Schulpolitik nach der Bundestagswahl
Oktober 2005
Was geschieht nach PISA 2000?
Die ersten "Bildungsstandards", die die KMK als Reaktion auf PISA 2000 unter großem Zeitdruck formuliert und verabschiedet hat, waren die für den Mittleren Schulabschluss und den Hauptschulabschluss. Es sind schulformspezifische Regelstandards, nicht die von Experten empfohlenen schulformübergreifenden Mindeststandards. Ihnen folgten in zeitlichem Abstand Standards für das Ende der Grundschule und in der Planung sind Standards für ein Zentralabitur. Oberste Priorität hatten die Abschlüsse der Sekundarstufe I in Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss zusätzlich in den Naturwissenschaften. Dabei handelt es sich um zwei bzw. drei der auch von PISA getesteten Lernfelder: Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften.
Wird PISA sich weiterhin auf diese drei Bereiche des schulischen Curriculums konzentrieren und sie als die unverzichtbaren Grundqualifikationen einer Wissensgesellschaft ansehen und nicht z.B. neben Lesen auch Testaufgaben für Schreiben oder zentrale Formen mündlicher Kommunikation wie freie Rede, Diskussion oder Gespräch entwickeln? Die KMK jedenfalls scheint nach den Erfahrungen mit PISA wild entschlossen, sich nicht mehr von dieser oder einer anderen internationalen Vergleichsstudie überraschen und in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit bloßstellen zu lassen. Das ist offensichtlich die, auch von den Medien transportierte, Erwartung an Prüfungsstandards für die Abschlüsse, die die deutsche Schule insgesamt leistungsfähiger machen und zu besseren Ranking-Plätzen im internationalen Vergleich bringen sollen.
So werden ja auch schon die bescheidenen Fortschritte in den Rankings von PISA 2003 von der Politik interpretiert. Hält dann die positive Entwicklung in PISA 2006 ff. an, wäre das doch der Beweis, dass die gegliederte deutsche Schule auch ohne grundlegende Strukturreform vorankommen und in absehbarer Zeit mit den integrierten Systemen der PISA-Siegerländer konkurrieren kann.
Wer an diesen Fortschritt in den Rankings nicht recht glauben will, verkennt, wie rasch sich Schulen und Schüler/innen an analogen Fragestellungen und Aufgabenformaten auf Prüfungen generell und dann auch auf weitere PISA-Tests vorbereiten können, - was ja schon ein möglicher Faktor für das bessere Ranking in PISA 2003 gewesen ist. Was aber besagt ein Ranking-Platz wie der Finnlands oder Bayerns oder Bremens über die innere Verfasstheit von Schulen als einem menschenwürdigen "Haus der Lernens" für Heranwachsende? Was erfahren wir wirklich aus PISA über die Qualität von Unterricht? Und was wollen wir nach der schmerzlichen PISA-Klatsche wirklich ändern?
Hartmut von Hentig ist diesen Fragen nachgegangen. Im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von "Die Schule neue denken" (Beltz 2003) findet sich nach einem kurzen Passus über die TIMS-Studie eine eingehende Analyse von PISA und den Konsequenzen, die bei uns daraus gezogen werden bzw. gezogen werden sollten. Dass die PISA-Studie mit ihrem funktionalen Verständnis von Bildung sich konzentriert "auf ein kleines, gut zu bezeichnendes, öffentlich hochbewertetes Spektrum von drei Kompetenzen" (S.V24) und dann die Leistungen in diesen drei Kompetenzbereichen der verschiedenen nationalen Systeme miteinander vergleicht, wird für von Hentig erst dadurch zum Problem, dass die Studie "ungewollt" den Eindruck erwecke, die Schule eines Landes stehe damit insgesamt auf dem Prüfstand. Denn nun werde von der Politik mit aller Macht auf diesen Teil reagiert, "als handle es sich um das Ganze und das Ende der wünschenswerten, ja notwendigen Evaluation". (S.V25)
