schülerschaft zu unterrichten, sondern ist nach dem Probejahr auch noch gezwungen, Schüler/innen zu integrieren, von denen das Gymnasium schon nach einem Jahr zu wissen meint, sie nicht wenigstens bis zu einem „Ersten Bildungsabschluss“ (Hautschulabschluss) fördern zu können.
Dennoch: Die Integrierte Sekundarschule hat, mit der versprochenen bedarfsgerechten Ausstattung und dem pädagogischen Knowhow der zahlreichen Berliner Gesamtschulen, gute Chancen, die schulische Situation vieler Kinder und Jugendlichen, vor allem aus sozial unterprivilegierten Familien, entscheidend zu verbessern und sie kann ihre leistungsstarken Schüler/innen auf einem direkten Weg nach 12 oder 13 Schuljahren zur allgemeinen Hochschulreife führen. Sie erhebt damit denselben Bildungsanspruch wie das Gymnasium.
Schulentwicklung nach dem Regierungswechsel 2011
Jürgen Zöllner, der mit der Landtagswahl 2011 seine Arbeit in Berlin beendete, bescherte mit seiner Schulreform der Stadt einen nahezu konfliktfreien schulpolitischen Wahlkampf und der neuen rot-schwarzen Koalition eine rasche Einigung auf die seit 2006 im weitgehenden Einvernehmen mit der Opposition beschlossene Reform. In der Koalitionsvereinbarung 2011 heißt es:
„Im Interesse eines Schulfriedens verändern wir die bestehende Schulstruktur nicht erneut. Berlin verfügt über ein leistungsfähiges zweigliedriges Schulsystem aus Integrierter Sekundarschule und Gymnasium. Reformen brauchen Zeit und Verlässlichkeit. Wir werden daher in der neuen Legislaturperiode am Schulsystem keine weiteren strukturellen Veränderungen vornehmen.“ (S.47)
Der befürchtete Run aufs Gymnasium blieb seit Inkrafttreten der neuen Schulstruktur aus. Für die Schulbehörde bestätigte sich mit den Anmeldungen für das Schuljahr 2012/13 ein Trend, dass der prozentuale Anteil des Gymnasiums abnimmt und die Akzeptanz der Sekundarschule wächst. Gymnasien verzeichnen 2012 42 Prozent der Anmeldungen (2011: 44; 2010: 45), die Integrierte Sekundarschule 58 Prozent (2011: 56; 2010: 55). (bildungsklick.de/ 22.2.2012). Auch mit den Anmeldezahlen von 2016 scheint sich der Trend zu bestätigen: Gymnasium 42,6, Integrierte Sekundarschule 57,4 Prozent. (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Pressemitteilung vom 1.3.2016)
Was diese Zahlen nicht zeigen: „Überwählte“ Integrierte Sekundarschulen sind überwiegend Schulen mit einer eigenen Oberstufe, während Schulen, vor allem in sozialen Brennpunkten und Schulen, die aus eigenständigen Hauptschulen zustande kamen, zu wenig Anmeldungen haben (Tagesspiegel, 5.3.2015). Wenn diesen Schulen nicht nur von Gymnasien nach dem Probejahr, sondern von „überwählten“ Integrierten Sekundarschulen Schüler/innen zugewiesen werden, die nach dem Losverfahren nicht an der gewählten Schule bleiben dürfen, stellt sich die Frage: Wie wird die Schulbehörde auf Dauer der Gefahr begegnen, dass neben den angesehenen Sekundarschulen die anderen Schulen zu neuen Hauptschulen werden? Müsste unter diesem Aspekt nicht dringend über das Probejahr an Gymnasien nachgedacht werden, weil die dort abgewiesenen Schüler/innen vor allem die Integrierten Sekundarschulen zusätzlich belasten, die von den Eltern zu wenig angewählt werden und noch freie Plätze haben?
