Ist Chancengleichheit an unseren Schulen mehr als eine schöne Illusion?
Anmerkungen zu Jürgen Oelkers’ Studie "Gesamtschule in Deutschland"August 2006
Seit PISA 2000 mit dem Ergebnis aufwartete, dass unser Schulsystem wie kein anderes zu frühe und dabei in hohem Maße soziale Selektion betreibt, steht die Strukturfrage wieder auf der Tagesordnung. Dies zu verhindern ist den politisch Verantwortlichen in und außerhalb der KMK trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen und es mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Elternschaft und Medien, aber auch aus politischen Parteien und Landesregierungen, die eine Enttabuisierung der Strukturfrage fordern.
Der Blick von außen
Während prominente deutsche PISA-Autoren sich in der Strukturfrage eher bedeckt halten oder sie gar für die Qualität der deutschen Schule als wenig relevant ansehen im Vergleich zu individueller Förderung und einer grundlegenden Reform der Lernkultur, hat sich mit Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich, einer zu Wort gemeldet mit einer schon im Titel brisanten Studie "Gesamtschule in Deutschland" und dem vielversprechenden Untertitel "Eine historische Analyse und ein Ausweg aus dem Dilemma" (Oelkers 2006). Sein Thema ist, die wieder gestellte Strukturfrage in ihrer historischen Genese nachzuzeichnen und sie mit dem Anspruch gleicher Bildungschancen zu konfrontieren, um als Konsequenz daraus einen Vorschlag zu unterbreiten, wie wir den nach wie vor heftigen Konflikt des Pro und Contra Gesamtschule vielleicht doch zumindest entschärfen könnten.
Die Systemfrage ist auch für Oelkers "die nach der frühen und kaum korrigierbaren Selektion". Nur in Deutschland sei "das bildungspolitische Thema einer gemeinsamen Verschulung aller Kinder bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit mit einer tiefsitzenden Kontroverse besetzt, die bis heute meinungsbildend" wirke und "bislang jede Verständigung auf eine allgemeine und gleiche Bildung für alle verhindert" habe. Zwar gebe es in Deutschland eine staatliche Schulpflicht, "aber keine Bürgerrecht auf Bildung, das sich seit Mitte des 19.Jahrhunderts als Forderung nachweisen" lasse und "das die Schulen darauf verpflichten würde, für eine Bildung zu sorgen, die in einem hohen Minimum für alle gleich wäre". Immer mit den gleichen Argumenten werde die Systemfrage "periodisch neu aufgenommen, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen, die über den Status Quo hinausführen würde". (S.7)
Grundlegend ist für die deutsche Entwicklung nicht die "Einheitsschule", die als Forderung nach dem ersten Weltkrieg wenigstens zu einer vierjährigen Grundschule für alle führte, als "sozialistische Einheitsschule" der DDR dann aber die Schulentwicklung nach 1945 in Westdeutschland negativ beeinflusst hat. Oelkers beschreibt im ersten Teil seiner Studie die Geschichte dieses immer erneut scheiternden Konzepts der "Einheitsschule" vom beginnenden 19.Jahrhundert bis zum vergeblichen Versuch der Amerikaner, im Zuge der "Re-Education" die Deutschen von ihrer Ständeschule des 19.Jahrhunderts abzubringen. Selbst die von der amerikanischen Militärregierung am 9.August 1948 verordnete sechsjährige Grundschule wurde in den westdeutschen Ländern erst gar nicht realisiert oder bald nach ihrer Einführung wieder abgeschafft – einzige Ausnahme Berlin.
Der diffuse Begriff der Chancengleichheit
Uneingelöst bleibt für Oelkers der Anspruch: "die faire Zuteilung echter Chancen für alle Kinder", was "mit dem deutschen System nicht zu gehen" scheine (S.64). Damit nennt Oelkers das Thema des zweiten Teils seiner Studie: Chancengleichheit. Kennzeichen der westdeutschen Diskussion der 50er und 60er Jahre sei "die Ungenauigkeit und die weitgehende rhetorische Verwendung des zentralen Begriffs der ‚gleichen Chancen’". Die Auslese für die anerkannten Bildungsgänge sei "immer wieder mit individueller Begabung zusammengebracht" worden, "während zugleich eine soziale Zuordnung zu den drei bestehenden Schultypen erfolgte". Auch die "Förderstufe" sollte letztlich diese "begabungsgerechte" Auslese verbessern und nicht wirklich für mehr Chancengleichheit sorgen.