Wenn es in der Schule wesentlich um drei Bildungsaufgaben geht: um die persönliche, die praktische und die politische Bildung und keine der Aufgaben den anderen zu opfern ist, dann konzentriere sich PISA mit seinem literacy-Konzept allerdings ausschließlich auf die praktische Bildung. Das zeigten die Aufgabenbeispiele, in denen es nirgends "um die für die persönliche und politische Bildung kennzeichnenden Anforderungen" gehe, etwa um
Zusammenhang herstellen, Sinn geben, bewerten (nicht nur begründen), etwas Tradiertes aneignen und bewahren, etwas auf sich beziehen, etwas genießen können, Vergangenes rekonstruieren, Künftiges entwerfen, Einzigartiges Verstehen, Ambiguität oder Aporie aushalten. (S.V28)
Nach einer durchaus kritischen Würdigung des schwedischen Schulsystems, das er im Unterschied zum finnischen aus eigner Anschauung kennt, empfiehlt von Hentig doch erst einmal die viel näher liegenden pädagogischen Konzepte und Ergebnisse deutscher Reformschulen wahrzunehmen, "von denen das gesamte deutsche Bildungssystem lernen" könne. Fünf dieser Schulen haben sich an TIMSS, zwei an PISA beteiligt. Alle hätten sie sich "aus eigenem Wunsch und Willen der Überprüfung gestellt"; alle seien Gesamtschulen und alle hätten "gute, einige sogar herausragende Ergebnisse erzielt". Auch wenn man berücksichtige, dass es sich bei diesen Schulen durchweg um Versuchsschulen handelt, müsse man doch zugeben, "dass die vom deutschen Regelschulsystem behaupteten Bedingungen für erfolgreiches Lernen nicht notwendig sind".
Die Schüler kommen ohne Selektion und Sortierung, ohne äußere Differenzierung (A-, B-, C-Kurse oder Latein für die einen, Kochkurse für die anderen), ohne Sitzenbleiben, ja ohne Noten zu guten Ergebnissen. (S.V46)
Das gute Abschneiden deutscher Reformschulen stimmt nun in der Tat nachdenklich. Für sie waren die Testaufgaben von PISA 2000 wie für alle andern deutschen und ausländischen Schulen ja nicht vorzubereiten. Das trifft schon für PISA 2003 in dem Maße nicht mehr zu. Man kannte zwar nicht die Aufgaben, aber man kennt jetzt die Aufgabenformate und kann sich auf die Tests besser vorbereiten, zumal die Testbereiche identisch sind und es für 2006 wohl auch bleiben werden. PISA 2000 ist insofern der entscheidende Testfall.
Wenn, durch die Ergebnisse aufgeschreckt, danach ein regelrechter pädagogischer und bildungspolitischer Tourismus nach Norden, insbesondere zu den PISA-Siegerländern Finnland und Schweden, einsetzte, mit viel politischer Prominenz an der Spitze, so gab es von Pädagogen – von Hentig ist einer von ihnen – differenzierte Berichte über das, was da zu lernen und was durchaus auch kritisch zu sehen ist. Die bildungspolitisch Verantwortlichen kamen allerdings überwiegend zu der Einschätzung, dass die so erfolgreichen integrierten Systeme dieser Länder auf Deutschland und seine föderale Struktur nicht zu übertragen seien und wir sehen müssten, wie wir unser gegliedertes System leistungsfähiger machen können. Weder Finnland noch Schweden vermochten das Tabu der Strukturfrage zu brechen und die hektische Formulierung und Verabschiedung von Leistungsstandards für Abschlüsse durch die KMK zu verhindern.
In dieser Situation ist von Hentigs Hinweis auf die deutschen Reformschulen bildungspolitisch hilfreich. Denn diese Schulen – und es sind viel mehr als die durch TIMSS und PISA bekannt gewordenen – sind durchweg staatliche oder staatlich anerkannte Einrichtungen. Und wenn die getesteten Schulen repräsentativ sind, so gelingt es diesen Reformschulen mit ihrem ambitionierten Bildungsprogramm – wie nebenbei – auch dem eher bescheidenen Bildungsanspruch von PISA gut bis hervorragend zu genügen. Was ist darum in der Tat näherliegend für die Bildungspolitik in den Bundesländern als ihre eigenen pädagogisch fortgeschrittenen, auch international erfolgreichen Schulen in ihrer Bildungsarbeit wahrzunehmen und die Übertragbarkeit dieser Arbeit auf andere Schulen – die dazu erforderlichen zusätzlichen Investitionen eingeschlossen – der Politik und einer interessierten Öffentlichkeit darzulegen und in konkrete Maßnahmenkataloge einmünden zu lassen.