Zustimmung zur neuen Schulstruktur
In einer „Berlin-Studie zur Schulstrukturreform“ unter Leitung von Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut, in der die Schulreform von 2010 bis 2017 wissenschaftlich begleitet und evaluiert wird, sollte in einem ersten Schritt erkundet werden, „wie die neue Schulstruktur und das neue Übergangsverfahren von den betroffenen Eltern und Schulen wahrgenommen werden und welche Auswirkungen die Reform auf leistungs- und sozialbedingte Disparitäten sowie die Wahl der einzelnen Schule hat“, so die Bildungssenatorin Sandra Scheeres. In der Studie wird festgestellt, dass die Umstellung auf das zweigliedrige System vom überwiegenden Teil der Lehrkräfte und Schulleitungen sowie der Mehrheit der Eltern befürwortet wird. Gleiches gelte für die Stärkung der Berufsorientierung, das Duale Lernen, sowie den flächendeckenden Ganztagsbetrieb an den Integrierten Sekundarschulen. Das Übergangsverfahren sei unter allen Akteuren entweder völlig unstrittig oder doch weitgehend akzeptiert. Die Abschaffung der Klassenwiederholungen werde allerdings differenziert betrachtet und strittig bleibe der Losentscheid. (bildungsklick.de/ 10.6.2013)
Perspektive für die Gemeinschaftsschule
Die Frage nach der Zukunft der ambitionierten Berliner Gemeinschaftsschule wird in der Koalitionsvereinbarung 2011 von SPD und CDU erst einmal so beantwortet:
„Die Pilotphase Gemeinschaftsschule wird fortgeführt und wissenschaftlich evaluiert. Schulen können auch künftig auf Grundlage eines genehmigten pädagogischen Konzepts zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt werden, wenn die Schulkonferenz im Einvernehmen mit dem Schulträger dies beschließt. Die bestehenden Ausstattungsstandards behalten wir in vollem Umfang bei.“ (S.50)
Im Schuljahr 2011/12 hat sich die Zahl der 2008/09 gestarteten Gemeinschaftsschulen von 16 auf 19 erweitert. Im Schuljahr 2012/13 waren es 21 und 2015/16 sind es 24 Gemeinschaftsschulen. Auch wenn die Pilotphase Gemeinschaftsschule, die ja 2012/13 enden sollte, in der Legislaturperiode 2011-2016 „fortgeführt und wissenschaftlich evaluiert“ wird, stellt sich doch die Frage, welche Rolle diese Schulform von 1 bis 10 bzw. 12/13 längerfristig im ansonsten zweigliedrigen Berliner Schulsystem spielen soll. Soll sie ein Experimentierfeld bleiben für die inklusive Schule, wenn eines Tages die Einsicht in Berlin mehrheitsfähig wird, dass auch ein zweigliedriges System mit einem weiterhin privilegierten Gymnasium ein gegliedertes System bleibt und Inklusion am exklusiven Gymnasium schwer zu realisieren ist?
Die Gemeinschaftsschulen wurden von Anfang an wissenschaftlich begleitet von der „Arbeitsstelle für Schulentwicklungsforschung an der Universität Hamburg“ und dem „Hamburger Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung“. Nach mehreren Zwischenberichten wird in dem im April 2016 veröffentlichten Abschlussbericht den Gemeinschaftsschulen bescheinigt, dass Schüler/innen aus unterschiedlichen sozialen Milieus „in allen untersuchten Kompetenzbereichen annähernd gleich hohe Lernzuwächse“ erreichten. Auch für Schüler/innen „mit sonderpädagogischem Förderstatus“ erweise sich „das gemeinsame Lernen als förderlich“. Sie erzielten „ungeachtet der behinderungsbedingten Lernrückstände beachtliche Lernfortschritte“.
Für die Bildungssenatorin zeigt die Studie, dass die Berliner Gemeinschaftsschulen „eines ihrer wesentlichen Ziele“ erreichen, „indem sie den Lernerfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln“. Sie werde sich dafür einsetzen, „dass das Angebot der Gemeinschaftsschulen in Berlin als besondere Ausprägung der Integrierten Sekundarschule verstetigt wird“.