Die "Leitideologie" habe darin bestanden, "Chancennutzung mit Begabung gleichzusetzen und die nach den Schulzweigen zu sortieren" (S.74) Diese Gleichsetzung sei, auch dank einer so einflussreichen Lobby wie dem Deutschen Philologenverband, über die Jahrzehnte bis heute erhalten geblieben, auch wenn "kaum noch naturalistische Begabungstheorien vertreten" würden (S.75). Chancengleichheit sei "ein politischer Kampfbegriff" geblieben, der vor allem den Zuwachs an Abiturienten betraf und die "gerechte Verteilung der Bildungschancen" habe sich in diesem Zuwachs manifestiert, "mit allen Folgen für das nach wie vor bestehende System der Dreigliedrigkeit". Politischer Konsens bestehe seitdem "über den Ausbau der Gymnasien, ohne das Gesamtsystem verändern zu wollen" und ohne dass dieser Konsens durch die parallel erfolgte Einrichtung von Gesamtschulen ernsthaft und auf Dauer gestörte worden sei (S.79).
Ein besonderes Kapitel widmet Oelkers dem, was er die "neoliberale Theorie der Chancengleichheit" nennt, die kein Pädagoge, sondern der Ökonom Friedrich August Hayek in seinem 1971 ins Deutsche übersetzten Buch "Die Verfassung der Freiheit" formuliert habe. Eine zentrale Frage unter Wirtschaftsliberalen ist bis heute, wie ihre Theorie mit sozialer Ungleichheit umgeht, wenn der Markt sie nicht beseitigt, sondern verstärkt. Ein Ausweg werde bildungspolitisch bislang in der gezielten Förderung begabter Kinder aus unteren Schichten gesehen, "die allein wegen ihrer Herkunft vom Besuch des Gymnasiums ausgeschlossen" sind: "Je mehr Kinder aus unteren sozialen Schichten zum Abitur geführt würden, desto mehr könne von der Verwirklichung der Chancengleichheit gesprochen werden." (S.86)
Gegen diese wenig präzise Definition von Chancengleichheit sei Lernen für Hayek individuell und letztlich zufällig. Darum sei auch die Forderung nach "Startgerechtigkeit" beim Schuleintritt eine Illusion und gleichbedeutend mit der Ausschaltung des Zufalls im Zustandekommen der je individuellen Lernfähigkeit. Um das Problem zu lösen, gebe es für Hayek zwei schlechte Möglichkeiten: "einerseits die staatliche Reglementierung der Chancen, andererseits die Testierung der Leistung." (S.88)
Staatliche Reglementierung, mit Quoten etwa, bedeute für Hayek, dass die einen zulasten der anderen bevorzugt werden, also bestimmte Gruppen gewisse Möglichkeiten erhalten, die anderen Gruppen vorenthalten werden. Es könne daher schon aus logischen Gründen keine Gleichheit der Chancen für alle geben. Die angestrebte "Verwaltungsgerechtigkeit" des Staates bestünde in Wahrheit in "willkürlichen Setzungen", die "mit politischer Rhetorik" versehen würden. (S.88)
Genauso ungerecht wie die Zuteilung der Chancen nach Quoten sei die Zuteilung nach getesteten Fähigkeiten. Die Beschreibung der Fähigkeiten verschiedener Personen verlange einen Vergleich und führe im Ergebnis dazu, eine Einstufung von oben nach unten vorzunehmen, die mit Etikettierungen erkauft werde. Seit dem 19.Jahrhundert werde Chancengleichheit auf die Frage zugespitzt, wer zur höheren Bildung zugelassen werde und wer nicht, und darüber entscheide ein staatliches Monopol, das keine Konkurrenz zulasse und so den Anspruch sozialer Gerechtigkeit nicht auf dem Markt austragen müsse. Die politische Theorie der Chancengleichheit bezieht sich nach Hayek letztlich auf die Verteilung der Abschlüsse und nur in diesem Sinne auf Chancennutzung. Erfolg sei definiert mit dem höchsten, Misserfolg mit dem niedrigsten Abschluss. Wer daran etwa ändern wolle durch Verbesserung der Chancennutzung für alle, werde zumeist die begünstigen, die fähiger sind, ihre Chancen zu nutzen.