Gibt es dafür Chancen nach der Bundestagswahl 2005?
Die Parteien vor der Wahl
Wer im Vorfeld der kurzfristig anberaumten Bundestagswahl erwartet hat, dass neben der Arbeitsmarkt-, der Steuer- und Sozialpolitik auch das Thema Bildung eine wichtige Rolle spielen würde, wurde enttäuscht. Die Föderalismuskommission war Monate zuvor vor allem gescheitert, weil die CDU-regierten Länder dem Bund am liebsten auch den letzten Rest an Kompetenz für Bildung nehmen wollten. In dieser Hängepartie zwischen Bund und Ländern fielen die bildungspolitischen Ankündigungen der Bundesparteien entsprechend mager aus.
Zum Schulsystem speziell macht die Union keine konkrete Aussage und verweist konsequent auf die Zuständigkeit der Länder und dort hält sie auch nach PISA unbeirrt am gegliederten Schulsystem fest. Die Grünen wollen dieses System abschaffen. Die Linkspartei plädiert für eine "integrative Gemeinschaftsschule". Und die Sozialdemokraten?
Die SPD fordert seit ihrer Gründung eine Schule für alle, erreicht 1920 gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen immerhin die vierjährige Grundschule für alle und steckt seitdem bei allen Versuchen, das integrierte System über die Grundschule hinaus auszuweiten, eine Niederlage nach der andern ein. Das gilt für die verschiedenen Modelle der Förder- oder Orientierungsstufe, aber auch für die Gesamtschule, die auf Betreiben der Konservativen auf KMK-Ebene mit Auflagen wie einer Zweier- oder Dreierdifferenzierung bis zu Unkenntlichkeit entstellt wurde. Sie hatte in der Konkurrenz zum gegliederten System nie die Chance, vor Ort jeweils "eine Schule für alle" zu werden.
Was fordert die SPD nach den eindeutigen Vorgaben der Grünen und der Linkspartei, nachdem ihre Bildungsministerin, Edelgard Bulmahn, in der PISA-Debatte, sehr zum Ärger der Länder – wohl nicht nur der CDU-regierten – offen erklärte, dass das gegliederte deutsche Schulsystem keine Zukunft hat und wir eine Schule brauchen, "wo unsere Kinder mit Freude und Neugier lernen, wo ihr Wissensdurst am Leben gehalten wird, wo eine persönliche Atmosphäre herrscht und keine Angst vor Selektion und Auslese"? (Rede im Deutschen Bundestag, 13.6.2002)
Im Wahlmanifest der SPD stehen unter der Überschrift "Wir wollen gleiche Bildungschancen für alle" vorab die Sätze:
Bildung ist die beste Starthilfe, die wir unseren Kindern geben können. Bildung ist der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Jedem und jeder Einzelnen wollen wir unabhängig von der sozialen Herkunft Zugang zu guter Bildung ermöglichen. Das ist für uns ein Gebot der Gerechtigkeit. Und es entspricht der ökonomischen Vernunft. Im internationalen Wettbewerb werden wir nur bestehen, wenn wir den Reichtum unserer Talente entwickeln und ausschöpfen.
Zum Schulsystem selbst findet sich dann nur ein einziger Satz:
Und wir wollen ein Schulsystem, das stärker auf Durchlässigkeit, Integration und individuelle Förderung ausgerichtet wird.
Individuelle Förderung fordern inzwischen alle Parteien, solange nicht konkret darüber gesprochen wird, was dies etwa an materieller und personeller Unterstützung kosten würde, z.B. für großstädtische Hauptschulen oder auch für Grundschulen in Wohnbezirken mit einer überwiegend sozial schwachen Bevölkerung. Individuelle Förderung bleibt abstrakt, solange nicht über deren Verträglichkeit mit permanenter Auslese nachgedacht und gesprochen wird.
