Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Kommt es jetzt auch bei uns auf den Anfang an?

Anmerkungen zum „Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen“

Januar 2006

Eine neue Aufmerksamkeit für frühkindliche Bildung

Die schulpolitische Forderung, die seit PISA 2000 wieder auf der gesellschaftlichen und zunehmend auch auf der politischen Tagesordnung steht, ist, dass das so oft beschworene Grundrecht auf Bildung nach allem, was wir inzwischen aus der internationalen Schulforschung wissen, das gemeinsame Lernen über die Grundschule hinaus bis zum Ende der Schulpflicht sein sollte. Doch auch diese Schule gemeinsamen Lernen trägt schwer an dem, was sich in der besonders bildsamen Zeit vor Schulbeginn in unterschiedlichen sozialen Milieus als „kultureller Habitus“ entwickelt hat und das Lernen in der Schule nachhaltig beeinflusst. Das ist zwar auch in einer intakten demokratischen Gesellschaft nicht zu vermeiden, möglich aber ist unter dem Postulat von Bildungsgerechtigkeit, dass es für alle Kinder einen gebührenfreien Platz in einer Kindertagesstätte gibt. Das ist unter dem Betreuungsaspekt und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf keine neue Forderung; sie wird aber bislang zu wenig unter dem Aspekt von Bildung gesehen und diskutiert. (V.Merkelbach: Bildungsgerechtigkeit beim Erwerb von Lesekompetenz. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/)

Wenn nach der Veröffentlichung von PISA 2000 ein regelrechter Bildungstourismus zu den so erfolgreichen Schulen in Skandinavien einsetzte und viele die integrierten Systeme dort mit ihrer Philosophie, kein Kind zurückzulassen, kein Kind zu beschämen, bewunderten, so war dabei kaum ein Thema, auf welch solidem Fundament vorschulischer Bildungseinrichtungen diese Systeme im Norden Europas aufbauen können.

Das ist für den dänischen Soziologen Gösta Esping-Andersen ein entscheidender Grund, warum es in skandinavischen Ländern soviel besser als bei uns gelingt, mit dem Problem der „sozialen Vererbung“ und ihrer Verstärkung durch die Schule fertig zu werden, - besser auch als in England und in den USA, wo es auch lange schon kein gegliedertes Schulsystem mehr gibt. Dass die Lebenschancen von Kindern nicht nur durch ihre genetische Mitgift determiniert sind, sondern durch das, was sie, bevor sie in die Schule kommen, erfahren und lernen, ist für Esping-Andersen auch ein Grund, warum ein ganzes Jahrhundert der Schulreform in Deutschland es nicht vermocht hat, die Wirkung „sozialer Vererbung“ nachhaltig zu mindern. Dafür seien, wie zahlreiche empirische Studien zeigten, nicht nur familiäre Armut und das Fehlen materieller Mittel schuld, um in die Zukunft der Kinder zu investieren, vielmehr spreche viel dafür, dass kulturelle Faktoren ebenfalls die kognitive, emotionale und sprachliche Entwicklung stark beeinflussten.

Wenn das so ist, wenn auch „kulturelles Kapital“ einen großen Einfluss hat, müsse der Kampf um soziale Gerechtigkeit „zugleich die Ungleichheit der kulturellen Ressourcen angreifen“. Gefragt sei eine Politik, „die den Einfluss ungleicher kultureller und kognitiver Ressourcen selbst beeinflusst“. Dass die skandinavischen Länder im Vergleich zu Deutschland, Großbritannien oder den USA einen erheblichen Rückgang in Sozialvererbung verbuchten, liege zum einen in der offensichtlich erfolgreichen Anstrengung zur Reduzierung von Kinderarmut, ein anderer wichtiger Grund sei das langfristig entwickelte Angebot von Bildungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter. Bei nahezu ausgeschöpften weiblichen Erwerbsquoten quer durch alle Bildungsgruppen profitierten „die Kinder aus wirtschaftlich und/oder kulturell schwächeren Haushalten grundsätzlich von denselben pädagogischen Standards und kognitiven Impulsen wie Kinder mit privilegiertem Hintergrund“. (G.Esping-Andersen: Aus reichen Kindern werden reiche Eltern. Vorschläge, wie die Politik dem Phänomen der sozialen Vererbung entgegensteuern kann. In: Frankfurter Rundschau, 20.12.04, S.7)