So überzeugend Oelkers Hayeks Kritik "am begrifflich unscharfen und moralisch suggestiven Postulat der ‚Chancengleichheit’" findet, so wenig hält er von dessen Alternative, die staatliche Reglementierung der Bildung über den Elementarbereich hinaus aufzugeben und durch einen persönlich verantworteten Wettbewerb zu ersetzen, in dem die Risiken und Chancen von Ausbildungen ohne bürokratische Zuweisungen individuell ausgetragen werden. Der Erfolg müsse selbst gesucht werden. Jedes System kenne Gewinner und Verlierer. Man müsse vorher nur wissen, auf welche Risiken man sich einlasse. Versprochen werden nicht, dass niemand verliert, während jeder die Regeln des Spiels lernen und sich darauf einlassen kann – auf eigenes Risiko. (S.91)
Gegen dieses marktgängige Konzept ist, worauf Oelkers zurecht verweist, Chancengleichheit "in der wohlfahrtsstaatlichen Variante" immer so verstanden worden, "dass es möglichst keine Verlierer geben darf". Ausgeschaltet werden sollte damit aber nicht der "Zufall", sondern "die soziale Vorherbestimmung des Erfolgs, die Hayek als empirisches Phänomen völlig" ignoriere.
Traditionell aber haben Zugang zur Höheren Bildung in Deutschland die höheren Schichten. Weil sich mit den Abschlüssen der Höheren Bildung die besten Chancen für Beruf und Leben verbinden, ist die soziale Ungleichverteilung der Zugänge ungerecht, und zwar umso mehr, je weniger dabei die persönliche Leistung und je mehr die soziale Herkunft eine Rolle spielt. Viele erhalten aufgrund ihrer Herkunft keine Chance für das Erreichen der besten Plätze, oder anders gesagt, die besten Plätze können gar nicht erreicht werden, weil sie sozial besetzt sind, noch bevor irgendeine Leistung abverlangt wird. Eine radikale Marktlösung würde angesichts der sozialen Verhältnisse dieses Problem verschlimmern, nicht etwa lösen. (S.91)
Eine Politik der Chancengleichheit, die Hayeks radikale Kritik an der wohlfahrtsstaatlichen Reglementierung entkräften will, hat nach Oelkers allerdings das bestehende gegliederte System gegen sich. Selektive Leistungstests spiegelten die soziale Herkunft und beförderten des "Matthäus-Prinzip" (Wer hat, dem wird...), "rigide Testprogramme" könnten "die Ungleichheit verstärken und die ohnehin gegebene Benachteiligung bestimmter Gruppe erhöhen". "Die Aussonderung von Kindern mit bestimmten Merkmalen zum Zwecke ihrer speziellen Förderung" erhöhe "die Ungleichkeit", nehme "Deklassierung in Kauf" und verbessere nicht die Chancen der Betroffenen, sondern mindere sie. (S.92)
Die Erfolglosigkeit im bestehenden System zeigt sich Oelkers beispielhaft in der Öffnung des Gymnasiums in den 70er Jahren. Bedient worden sei eine "erweiterte Mittelschicht", nicht die bildungsfernen, einkommensschwachen und sozial benachteiligten Gruppen, die mit dieser Öffnung doppelt bestraft worden seien. Ihnen blieb nicht nur der Zugang zur höheren Bildung weiterhin versperrt, ihre eigene Institution, die Volksschule, sei zusehends entwertet worden. (S.94)
Chancengleichheit als schulisch bearbeitbares Problem
Was hat Oelkers bei dieser Logik des staatlich reglementierten Systems der neoliberalen Kritik der Chancengleichheit entgegenzusetzen? Was ist für ihn "das pädagogisch Entscheidende", das Hayek in seiner Theorie der Chancengleichheit übersieht, indem er nur individuelle Fähigkeiten der Chancennutzung, nicht aber deren soziale Behinderungen wahrnimmt?