Immerhin: Individuelle Förderung wollen nach PISA alle und das ist in der bildungspolitischen Kleinstaaterei bei uns ja schon etwas. Wie aber steht es mit diesem sozialdemokratischen Nebeneinander von Durchlässigkeit und Integration? Integration heißt dann doch nicht nur in Finnland, kein Kind zurückzulassen, also aufzuhören mit Nichtversetzen und Abschieben, und dort, wo Schulen mit diesem pädagogischen Anspruch Probleme haben, Unterstützung anzubieten. Eine integrierte Lerngruppe, in der auch behinderte Kinder unterrichtet werden, darf gerade nicht durchlässig sein, weder nach unten noch nach oben und muss dabei konsequent neben dem gemeinsamen Lernen auf individuelle Förderung setzen, - auch und gerade für die besonders Leistungsschwachen und die besonders Leistungsstarken, - mit dem Ziel einer soliden Grundbildung für alle. Dass dieses anspruchsvolle pädagogische Konzept keine philanthropische Utopie darstellt, beweisen die in internationalen Vergleichsstudien so erfolgreichen integrierten Systeme und beweisen auch unsere erfolgreichen deutschen Reformschulen.
Während Integration nach wie vor kontrovers diskutiert wird, ist die Forderung nach größere Durchlässigkeit im bestehenden System unstrittig unter den Parteien. Doch was funktioniert eigentlich besser bei uns als Durchlässigkeit, und zwar die von oben nach unten: vom Gymnasium in Realschulen, Gesamtschulen und Hauptschulen und aus Grund- und Hauptschulen in Sonderschulen für "Lernbehinderte", wo es dann auch noch die Möglichkeit der Überweisung in Schulen für Praktisch Bildbare gibt. Und wer einwendet, mit mehr Durchlässigkeit sei ja gerade nicht die von oben nach unten, sondern verstärkt die von unten nach oben gemeint, der möge sich einmal vorstellen, was dies etwa für Lerngruppen an großstädtischen Hauptschulen bedeutet, wenn es Schüler/innen in größerem Umfange gelingt, dem Lernmilieu einer Hauptschule tatsächlich zu entkommen und aufzusteigen.
Die SPD, in der offensichtlich Bildungspolitiker/innen, die das vor allem nach unten durchlässige und vielfältig gegliederte System nicht ändern wollen, mit denen streiten, die für eine Schule für alle eintreten, wird sich auf Bundesebene entscheiden müssen, was sie will und was für die Länder dann Beschlusslage ist. Mit Kompromissformeln wie durchlässig-integriert-individuell fördernd wird sie sich wohl nicht mehr lange durchmogeln können, nachdem potenzielle Koalitionspartner auf Länderebene sich klar für das integrierte System entschieden haben und eine wachsende Zahl von bildungspolitisch Engagierten in der Wissenschaft, in Lehrerverbänden, den Gewerkschaften, in der organisierten Elternschaft, in den Kirchen und nicht zuletzt in der Wirtschaft eine grundlegende Reform des Systems fordern. (Wie der Übergang von einem hochselektiven und von oben nach unten optimal durchlässigen System in ein integriertes aussehen kann, indem man das neue aus dem alten entwickelt: V.Merkelbach: Wie kommen wir zu einer guten Schule für alle? Ein Vorschlag zum Verfahren. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/hemodell.htm).
Für eine größere Gestaltungsfreiheit der Länder
Die Diskussion der Ergebnisse von PISA 2003 und die offensichtlich aus wahltaktischen Gründen vorgezogene Veröffentlichung von Ergebnissen der innerdeutschen Vergleichsstudie PISA 2003 E, ohne Rücksicht auf die sozialökonomischen Bedingungen, unter denen die Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern zustande kamen, haben gezeigt: Die bildungspolitische Debatte über die Reform des nach wie vor leistungsschwachen deutschen Schulsystems ist längst zu einem Ranking-Spiel verkommen: Bayern vor dem Rest der Republik, Sachsen – der Shootingstar im Osten, Bremen mit der roten Laterne.