Ein ambitionierter hessischer Plan aus Bayern

Der hessische „Bildungs- und Erziehungsplan“ mit der Überschrift „Bildung von Anfang an“ liegt vor als „Entwurf für die Erprobungsphase“ (Stand: August 2005). Verfasst ist er im Auftrag des Hessischen Sozialministeriums und des Kultusministeriums von Wassilios E. Fthenakis (Projkektleiter), Dagmar Berwanger und Eva Reichert-Garschhammer vom Staatsinstitut für Frühpädagogik, München.

Dass ein bayrisches Institut mit dem Projekt beauftragt wurde und nicht z.B. das nahegelegene Frankfurter Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe wird im Vorwort der zuständigen Ministerinnen, Silke Lautenschläger und Karin Wolff, mit einem Kooperationsvertrag zwischen Bayer und Hessen begründet, „der es beiden Ländern ermöglicht, ihre Arbeitsergebnisse zu bündeln und Synergieeffekte umzusetzen“.(S.21) Der hessische Plan basiert, wie dem Anhang zu entnehmen ist, auf einem „Bayrischen Bildungs- und Erziehungsplan“ aus dem Jahr 2003.(S.132)

Eine nicht nur politische, sondern sachliche Begründung für die Vergabe des Auftrags an das bayrische Institut könnte sein, dass es in Hessen ein entsprechendes Institut für Frühpädagogik nicht gibt. Indertat bilden die hessischen Universitätsinstitute für Elementar- und Primarstufenpädagogik Primarstufenlehrer/innen und keine Erzieherinnen aus, so dass sich ihr Lehr- und Forschungsprogramm vor allem an diesem Ausbildungsauftrag orientiert.

Der Plan ist allerdings gedacht für Kinder bis 10 und für das Alter von 6/7 bis 10 kämen die drei hessischen Institute in Frankfurt, Gießen und Kassel als Kooperationspartner des bayrischen Instituts schon in Betracht. Es gibt neben den drei Autor/innen eine „Fachkommission mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen“, die im Auftrag der beiden Ministerinnen den Plan „mitbegleitet“ haben (Vorwort der Ministerinnen). In der Kommission, deren Vorsitzender der Projektleiter Fthenakis ist, finden sich Vertreter/innen der beiden Ministerien, der Freien Wohlfahrtsverbände, von Lehrer/innen-Organisationen, Staatlichen und Städtischen Schulämtern, von Fachschulen für Sozialpädagogik usw. Neben den drei Wissenschaftler/innen für Frühpädagogik findet sich allerdings keine einzige Expertin und kein einziger Experte für Grundschulpädagogik, von denen es in Hessen eine ganze Reihe profilierter gibt.

Was bedeutet das für einen „Bildungs- und Erziehungsplan von 0 bis 10“, der „Kindertageseinrichtungen und Schulen“ „zu einem aufeinander aufbauenden Bildungssystem“ zusammenführen soll? (Vorwort der Ministerinnen)

Der Plan ging nach einer Anhörungsphase, deren Ergebnisse zusammenfasst dargestellt werden (S.6 ff.), mit Beginn des Kindergarten- und Schuljahres 2005/06 in die Erprobungsphase. An 128 Standorten haben „die beteiligten Einrichtungen und Grundschulen, die Fachkräfte und die Eltern die Möglichkeit, die konkrete Umsetzung dieses Orientierungsplanes auf Einrichtungsebene zu erproben, Erfahrungen mit den unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zu sammeln und Anregungen für die Weiterentwicklung zu geben“. (S.5)