Was uns erzieht, sind – das ist Oelkers pädagogische Grundannahme – nicht allein Hayeks "Zufälle" der Chancennutzung, sondern "Vor- und Nachteile im Blick auf Aufgaben und Leistungen", und bestimmte Nachteile, wenn auch nicht alle, ließen sich sehr wohl ausgleichen. Es widerspreche "der schulischen Erfahrung, dass Lernfortschritte durch bestimmt Maßnahmen nicht verbessert werden können". Beim Thema "Chancengleichheit" handle es sich "nicht einfach um ein gesellschaftliches, sondern um ein schulisch bearbeitbares Problem". Es könne Schule nicht darum gehen, "die soziale Stratifikation zu beseitigen und ein ‚mehr’ an gesellschaftlicher Egalität herzustellen". Vielmehr bestehe ihre Aufgabe darin, "mit heterogenen Lerngruppen schulische Leistungsziele anzustreben und dabei soziale Benachteiligungen so gut es geht auszugleichen". Leistungsschwächere Schüler müssten so gefördert werden können, "dass sie bestimmte Ziele ebenso wie alle anderen erreichen können": "Die Maßstäbe sind gleich, ebenso die Bewertungskriterien, das Tempo kann unterschiedlich sein, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht." (S.94 f.)
Der Fokus kann für Oelkers nur "das einzelne Kind und sein Leistungsverhalten" sein, "im Blick auf Standards, die die Schule von allen abverlangt, was voraussetzt, dass sie auch von allen erreicht werden können". Insofern verpasse die neoliberale Theorie der Chancengleichheit "die pädagogische Pointe, nämlich wie Verantwortung übernommen werden kann, ohne immer sofort auf gesellschaftliche Probleme verwiesen zu werden, die sich schulisch gar nicht bearbeiten lassen". Die Antwort sei "eine deutliche Zuständigkeitsbeschränkung":
Lehrkräfte sind für das Erreichen von Zielen in Lehrgängen verantwortlich, nicht für die Veränderung der Gesellschaft. Die Erreichbarkeit der Ziele muss fair definiert sein, sodass alle Schüler eines Lehrgangs bestimmte Kompetenzen ausbilden können und in diesem Sinne nicht zurückbleiben. (S.95)
Damit plädiert Oelkers für ein Standardkonzept, wie es in der von der Bundesbildungsministerin nach PISA 2000 in Auftrag gegebenen Expertise von Wissenschaftlern um Eckhard Klieme entwickelt wurde (Klieme 2003). Standards sind auch in dieser Expertise als "Mindeststandards" zu formulieren, für deren Erreichen die Schule die Verantwortung trägt. Ihre Überprüfung dient der Systemevaluation und darauf basierenden Fördermaßnahmen, nicht aber der Benotung und der Leistungsbewertung. Sie sind schulformübergreifend anzuwenden und verpflichten alle Schulen der Sekundarstufe I, für alle Schüler/innen bestimmte Grundqualifikationen in gesellschaftlich besonders relevanten Lernfeldern zu erreichen.
Was Oelkers in der Nach-PISA-Debatte interessiert, ist die Frage, wie in der verfahrenen bildungspolitischen Situation in Deutschland, die wieder in den alten fruchtlosen Systemstreit zu münden drohe, die Schulen endlich darauf verpflichtet werden können, "für eine Bildung zu sorgen, die in einem hohen Minimum für alle gleich wäre" (S.7). Wie lässt sich "die versteckte Quotierung" bearbeiten und wie kann der Fatalismus überwunden werden, "dass die Schule nicht bearbeiten kann, was die Gesellschaft verursacht"? (S.98 f.)
Bei seinen bildungspolitischen Überlegungen geht Oelkers davon aus, dass in Deutschland "eine skandinavische Gesamtschule" (S.94) nicht kommen wird, auch wenn dieses System, wie PISA zeigt, viel erfolgreicher ist im Bemühen, "ein Bürgerrecht auf Bildung" für alle zu gewährleisten. Trotz dieser pessimistischen Prognose sieht Oelkers im System dennoch Chancen, "die versteckte soziale Quotierung" zu bearbeiten: "durch entschiedene schulische Förderung von Anfang an, die möglichst früh einsetzt und die Selektion verschiebt". Die Entwicklung und Einführung von Förderprogrammen sei jedoch "mit konkreten Bedingungen verknüpft". Solche Programme könnten nur dann mit Aussicht auf Erfolg implementiert werden, wenn u.a. "echte Ziele vorhanden sind", "früh nicht-selektive Tests eingesetzt werden", "verbindliche Standards vorhanden sind", "Lehrkräfte auf Standarderreichung hin geschult werden und die Qualität der Schulen sich am Ergebnis bemisst". (S.98 f.)