Wer die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Medien, etwa in bildungspolitischen Talkrunden des Fernsehens zur Bundestagswahl, miterlebt hat, wird den Glauben endgültig verloren haben, dass es auf absehbare Zeit mit den aktuell politisch Handelnden einen Diskurs über die Frage geben wird, wie – über einen besseren Platz in den nationalen und internationalen Rankings hinaus – mehr Chancengerechtigkeit an unseren Schulen erreicht und die eklatante soziale Selektion und die damit verbundene gesellschaftliche Diskriminierung vermindert werden können. An dieser Situation wird wohl auch PISA 2006 ff. nichts ändern, vor allem dann nicht, wenn wir uns durch intensivere Vorbereitung der Tests in den in Betracht kommenden Kompetenzbereichen – auf Kosten aller übrigen Fächer – weiter aus dem internationalen Mittelmaß entfernen.
Wer in der Politik an dieser Entwicklung etwas ändern will, kann auf drei empirisch belastbare Ergebnisse setzen:
- Der deutsche Mythos, dass integrierte Systeme weniger leistungsfähig sind als gegliederte ist durch internationale Vergleichsstudien, allen voran PISA 2000 ff., gründlich zerstört. Integrierte Systeme sind in diesen Studien nicht nur erfolgreicher in der Förderung leistungsschwacher Schüler/innen ("Risikogruppe"), sondern auch weit erfolgreicher in der Förderung der Leistungsspitze.
- Das gegliedert deutsche Schulsystem, das von einer über Jahrzehnte ziemlich stabil bleibenden sozialen Selektion geprägt ist, ist auch unter diesem Aspekt der Chancengerechtigkeit nicht konkurrenzfähig mit international erfolgreicheren integrierten Systemen.
- Der deutsche Bildungsföderalismus, wie er sich in KMK-Beschlüssen manifestiert, verhindert bislang, den Zusammenhang von innerer und äußerer Schulreform parteiübergreifend zu diskutieren und daraus länderübergreifende Maßnahmen zu vereinbaren. Einheitliche sogenannte Bildungsstandards für Abschlussprüfungen mit Regel- anstelle von Mindeststandards bleiben systemimmanent. Sie waren schon vor PISA 2000 in Arbeit und sind in der vorliegenden Formulierung kein erfolgversprechender Beitrag zu einer grundlegenden Schulreform.
In dieser Situation auf weitere Erkenntnisse der Wissenschaft zu setzen, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit als ein Warten auf St. Nimmerlein erweisen. Jeden weiteren Fortschritt in den Rankings werden die Befürworter des gegliederten Systems als Beweis dafür nehmen, dass die deutsche Schule im internationalen Leistungsvergleich auch im bestehenden System voran kommen kann und Strukturveränderungen dafür nicht notwendig sind.
Gegen diese Politik einer Reform innerhalb des Systems, wie sie die CDU-regierten Länder in der KMK bislang ziemlich erfolgreich in der Öffentlichkeit vertreten, haben sich die Grünen und die Linkspartei auf Bundesebene programmatisch für Integration entschieden. Aussteht eine Entscheidung der Bundes-SPD mit einer klaren schulpolitischen Vorgabe für die weitere Politik in den Ländern und in der KMK. Wer in der interessierten Öffentlichkeit weiß eigentlich, wie in diesem Gremium diskutiert und entschieden wird; wer von der SPD dort Sand ist im Getriebe der zur Zeit konservativen Mehrheit oder mit dieser Mehrheit nach wie vor gemeinsame Sache macht? Wie kam etwa die Entscheidung der KMK zustande, dem deutschen PISA-Konsortium, das im September die Ergebnisse des PISA-Ländervergleichs 2003 der Öffentlichkeit präsentieren wollte, schon einmal für die Zeit des Wahlkampfes ein paar handliche Ergebnisse – ohne eine gründliche sozialökonomische Einbettung – abzuverlangen?
2003 erschien in der noch heftigen PISA-Debatte ein Beitrag: "Wie heterogen sind deutsche Schulen und was folgt daraus? Befunde und Konsequenzen aus PISA und IGLU" (Pädagogik 9/03, S.32-37). Verfasser ist der ehemalige Hamburger SPD-Schulsenator und ehemalige PISA-Beauftragte der KMK, Hermann Lange, ein Insider also, der den Laden der KMK kennt und jetzt den Kopf frei hat für den Blick von Außen. Lange, der in seinem Beitrag die Forderung nach einer grundlegenden, d.h. inneren und strukturellen, Schulreform für begründet hält, aber auch die Widerstände dagegen aus der Nähe kennt und einzuschätzen weiß, endet mit einem "Plädoyer für eine größere Gestaltungsfreiheit der Länder".