Schulstufenbezogenes und inklusives Lehramtsstudium
Das schulformbezogene Berliner Lehramtsstudium sah nach der Umstellung auf ein Bachelor/Master-Studium nach einem für alle Lehramtsstudierende sechssemestrigen Bachelor einen zweisemestrigen Master für Grundschule und für Haupt- und Realschule vor, einen dreisemestrigen für Sonderpädagogik und einen viersemestrigen Masterstudiengang für das Lehramt an Gymnasien. In der Koalitionsvereinbarung von 2011 wird nun nach der Schulstrukturreform auch ein der neuen Struktur angepasstes Lehramtsstudium angekündigt, für das eine „Kommission von externem Sachverstand“ berufen werden soll. Die Kommission konnte in ihrer Arbeit von der Koalitionsvereinbarung ausgehen, dass das Masterstudium für alle Lehrämter vier Semester beträgt, - also auch für das Lehramt an Grundschulen (Koalitionsvereinbarung 2011, S. 53)
Im September 2012 stellte die Expertenkommission unter der Leitung von Jürgen Baumert und der Bildungssenatorin ihre Empfehlungen vor. Die Kommission bestätigt die Vorgabe der Koalition eines viersemestrigen Masters für alle Lehrämter. An der neuen Schulstruktur orientiert soll es nur noch drei Lehrämter geben für Grundschulen, für Integrierte Sekundarschulen/Gymnasien und für berufliche Schulen. Inklusion ist für die Kommission ein „Auftrag für alle Lehrkräfte“. Darum müssten „sonderpädagogische Kompetenzen“ „breiter in der Lehrerbildung verankert werden“. Dazu schlägt die Kommission „die Einrichtung eines Studienschwerpunktes 'Sonderpädagogik/Rehabilitationswissenschaften'“ in allen Lehrämtern vor. Das bedeutet: Studierende können das zweite Fach „durch das Studium von Behinderungsformen“ ersetzen“ und so zu „Spezialisten für bestimmte Behinderungsformen“ werden. Darüber hinaus empfiehlt die Kommission, „dass für alle Lehrämter in den Bildungswissenschaften und in den Fachdidaktiken eine sonderpädagogische Grundqualifikation aufgenommen wird“, so dass „alle Lehramtsstudierende die notwendige Basisqualifizierung“ erhalten.
„Lehrkräftebildungsgesetz“
Im „Lehrkräftebildungsgesetz“, das am 7.2.2014 in Kraft getreten ist und in dem die von der Kommission empfohlene Struktur beschlossen wurde, heißt es zur Rolle der Sonderpädagogik: Bei allen drei Lehrämtern an Grundschulen, an Integrierten Sekundarschulen/Gymnasien und an beruflichen Schulen können sich Lehramtsstudierende „auch für Sonderpädagogik entscheiden“, indem sie anstelle des zweiten allgemeinbildenden Faches „zwei sonderpädagogische Fachrichtungen wählen“.
Mit dieser gesetzlichen Regelung ist Berlin unter einer SPD/CDU-Regierung das erste Bundesland, das konsequent die Sonderpädagogik in das allgemeine Lehramtsstudium integriert und damit wohl eine wichtige Hürde bei der Umsetzung der Inklusion genommen hat. Ein ähnlicher Versuch einer stufenbezogenen, inklusiven Reform des Lehramtsstudiums ist in Baden-Württemberg 2013 gescheitert. (bildungsklick.de/ 20.06.2016)
Vor der Wahl 2016
Regierung
Die SPD sieht in ihrem Wahlprogramm keine Veranlassung, an der Strukturreform der Koalition mit der Linkspartei etwas zu ändern, zumal diese Reform im Koalitionsvertrag mit der CDU 2011 eine Bestätigung erfahren hat. „Mit der Zweigliedrigkeit im Bereich der Klassen 7 bis 10 (Sekundarstufe I) – bestehend aus Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen als einer Säule und Gymnasien als andere Säule -“ werde „Segregation in der Berliner Schule vermindert“. (S.42)
Die Gemeinschaftsschule soll „mit dem Ende der Pilotphase einen festen Platz in der Berliner Schullandschaft erhalten“. Sie soll „als Schulart im Schulgesetz“ verankert werden und dafür sorgen, „dass sich weiterhin Schulen aller Schularten bewerben können, Gemeinschaftsschulen zu werden“. Auch das mit der CDU vereinbarte stufenbezogene, inklusive Lehramtsstudium soll unverändert bleiben. (S.43)
Damit „kein Kind verloren“ gehe, will die Partei mit einem „Bonusprogramm“ Schulen „in sozialen Brennpunkten“, das sind wohl in erster Linie Grundschulen und Integrierte Sekundarschulen, „finanziell und personell besonders gut ausstatten“, da in diesen Schulen „die Bedingungen für Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler aufgrund der sozialen Lage schwieriger“ seien „als anderswo“. (S.44)