Vor diesem programmatischen Hintergrund beschreibt Oelkers, wie – noch unterhalb der Systemfrage – eine Konkretisierung von Chancengleichheit angestrebt werden könnte und eine andere Unterrichtskultur, die auf der Verantwortung für das Erreichen klar definierter Ziele basiert, zu entwickeln wäre. Die deutsche Schule verlasse sich "negativ wie positiv, auf die soziale Herkunft". Sie nutze die Vorteile, beseitige jedoch nicht die Nachteile und verfüge über keine "institutionelle Förderkultur".
Vieles spricht dafür, dass die Nachteile der sozialen Herkunft mit einer frühen und technisch guten Förderpolitik der Schule aufgefangen oder minimiert werden können. Dabei werden in Zukunft nicht-selektive Tests eine zentrale Rolle spielen, zudem eine enge Kooperation zwischen den Lehrkräften, neue Formen der Kommunikation mit den Eltern und nicht zuletzt eine veränderte Rolle der Schüler. Fördern ist keine Größe, die nur die Lehrkräfte in die Pflicht nimmt. Man kann Schüler nur dann fördern, wenn sie das wollen und wenn Fördern für sie keine Diskriminierung darstellt. Das spricht gegen die Auslagerung aus dem Klassenverband oder aus der Schule.
‚Fördern’ ist Teil der Unterrichtskultur, keine Sondermaßnahme für Betroffene. Die Abwertung im Ausdruck ‚Fördern’ entsteht dann, wenn schwache und starke Schüler und so Begabungen unterschieden werden und nur die Schwachen ‚Förderung’ nötig haben. In der Unterrichtskultur der Zukunft geht es darum, dass alle Kinder eines Lehrgangs bestimmte Ziele erreichen können, dazu aber unterschiedliche Ressourcen benötigen. Ziele für alle gleich sind zu verstehen im Sinne von Minimalstandards, die überboten, aber nicht unterschritten werden dürfen. Im Blick auf diese Standards müssen die Schüler gleiche Chancen erhalten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das beschränkt das Problem, aber macht es auf der anderen Seite ungleich vordringlicher als im jetzigen System. Dann nämlich muss der Effekt der Förderung nachgewiesen werden, weil ein gemeinsamer Maßstab vorhanden ist. (S.101 f.)
Was Oelkers zum Thema Chancengleichheit, Standards und Förderkultur als Perspektive für deutsche Schulen beschreibt, erinnert an das pädagogisch eindrucksvolle und international erfolgreiche Schul- und Fördersystem der Finnen, - die Integration der Sonderschule eingeschlossen (Merkelbach 2006). "Aber", wendet Oelkers gegen sein Reformkonzept selber ein, "umgeht das nicht die Systemfrage?" Auch für ihn steht fest, die Selektion am Ende der Grundschule erfolgt zu früh. Die Auslese der Leistungsstarken mindere die Chance der Schwächeren und die späte Einschulung versäume zudem frühe Fördermöglichkeiten für alle. Individuelle Lernpotenziale würden nicht genutzt, "weil die einzige gemeinsame Schulzeit, die Grundschule", dazu nötige, "für frühe Sortierungen zu sorgen". "Warum dann aber nicht doch lieber eine gemeinsame Verschulung bis zum Ende der Sekundarstufe I?" (S.102)
Oelkers Antwort auf die Systemfrage ist einerseits von der Überzeugung bestimmt, dass die Auflösung des gegliederten Systems nicht kommen wird, andererseits fragt er sich, ob sie denn wirklich notwendig ist; denn PISA habe gezeigt, dass bereits heute Tests möglich sind, "die identische Standards und so Kompetenzstufen für unterschiedliche Schultypen anlegen". Dabei könnten "Hauptschulklassen aufgrund ihrer Zusammensetzung und ihrer bisherigen Leistungserfahrungen besser abschneiden als Gymnasialklassen". (S.105)
Vielleicht gibt es dort, wo die Hürden vor Gymnasium und Realschule besonders hoch sind, noch solche Hauptschulklassen, auch wenn alle Informationen über diese immer stärker ausgelesene Schulform dem widersprechen. Wenn Oelkers daraus schließt, die schulpolitische Konsequenz aus der PISA-Studie könne "nicht einfach die Forderung nach Gesamtschulen" sein, "sondern der Einstieg in eine objektives Verfahren der Leistungsbewertung, dem sich alle Typen von Schulen unterziehen", so ist das exakt der Anspruch der Klieme-Expertise an die Formulierung und Anwendung nationaler Bildungsstandards. Ein regelmäßiges nationales Systemmonitoring auf der Basis sorgfältig formulierter Kompetenzmodelle, Kompetenzstufen und Tests hätte indertat zeigen können, wie sehr das Leistungsvermögen der einzelnen Schulformen nach der Grundschule auseinandergeht und wie das dem allseits anerkannten Gebot der Chancengleichheit Hohn spricht. Die KMK hat sich allerdings, um der Systemfrage auszuweichen, dezidiert auf dieses förderorientierte Standardkonzept und damit auf den Einstieg in ein objektives Verfahren einer schulformübergreifenden Leistungsmessung gar nicht erst eingelassen und statt dessen im Schnellverfahren ihre schulformspezifischen Standards für die verschiedenen Schulabschlüsse aus dem Hut gezaubert.