Das Plädoyer beginnt mit der lapidaren Feststellung: "Einheitliche Lösungen in Fragen der Schulstruktur sind in Deutschland in absehbarer Zeit nicht zu erwarten." Das gilt verstärkt nach der Bundestagswahl, wo die Zuständigkeit für Bildung auf Bundesebene von Edelgard Bulmahn auf Annette Schavan übergehen wird. Auch den Versuch, "im Rahmen unterschiedlicher Schulstrukturen ein Mindestmaß an Einheitlichkeit durch Vorgaben von Stundentafeln, Belegverpflichtungen oder Vorschriften über Beginn und Ausmaß externer Differenzierung zu erreichen", hält Lange für eine "Scheinlösung". Nicht durch solche Vorgaben ("inputs") lasse sich Vergleichbarkeit der Leistungen sichern; sie müsse sich an den Ergebnissen ("outputs") zeigen.
Deshalb wäre es ehrlicher, wenn sich die Länder vorbehaltlos – auch hinsichtlich der Einrichtung integrierter Systeme – Gestaltungsfreiheit einräumen würden. Dies macht allerdings die Vereinbarung von ‚Bildungsstandards’ und die Verständigung auf wirksame Formen eines Qualitätsmonitorings erst recht notwendig. (S.37)
Die SPD in Schleswig-Holstein ist der erste Landesverband, der nach PISA 2000 mit dem Konzept einer Schule für alle den Konsens der KMK, über alles nur nicht über Strukturfragen zu reden, aufkündigte und mit dem Konzept einer "Gemeinschaftsschule" in den Wahlkampf zog. Sie hat wohl nicht durch diesen mutigen Schritt die Wahl verloren, ihr Konzept aber in der Koalition mit der CDU weitgehend opfern müssen. Schon vor diesem Rückschlag in Schleswig-Holstein gab es ähnliche Überlegungen der SPD in Hessen, NRW und Mecklenburg-Vorpommern, am weitesten gediehen in Hessen, wo auf einem Landesparteitag "eine gemeinsame Schule für alle" nach finnischem Vorbild beschlossen wurde und ins nächste Wahlprogramm aufgenommen werden soll.
Die Bundes-SPD wäre gut beraten, für die kommenden landespolitischen Auseinandersetzungen sich klar zu positionieren und sich zwischen Durchlässigkeit und Integration eindeutig für Integration zu entscheiden. Damit kehrte diese Partei nach Jahrzehnten des Zaudern und Wegduckens in die Kontinuität sozialdemokratischer Schulpolitik zurück. Das würde dann auch mit dem schönen Satz im Programm zur Bundestagswahl übereinstimmen: "Jedem und jeder Einzelnen wollen wir unabhängig von der sozialen Herkunft Zugang zu guter Bildung ermöglichen. Das ist für uns ein Gebot der Gerechtigkeit."
Bei dem auch nach PISA und IGLU anhaltenden massiven Widerstand gegen ein integriertes Schulsystem über die Grundschule hinaus vermutet der ehemalige SPD-Schulsenator Lange "tief verwurzelte Vorstellungen über ‚Begabung’", "die diese noch immer als weitgehend genetisch determiniert und statisch verstehen, statt auf die Bildungsprozessen innewohnende Dynamik und die damit verbundenen Chancen gemeinsamen Lernens von Kindern unterschiedlicher ‚Lernausgangslagen’ zu setzen. Für diese andere Schule beruft sich Lange auf den amerikanischen Philosophen John Rawls, der das "Differenzprinzip" als wichtige Leitidee einer Gesellschaft bezeichnet und das Lange so zusammenfasst:
Unter der Voraussetzung ungleicher Startbedingungen kann nur diejenige Gesellschaft als gerecht gelten, die bei der Wahrung gleicher Grundfreiheiten und fairer Chancen für alle ihre am wenigsten begünstigten Angehörigen den größten Vorteil bringt. (S.36 f.)