In seiner Einleitung verweist der Projektleiter auf nationale und internationale Debatten „über eine Neubewertung früher Bildung, die u.a. durch Ergebnisse der entwicklungspsychologischen, neurowissenschaftlichen und der erziehungswissenschaftlichen Forschung ausgelöst“ worden sei. „Vor dem Hintergrund des politischen Anspruchs, jedem Kind, von Anfang an, optimale Entwicklungs- und Lernchancen zu bieten“, erhielten Fragen nach der Realisierung dieses Anspruchs „neben der fachlichen auch politische Aktualität“ (S.22). In dem Plan würden Kindertageseinrichtung und Grundschule aufgefordert, „die gleichen Grundsätze und Prinzipien anzuwenden, wenn es um Bildung geht“. Zurückgewiesen werde die bisherige Auffassung, „der zufolge die Tageseinrichtungen und die Grundschulen unterschiedlichen bildungstheoretischen und – philosophischen Grundsätzen folgen sollten“.

Die Kontinuität in den Bildungszielen wird erreicht durch die Konzentration auf individuumszentrierte Kompetenzen und Ressourcen sowie auf solche Kompetenzen, die ein verantwortungsvolles Handeln im sozialen Kontext ermöglichen. Es sind demnach dieselben Kompetenzen, die auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus und in unterschiedlichen Lernorten zum Gegenstand von Bildung werden.“ (S.22 f.)

Im ersten Teil des Plans („Grundlagen und Einführung“) wird die „Notwendigkeit eines (neuen) Bildungs- und Erziehungsplans“ begründet. Beschrieben werden „tiefgreifende gesellschaftliche und familiale Veränderungen“, die Hessen veranlassen, „neue, zukunftsweisende Bildungskonzepte zu entwickeln“ (S.25). Hessen folge damit der Auffassung, „dass es viel sinnvoller ist, frühzeitig grundlegende Bildungsprozesse zu stärken“ (S.27). Im Plan werde „in hohem Maße berücksichtigt, dass Kinder in einer Umgebung aufwachsen, die durch das abendländische, humanistische und christliche Welt- und Menschenbild geprägt ist“. Ebenso werde jedoch berücksichtigt, „dass Familien und Kinder mit einem unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergrund am Bildungsgeschehen beteiligt sind“. Ihnen werde „mit hohem Respekt und Anerkennung begegnet“. Die Unterschiede seien „als Chance und Bereicherung zu betrachten“.(S.29)

Kinder lernen viel von anderen Kindern. Aus den sozialen Beziehungen und individuellen Unterschieden der Kinder ergeben sich wichtige Lerngelegenheiten (z.B. gemeinsames Reden und Tun, gegenseitige Unterstützung, Vorbildwirkung älterer auf jüngere Kinder), über gemeinsame Interaktionen werden bedeutsame Lernprozesse ausgelöst. (S.35).

Unter dem Stichwort „soziale Integration“ heißt es für Vorschule und Grundschule:

Bildungseinrichtungen stehen in der Verantwortung, sozialer Ausgrenzung angemessen zu begegnen und allen Kindern faire, gleiche und gemeinsame Lern- und Entwicklungschancen zu bieten. Das Konzept der integrativen Bildung und Erziehung sieht vor, dass alle Kinder, d.h. deutsche Kinder, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit Behinderung, Kinder mit erhöhten Entwicklungsrisiken und Kinder mit besonderen Begabungen, nach Möglichkeit dieselben Bildungseinrichtungen besuchen und gemeinsames Leben und Lernen erfahren. (S.38)

Dem grundlegenden ersten Teil folgt der Hauptteil („Bildung und Erziehung für Kinder von 0 bis 10 Jahren“), der auf einem ähnlichen bildungstheoretischen Niveau den integrativen Plan ausformuliert unter Stichworten wie „Stärkung der Basiskompetenzen und Ressourcen des Kindes“, „Kommunikationsfreudige und medienkompetente Kinder“, „Kreative, fantasievolle und künstlerische Kinder“ usw. Unter dem Stichwort „Umgang mit individuellen Unterschieden und soziokultureller Vielfalt“ heißt es:

Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels sind Kindergruppen in den Bildungseinrichtungen vielfältiger geworden. Die Unterschiedlichkeit betrifft nahezu alle Merkmale der kindlichen Entwicklung, von sozialen und kulturellen Erfahrungen, intellektuellen und sprachlichen Voraussetzungen, der Lern- und Leistungsmotivation bis hin zur emotionalen Entwicklung. Bildungssysteme in Deutschland sind jedoch auf eine weitgehende Homogenität der Gruppen ausgerichtet. Dies betrifft neben der Lern- und Leistungsfähigkeit vor allem das Alter der Kinder. Der konstruktive Umgang mit Heterogenität, der auf differenziertes und individuelles Eingehen auf die Kinder abzielt, bietet erhebliche Chancen. (S.51)

Unter dem Stichwort „Kinder mit verschiedenem sozioökonomischen Hintergrund“ wird auf die Lebensbedingungen verwiesen, die in Deutschland zunehmend auseinander gingen. Eine „wachsende Minderheit“ von Kindern werde in Armutsverhältnissen groß und „eine steigende Zahl von Kindern“ lebe „in sehr wohlhabenden Familien“.

Familiäre Armut kann die aktuelle Lebenssituation der betroffenen Kinder als auch ihre zukünftigen Lebenschancen gravierend negativ beeinflussen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Familien nicht nur auf sehr geringe finanzielle Ressourcen zurückgreifen können, sondern durch eine kumulative Unterversorgung in weiteren zentralen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Gesundheit, soziale und kulturelle Teilhabe, belastet sind. (S.56)

Neben der Integration von armen und wohlhabenden Kindern in Vorschule und Grundschule fordert der Plan auch die Integration von behinderten (S.59 f.) und hochbegabten Kindern. Zu Letzteren heißt es u.a.:

Das Miteinander mit Kindern unterschiedlichster Begabungsausprägungen bietet vielfältige Möglichkeiten, die soziale Kompetenz zu stärken, und beugt so einer Isolation und Außenseitertum vor. Die Grundschulen bieten eine durch Individualisierung und offene Arbeitsweise gekennzeichnete Unterrichtsorganisation, in der hochbegabte Kinder auf eine auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen abgestimmte Weise optimal gefördert werden können. (S.61)

Realisierungschancen

Was von den Autor/innen vorgelegt wurde, ist ein pädagogisch anspruchsvoller Plan für ein integratives Bildungssystem bis zum Ende der Grundschule. Er ist als Entwurf für eine Erprobungsphase formuliert und wird dort, wo er ernsthaft erprobt wird, gewiss auch seine Wirkung tun. Was diesem bildungstheoretisch überzeugenden Text allerdings fehlt, ist eine bildungspolitische Einschätzung seiner Realisierbarkeit im Blick auf die aktuellen hessischen Verhältnisse. Wo dies ansatzweise versucht wird, etwa in den beiden Abschnitten „Vorbereitung auf und der Übergang in die Grundschule“ (S.108 ff.) und „Vorbereitung auf und Übergang in weiterführende Schulen“ (S.111 ff.), zeigt sich, dass die Autor/innen ihren integrativen Plan mit dem zentralen Gedanken der sozialen, kulturellen und leistungsmäßigen Heterogenität der Gruppen desavouieren, indem sie ihn für vereinbar halten mit dem selektiven System, das ja nicht erst am Ende der Grundschule beginnt.

Zum Übergang in die Grundschule wird darauf verwiesen, dass diese neue Phase im Leben der hoch motivierten Kinder „mit Unsicherheit“ einhergehe. Wenn sie jedoch „auf vielfältige Erfahrungen und Kompetenzen aus ihrer Zeit in einer Tageseinrichtung zurückgreifen“ könnten, seien „die Chancen hoch, dass sie dem neuen Lebensabschnitt mit Stolz, Zuversicht und Gelassenheit entgegensehen“. Was die Schulfähigkeit eines Kindes betrifft, gehe es darum, „den Blick nicht mehr lediglich auf einen bestimmten Zustand des Kindes in seinem Sozial- und Leistungsverhalten zu richten, der zum Zeitpunkt der Einschulung vorausgesetzt“ werde, sondern der Blick richte sich „gleichermaßen auf den Bewältigungsprozess des Kindes bei seinem Übergang zum Schulkind und dessen Begleitung“. Dies erfordere, „dass die pädagogischen Fachkräfte in den Tageseinrichtungen und Grundschulen ihr professionelles, kooperatives Handeln bezogen auf das einzelne Kind intensivieren“. (S.108 f.)