Nachdem die CDU in den zurückliegenden fünf Jahren als Partner der SPD alle Strukturreformen der rot-roten Vorgängerregierung mitgetragen hat, fällt es ihr sichtlich schwer, sich in ihrem Wahlprogramm schulpolitisch zu profilieren. Immerhin habe sie nach Jahren des „Reformfiebers“ „den Berliner Schulen eine Phase der Ruhe und Konsolidierung gegeben“ und sich „erfolgreich dafür eingesetzt, das seit 2010 bestehende Zwei-Säulen-System aus Integrierter Sekundarschule und Gymnasium keinen weiteren Veränderungen zu unterziehen“ (S.12 f.), was die Partei jedoch nicht hindert, an einer der beiden Säulen doch wesentliche Veränderungen vorzunehmen. Die Integrierte Sekundarschule habe „ihre Bestimmung, alle Schüler zu einem Abschluss zu führen, verfehlt“, da nach wie vor „11 Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss“ verließen. Darum will sie „die einseitige Fixierung auf das Abitur beenden“, „den Weg zu berufsbildenden Abschlüssen aufwerten“ und erreichen, dass die „Lehrerressourcen“ „stärker als bisher für die Förderung praxisbegabter Schüler und für gezielte Heranführung an Ausbildungsberufe eingesetzt werden“. (S.14)
Opposition
Die Linkspartei beansprucht in ihrem Wahlprogramm wohl zurecht, in der Koalition mit der SPD „mit der Einführung der Gemeinschaftsschule den Anstoß für die Schulreform“ gegeben zu haben, mit dem Ergebnis, dass „endlich die Hauptschule in Berlin abgeschafft wurde“ (S.26). Gymnasien, die auf das Sitzenbleiben und das Probejahr verzichten, sollten dieselben Rahmenbedingungen erhalten wie Integrierte Sekundarschulen. (S.28)
Die Grünen, die in der rot-roten Reformphase und in der Großen Koalition in der Opposition waren, sind in ihrem Wahlprogramm mit der Strukturreform einverstanden. Wenn aber die Integrierte Sekundarschule neben dem Gymnasium „keine Schule zweiter Klasse sein soll“, müsste in allen Schulen der Weg zum Abitur „mit einer eigenen gymnasialen Oberstufe oder in Schulverbünden“ geebnet werden. Die Gymnasien sollen in die Lage versetzt werden, „zukünftig alle Schüler/innen zu einem Abschluss zu bringen, um das Probejahr und das Sitzenbleiben abzuschaffen. (S.16)
„Wir halten an unserem Ziel fest, eine Schule für alle zu schaffen. Die erfolgreichen Gemeinschaftsschulen in Berlin zeigen, wie man diesen Weg mit Schüler/innen, Lehrer/innen und Eltern gehen kann. Wir wollen Schulen ermutigen, sich in Gemeinschaftsschulen umzuwandeln. Damit ist auch klar, dass die Schule der Zukunft die inklusive Schule ist, in der alle Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren physischen und psychischen Voraussetzungen gemeinsam lernen. Das geht nur mit genügend Geld und qualifiziertem Personal.“ (S.16)
Abgesehen von dem Versuch der CDU, bei einem entsprechenden Wahlausgang vielleicht doch noch aus der Integrierten Sekundarschule eine berufsorientierte Haupt-und Realschule zu machen, spielte die Reform der Schulstruktur und des Lehramtsstudiums im Wahlkampf 2016, wie schon vor der Wahl 2011, keine Rolle mehr.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
Die GEW, der größte Berliner Lehrer/innen-Verband, hat in ihrer Broschüre „Gute Bildung braucht gute Arbeitsbedingungen“ ihre Position zur Wahl 2016 formuliert. Sie fordert bei stetig gestiegener Arbeitsbelastung durch vielfältiger und anspruchsvoller gewordene Aufgaben „eine Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung für alle Lehrkräfte“ („individuelle Förderung“, „Ganztag“, „inklusive Schule“, „Sprachförderung“). Sie fordert darüber hinaus entschieden mehr Anstrengungen bei der Schulsanierung. (S.10 – 14)
Die Schulstruktur, einschließlich der Reform des Lehramtsstudiums, ist für die Gewerkschaft kein Anlass zur Kritik im Wahlkampf. Sie fordert aber, was die SPD in Aussicht stellt, dass die Gemeinschaftsschule, der es, wie die wissenschaftliche Begleitstudie bestätige, „deutlich besser als allen anderen Schulen“ gelinge, „den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln“, „als eigenständige Schulform gestärkt und im Schulgesetz verankert“ werde. Ja, neue Schulen sollten „grundsätzlich als Gemeinschaftsschulen gegründet werden“. (S.14)
Schulpolitik im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag
Bei der Wahl im September 2016 wurde die Koalition aus SPD und CDU abgewählt. Durch den Einzug der AfD ins Parlament gab es nur die Option einer Drei-Parteien-Koalition aus SPD, der Linkspartei und den Grünen.