"Lässt sich dies", fragt der Sozialdemokrat Lange, "von einem in so hohem Maße sozial selektiven Schulwesen sagen?" (S.37) Die Antwort auf die rhetorisch gemeinte Frage kann für die SPD nur sein, für die anstehenden Wahlauseinandersetzungen in den Ländern ihre schulpolitische Position auf Bundesebene zu klären. Gegen den zu erwartenden Widerstand der Gegner eines integrierten Systems müssen Bürgerinnen und Bürger davon überzeugt werden, dass eine Schule für alle über die Grundschule hinaus erst wirklich ernst machen kann mit gemeinsamem Lernen und individueller Förderung - der Langsamen und der Schnellen, dass diese Schule dadurch gerade keine "Einheitsschule" ist, sondern für alle Schüler/innen die Chance auf einen qualifizierten Abschluss bis zum Ende der Schulpflicht wahrt. Dabei ist diese Schule kein kühnes Experiment mehr, sondern ein bewährtes Modell in erfolgreichen PISA-Ländern, aber auch in den zahlreichen deutschen Reformschulen.
Soziale Gerechtigkeit und Schule
Wenn Sozialdemokraten das Thema Bildung und Bildungsgerechtigkeit in seinen verschiedenen Facetten wieder substanziell besetzen wollen, im Bund und in den Ländern, so können sie das mit dem Konzept einer guten Schule für alle nach PISA, IGLU und all den andern weniger heiß diskutierten nationalen und internationalen Leistungsvergleichsstudien überzeugender als in den zurückliegenden Jahrzehnten. Es gibt für dieses integrierte System neben den pädagogischen und sozialen Beweggründen inzwischen auch ganz handfeste ökonomische Argumente und Interessen, die die Finanzierbarkeit des mehrgliedrigen Systems in der Fläche bei abnehmenden Schülerzahlen betreffen und die wachsenden Qualifikationsansprüche des Arbeitsmarktes.
In dem Maße, wie das integrierte System in der Bevölkerung an Akzeptanz gewinnt, könnte auch bei uns ein Konsens zwischen Konservativen und Sozialdemokraten näher rücken und damit der Zeitpunkt, wo bildungspolitische Grundsatzfragen und Entwicklungsziele geklärt sind und aus der innenpolitischen Auseinandersetzung verschwinden. Wie lang der Weg dahin sein wird, ist nicht absehbar, er kann aber, da ist Hermann Langes Einschätzung wohl realistisch, nur in der Konkurrenz der Systeme auf Länderebene gegangen werden.
Es geht in der Auseinandersetzung im Kern um ein Schulsystem, das leistungsfähiger ist als das bestehende. Darüber sind sich alle politischen Parteien einig. Der Streit, wie eine höhere Effizienz verbunden werden kann mit mehr sozialer Gerechtigkeit, - darüber kann der Streit nicht mehr weiter auf einer abstrakt-politischen Ebene geführt werden. Die Argumente des Für und Wider sind in der PISA-Debatte noch einmal in aller Breite und Gründlichkeit ausgetauscht worden. Unerlässlich sind jetzt integrierte Systeme auf Länderebene, die auch im Systemmonitoring dessen, was an Grundqualifikationen standardisierbar und in Tests messbar ist, mit dem gegliederten System konkurrieren können, die eine bessere Quote qualifizierter Abschlüsse erreichen als das bestehende System, die zugleich aber unter dem Aspekt von Bildung und Bildungsgerechtigkeit bessere Ergebnisse erreichen als das durch soziale Selektion stark geprägte gegliederte System.
In seinem Buch "Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit" (Droemer 2005) kommt Heribert Prantl nicht umhin, auch einen Blick auf die soziale Qualität der deutschen Schule zu werfen, der PISA eine besonders ausgeprägte soziale Selektion und damit ein massives Defizit an sozialer Gerechtigkeit attestiert. Für Prantl, Richter und Staatsanwalt, ehe er als Journalist bei der Süddeutschen Zeitung anheuerte, ist die Bildungsoffensive der 1970er Jahre, "als die Kinder kleiner Handwerker und strebsamer Facharbeiter zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das BaföG geknüpft hatte, nach oben kletterten", als "Projekt sozialer Aufstieg" beendet (S.149). Das traurigste Ergebnis eines wieder streng nach unten selektierenden Systems ist für ihn die Hauptschule, die, anders als ihr Name, "nicht mehr Hauptschule" sei, "sondern Minderheitenschule, Unterklassenschule, Schule der Bildungsverlierer" (S.150). Sie sei der Ort geworden, "der die Exklusion verwaltet, ohne dass darüber größere Empörung" herrsche (S.154). Prantl verweist auf Hauptschul-Recherchen des Bildungsjournalisten Karl-Heinz Heinemann, der herausgefunden hat, dass die Kinder und Jugendlichen in den Hauptschulen durchaus Kompetenzen haben, die jedoch in der Schule wenig oder gar nicht honoriert würden.