Spätestens hier stellt sich die nüchterne Frage, was denn die Kinder erwartet, die aus finanziellen, kulturellen Gründen, aus Platzmangel in den Einrichtungen oder aus einem anderen Grund nie eine Tageseinrichtung erlebt haben und dazu häufig in armen, bildungsfernen Elternhäusern aufgewachsen sind. Dieser Plan setzt eine Situation voraus, zu deren Realisierung es eines enormen gesellschaftlichen Kraftaktes bedarf, um möglichst allen Kindern von 0 bis 6/7 eine so eindrucksvoll konzipierte vorschulische Bildung zukommen zu lassen, damit für alle „die Chancen hoch“ sind, „dass sie dem neuen Lebensabschnitt mit Stolz, Zuversicht und Gelassenheit entgegensehen“.

Was für die vorschulischen Institutionen noch gilt, dass sie dem vorliegenden Plan entsprechend integrativ arbeiten können, trifft für die Grundschule nur noch bedingt zu. Schon beim Schuleintritt gibt es mit den Zurückstellungen eine erste Auslese, die mit Enttäuschung für das Kind und die Eltern verbunden ist und es gibt in wachsendem Maße „Gestattungen“ für Eltern, die ihr Kind an der „schwierigen“ Grundschule des Wohnbezirks vorbei in eine „unbelastete“ Schule schicken möchten, was schon zu Schulbeginn zu wachsender sozialer Segregation und Gettoisierung von Grundschulen führt. Es gibt das Nichtversetzen und die Angst davor, die Abschulung in die Sonderschule und die damit verbundene Demütigung und Stigmatisierung und es gibt den Dauerauftrag, im Laufe der Grundschule die Kinder für unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge der Sekundarstufe I zu sortieren und das Ergebnis dieser Auslese den Eltern in einer entsprechenden Empfehlung zu begründen. Und dieser selektive Auftrag ist durch neue Maßnahmen wie Orientierungs- und Vergleichsarbeiten noch verschärft worden.

Wie ist das vereinbar mit einem Plan, der für Vorschule und Grundschule „soziale Integration“ fordert?

Bildungseinrichtungen stehen in der Verantwortung, sozialer Ausgrenzung angemessen zu begegnen und allen Kindern faire, gleiche und gemeinsame Lern- und Entwicklungschancen zu bieten. Das Konzept der integrativen Bildung und Erziehung sieht vor, dass alle Kinder, d.h. deutsche Kinder, Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder mit Behinderung, Kinder mit erhöhten Entwicklungsrisiken und Kinder mit besonderen Begabungen, nach Möglichkeit dieselbe Bildungseinrichtung besuchen und gemeinsames Leben und Lernen erfahren. (S.38)

Noch weniger vereinbar mit dem integrativen Geist des Plans sind Empfehlungen der Autor/innen für den „Übergang in weiterführende Schulen“, der für Eltern und Kinder „ein bedeutsamer Einschnitt in deren Leben“ sei und „bereits lange vor dem Abschluss der Grundschule wichtig“ werde. „Lange vor“ heißt für viele Eltern vom ersten Schultag an. Kein Wort darüber, warum dieser Einschnitt so wichtig ist und für viele Kinder und Eltern mit so viel Enttäuschung, Wut und Demütigung verbunden ist und kein Wort darüber, ob es dabei gerecht zugeht bzw. zugehen kann und dass dabei, wie wir wissen, in hohem Maße soziale Auslese stattfindet.