Die neue Koalition will „das bestehende zweigliedrige Schulsystem sozial gerechter, leistungsfähiger und inklusiver gestalten“, die „Schulen des längeren gemeinsamen Lernens“ dabei besonders unterstützen und alle Schulformen so weiterentwickeln. „dass sie die Heterogenität ihrer Schüler/innen positiv aufnehmen“. (S.10)
Heißt dieser letzte Hinweis, dass auch Gymnasien in die Lage versetzt werden, was vor allem die Grünen vor der Wahl forderten, „zukünftig alle Schüler/innen zu einem Abschluss zu bringen, um das Probejahr und das Sitzenbleiben abzuschaffen“, damit durch das „Abschulen“ nach Klasse 7 die Integrierte Sekundarschule nicht zu einer „Schule zweiter Klasse“ wird? Ist die unkonkrete Formulierung so gemeint oder war die SPD nicht bereit, ihr Zöllner-Modell mit dem Probejahr zu korrigieren?
„Für die Akzeptanz einer Schule“, heißt es im Koalitionsvertrag, „ist die Schul- und Unterrichtsqualität ebenso maßgeblich wie die Aussicht, die allgemeine oder berufsbezogene Hochschulreife erwerben zu können“. Deshalb will die Koalition an allen Integrierten Sekundarschulen „den Weg zum Abitur ebnen und sie dadurch stärken“. Wo eine Integrierte Sekundarschule keine eigene Oberstufe haben kann oder will, setzt die Koalition verstärkt „auf leistungsfähige Verbundmodelle mit allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden Schulen“ sowie auf „umfassende Beratung der Grundschuleltern und eine bessere Sichtbarkeit der Verbundlösungen“ (S.14). Auch soll, was die SPD vor der Wahl ankündigte, das „Bonus-Programm“ für „Schulen in belasteten Sozialräumen“ weiterentwickelt werden. (S.12)
Was die drei Koalitionäre schon vor der Wahl ankündigten, die Gemeinschaftsschule über das Ende der Pilotphase hinaus zu erhalten, soll nun umgesetzt werden. Die Koalition will die Gemeinschaftsschule „qualitativ und quantitativ weiterentwickeln und ein Förderkonzept erarbeiten, um die Gründung von neuen Gemeinschaftsschulen attraktiver zu machen“. Die Gemeinschaftsschule werde „als schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund-, und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen“. Die Bezirke sollen „bei notwendigem Schulneubau“ bei Neugründungen von Gemeinschaftsschulen besonders unterstützt werden. Die wissenschaftliche Begleitung werde fortgesetzt, „auf die Grund- und Oberstufe und die Übergänge erweitert und als Beratung und Unterstützung für die Schulentwicklung erhalten“ bleiben. (S.14)
Die neue Koalition will mit solchen Maßnahmen die Gemeinschaftsschule offensichtlich zum Prototyp einer inklusiven Schulform weiterentwickeln, der auf die anderen Schulformen, die sechsjährige Grundschule, die Integrierte Sekundarschule und das Gymnasium, ausstrahlen soll.
Die Pilotphase Gemeinschaftsschule begann mit dem Schuljahr 2008/09. An ihrem Ende 2012/13 sollte über eine grundlegende Reform des Berliner Schulwesen entschieden werden. Mit dem Zwei-Wege-Modell, im Juli 2009 beschlossen, erschien die neue Schulform zunächst wie ein Auslaufmodell. Sie hat sich jedoch durch ein überzeugendes pädagogisches Konzept, das ihr auch die wissenschaftliche Begleitung bescheinigte, so sehr stabilisiert und Anerkennung verschafft, dass sie allein durch ihre Existenz das Nachdenken über eine grundlegende Reform des nach wie vor gegliederten Berliner Schulsystem zu stimulieren vermag. Sie braucht keinen Losentscheid bei der Aufnahme der Kinder und kein Probejahr und sie verzichtet auf jede Form von Exklusion.