Kinder, die keinen Satz ordentlich schreiben und keine zwei Absätze ordentlich vorlesen können, schreiben blind unter der Bank SMS. Die Zwölfjährige spricht akzentfrei Deutsch und kann ebenso gut Italienisch und Türkisch, weil ihre Eltern aus diesen Länder kommen; nur ordentlich aufschreiben kann sie das nicht, was sie sagt. Aber sie wäscht ihre Wäsche selbst, weil die sich bei ihrer Mutter immer verfärbt. Andere Kinder bringen ihrer Geschwister morgens in den Kindergarten, müssen auch selbst dafür sorgen, dass sie ihre Schulsachen dabei haben – Dinge, auf die in Mittelstandsfamilien die Eltern achten. (S.150 f.)
Perspektiven biete "diesen bemerkenswert selbstständigen Kindern" die Hauptschule jedoch nicht. Sie sei ein "Stigma" und nur eine Minderheit ihrer Abgänger ergattere einen Ausbildungsplatz. Prantl fordert von der Politik das Eingeständnis, dass es "eine neue Unterschicht" gibt, "die sich nicht mit den nach PISA geforderten Strukturreformen selbst" befreie, vielmehr müsse man die Schule "zur Befreiungseinrichtung aus den Milieus der neuen Unterschicht machen" und die Ganztagsschule werde dann "weniger ein Zugeständnis an die werktätigen Eltern der Mittelschicht" sein müssen "als eine Art Internat für Kinder aus Unterschichten und Risikogruppen". Die "neue soziale Frage" brauche "eine neue schulische Antwort": eine Schule als ein "Ort der Schicksalskorrektur". (S.152)
Was Prantl mit der Emphase des gerechten Richters fordert, formuliert der Pädagoge von Hentig seit vielen Jahren unermüdlich: Die Schule als "Lebens- und Erfahrungsraum" und er kann dabei nicht nur auf die von ihm gegründete Bielefelder Laborschule verweisen, sondern auf die vielen Reformschulen in diesem Land, die lange schon auf einem guten Wege sind zu einer Schule als "polis": "einer Gesellschaft im Kleinen und im Werden", - am besten eine Schule, die "alle Kinder des Wohnbezirks" aufnimmt, die allerdings Korrekturen erfahren müsse, wenn der Wohnbezirk Berlin-Wedding oder Berlin-Dahlem heiße und in der es programmatisch darum geht:
Unterschiede kennen und bejahen lernen, Benachteiligungen aufheben, Chancengleichheit nicht mit Gleichbehandlung und Gleichmachen verwechseln, wahrnehmen, wie viele Formen von unverschuldeter Benachteiligung es gibt, und sie nicht ihrerseits vermehren. (Die Schule neu denken. Hanser 1993, S.236)
Es könnte dies mit den Erfahrungen der Reformschulen die deutsche Regelschule werden, - ob als Grundschule oder als Sekundarschule. Eine Schule, die die bildungsbewussten und einflussreichen oberen Sozialschichten nicht mehr mit "Gestattungen" in der Grundschule und einem Ausweichen in Privatschulen meiden, sondern für die sie sich als ihre Schule wieder verstärkt engagieren, gerade dort, wo sie auf Grund aktueller Probleme im Vergleich zu andern Schulen vom Staat ungerecht behandelt wird. Und das kann in einem sozialen Rechtsstaat ja notfalls auch juristisch eingeklagt werden, - sofern es dafür Eltern gibt, die sich zu wehren wissen und die die Reformbemühungen der Schule zu unterstützen bereit sind.