Wie sollen Eltern aus unteren sozialen Schichten, bei deren Kindern sich im Laufe der Grundschule eine Hauptschulempfehlung abzeichnet, reagieren, wenn ihnen geraten wird, sie sollten „Schuldgefühle und Ärger bei unerwünschten Bildungsaussichten des Kindes verkraften und Frustration verbeugen“ oder „Sich für Bildungschancen und Chancengleichheit des Kindes einsetzen“? (S.112) Diese Eltern wissen oft sehr gut, was ihren Kindern in der Hauptschule bevorsteht – bei allem Engagement von Kollegien. Und wenn sie sich in wachsender Anzahl für die Integrierte Gesamtschule entscheiden und dort kein Platz mehr ist, wird ihnen, wie das in Frankfurt und Wiesbaden seit Jahren der Fall ist, vom Schulträger erklärt, dass die Eltern ja gar nicht die Integrierte Gesamtschule wünschten, sondern nur die ihrem Kind zustehende Hauptschule vermeiden wollten.

Da eine bildungspolitisch Einschätzung der Realisierbarkeit des Plans, der notwendigen Rahmenbedingungen, offensichtlich nicht zum Auftrag der Projektgruppe gehörte, wird auch die wichtige Frage nicht gestellt, ob denn die Ausbildung der Erzieherinnen ausreicht, um einen pädagogisch so anspruchsvollen Plan in der Vorschulzeit umzusetzen.

In einem Beitrag zur vorschulischen Bildung kommen Ludwig Duncker und Susanne Enders auch auf das Ausbildungsproblem zu sprechen (L.Duncker/S.Enders: Neue Aufgaben für den Kindergarten? Ein Plädoyer für die Stärkung des Bildungsdenkens im Elementarbereich. In: Neue Sammlung 2/04, S.215-224). Sie beschreiben ganz im Sinne des „Bildungs- und Erziehungsplans“ „Aspekte einer Anthropologie des Lernens im Kindergarten“, wobei sie sich gelegentlich auch berufen auf das von Fthenakis herausgegebenen Buch „Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden“ (Freiburg i.Br. 2003). Sie weisen darauf hin, dass die Aufgaben, die sich vorschulischer Bildung stellen, so zahlreich und schwierig seien, „dass das Prinzip eines freiwilligen Besuchs“ nicht mehr genüge, „um rechtzeitig alle Kinder mit Entwicklungs- und Lerndefiziten zu erreichen“. Es sei darum konsequent, „mit einer ein- bis zweijährigen Verpflichtung des Kindergartenbesuchs dafür Sorge zu tragen, dass in befriedigendem Umfang ausgleichende und fördernde Maßnahmen auch jene Kinder erreichen, die bislang, obwohl sie es am nötigsten hätten, gar nicht oder nur sporadisch in den Kindergarten kommen“. Nur so lasse sich „ein erfolgreicher Eintritt in die Schule für alle Kinder wirksam vorbereiten“. (S.222 f.)

Pflichtkindergartenjahre müssten dann wie der verpflichtende Schulbesuch frei von Kosten und Gebühren sein. Schulgeldfreiheit und Lehrmittelfreiheit sind im demokratischen Schulwesen eine Selbstverständlichkeit, ihre Übertragung auf den Kindergarten ist ein längst fälliges soziales und politisches Gebot.

Die „Einlösung des anspruchsvollen Bildungsauftrags und die Bewältigung der vielfältigen präventiven, diagnostischen und kompensatorischen Aufgaben“ machen für Duncker und Enders „eine neue Professionalisierung des Erzieherinnenberufs“ erforderlich, um Anschluss an die internationalen Entwicklungen und Ausbildungsstandards nicht zu verpassen. Die Fachschulen leisteten ihr Bestes, seien aber strukturell überfordert. Deshalb seien neue Konzepte gefragt und es müsse ernsthaft darüber nachgedacht werden, „die Ausbildung auf das Niveau des Studiums an einer Fachhochschule anzuheben, um so etwa eine Anbindung an die Frühpädagogik und ihre Bezugswissenschaften herzustellen“. Die Bewältigung der komplexen Aufgaben erfordere, „eine praxisgestützte Auseinandersetzung mit der aktuellen Kindheits- und Lernforschung, der Didaktik und der sonderpädagogisch gestützten Maßnahmen von Intervention und Therapie“. In diesem Zusammenhang müsse dann auch über Alternativen zur Berufsbezeichnung „Erzieher/Erzieherin“ nachgedacht werden, „die das Professionalisierungskonzept deutlicher unterstreichen und die Bildungsaufgaben mit zum Ausdruck bringen würden“. (S.223)

In Deutschland ist die gesellschaftliche Stellung der pädagogischen Berufe immer noch abhängig vom Alter der Kinder und Jugendlichen. Im Kindergarten ist die Bezahlung am geringsten, in der Sekundarstufe II des Gymnasiums am höchsten. Im Bereich der Medizin wäre eine solche hierarchische Abstufung undenkbar. Niemand käme auf die Idee, die Pädiatrie (Kinderheilkunde) nicht als gleichberechtigte medizinische Fachrichtung neben Gynäkologie, Andrologie und Geriatrie zu betrachten und für Krankheitsfälle im Kindesalter allein ein Krankenpflegepersonal für zuständig zu erklären.

Will man also ernsthaft den Bildungsauftrag des Kindergartens stärken, so müssen sowohl Ausbildungsniveau und –qualität der Erzieherinnen angehoben werden als auch ihre Bezahlung die Fülle und die Schwierigkeit der geschilderten Aufgaben widerspiegeln. Eine qualitativ gute pädagogische Arbeit benötigt darüber hinaus eine Verbesserung der Rahmenbedingungen (Personalschlüssel, Gruppegröße etc.), die ohne einen erhöhten finanziellen Aufwand nicht zu haben sein werden.“ (S.223)

Eine stärkere Professionalisierung der Erzieherinnen und verbesserte Rahmenbedingen, wie sie Duncker und Enders fordern, sind in dem Plan kein Thema, sie sind aber dessen logische Konsequenz, wenn das Projekt wirksam werden und nicht nur den Anschein erwecken soll: Wir tun etwas. Insofern kann der Plan in dem, was er zu seiner Realisierung unausgesprochen erforderlich macht, ein guter Impulsgeber werden für vorschulischer Bildung, für die Grundschule, aber auch für die politische Auseinandersetzung

Für diese Auseinandersetzung liegt seit Ende letzten Jahres ein von der SPD-Opposition entwickeltes Konzept „Haus der Bildung“ vor, in dem es zum Thema „frühkindliche Bildung“ auch darum geht, auf der Grundlage „eines Bildungs- und Erziehungsplans“ alle Kinder gezielt an „Kernkompetenzen“ heranzuführen. Mit einem beitragsfreien und verpflichtenden letzten Kindergartenjahr für die Fünfjährigen plant die SPD den Einstieg in beitragsfreie vorschulische Institutionen generell. Für den Übergang in die Grundschule soll die Zusammenarbeit von Kindergarten und Schule verbindlich werden und in einer „Schuleingangsstufe“ vor dem dritten Schuljahr sollen Kinder, ohne dass es noch Zurückstellungen geben muss, „je nach ihrem Entwicklungsstand“ zwischen einem Jahr und drei Jahren verbleiben können. Eine integrative Sekundarstufe I in diesem „Haus der Bildung“ bedeutet für die Grundschule, nicht mehr am Ende des vierten Schuljahres Empfehlungen für verschiedene Bildungsgänge geben zu müssen und alle Zeit und Energie auf die individuelle Förderung der Kinder verwenden zu können. In diesem Kontext verlieren dann auch Formen externer Evaluation ihre selektive Funktion, werden zu Rückmeldungen an die Schule zur Überprüfung ihres Förderprogramms und können helfen, notwendige Unterstützungsmaßnahmen von Außen zu begründen. (www.wissenwollen.de :“Haus der Bildung“)

 

Jetzt kommt es also auch in Hessen auf den Anfang an. Offen bleibt allerdings, wie ernsthaft die Parteien im Landtag das Projekt „frühkindliche Bildung“ in den nächsten Jahren verfolgen werden, wenn es um die Bereitstellung der Ressourcen für die als notwendig erkannte Reform geht.

Letzte Aktualisierung: 01.01.2006