Die achtjährige "Primarschule"
Für Oelkers bleibt uns das gegliedert System, die Hauptschule eingeschlossen, erhalten, auch wenn die Ländervergleichstudie PISA 2003 darauf aufmerksam macht, dass immerhin sechs Bundesländer ohne eine eigenständige Schulform auskommen, und gut auskommen, deren Name "Hauptschule" von Anfang an ein Etikettenschwindel war. Dennoch soll es für Oelkers am Ende seiner Studie nicht bei der wohlbegründeten Forderung nach einem "Einstieg in ein objektives Verfahren der Leistungsbewertung" bleiben. Ein Vergleich der PISA-Ergebnisse mit denen der IGLU-Studie zeige, dass sich die "heterogene Lernkultur" der Grundschule auszahle und sie ihre Leistungsfähigkeit auch im internationalen Vergleich zeige. Am Ende der Sekundarstufe I sei allerdings das Resultat grundlegend anders. In allen Kompetenzbereichen sei das Gesamtergebnis dann nur noch knapp durchschnittlich und die Streuung der Leistung zwischen den Schulformen sehr groß. Wesentlich verantwortlich dafür sei, in der PISA-Studie komme das klar zum Ausdruck, die frühe Selektion und die Dauer der Grundschule. Dieser Befund habe allerdings nur dann Konsequenzen, "wenn das System nicht bleibt, wie es ist". (S.118)
Also plädiert auch Oelkers für eine Systemänderung, wie sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder einmal gefordert wurde: die sechsjährige Grundschule als möglichen Kompromiss zwischen den beiden bildungspolitischen Lagern. Neben der verlängerten Grundschule schlägt Oelkers "eine obligatorische zweijährige Vorschule" vor, die den heutigen Kindergarten ersetzen soll. Daraus ergäbe sich "eine achtjährige, in sich gestufte Primarschule, die das bisherige System nicht auf den Kopf" stelle und "frühe Förderung mit besserer Beachtung des Gebots der Chancengleichheit verbinden" könne. Die Entwicklung jedenfalls zeige, "dass auch gemäßigt selektive Systeme ihre Qualität verbessern können". PISA 2003 liefere dafür Hinweise für die Schweiz, aber auch für den internen deutschen Ländervergleich, der deutliche Verbesserungen einzelner Länder erbracht habe, und das "bei Erhalt der Hierarchie" (S.119)
Die achtjährige "Primarschule" wäre zweifellos eine beachtliche Alternative zum jetzigen System, zumal frühkindliche Bildung und deren Verzahnung mit der Grundschule auch in konservativ regierten Bundesländern nicht mehr nur graue Theorie darstellt. Problematisch an dem Vorschlag ist allerdings nicht die nach einem Ausbau vorschulischer Bildungseinrichtungen, sondern der Übergang auch einer sechsjährigen Grundschule in die nach wie vor hierarchisch gegliederte Sekundarstufe I, mit der sich Oelkers wegen der bekannten "deutschen Reflexe" abfinden zu müssen glaubt.
Oelkers will in der Grundschule die Last der Auslese vermindern, und sicher bieten sechs Jahre Arbeit in heterogenen Gruppen, selbst ohne eine obligatorische zweijährige Vorschule, weitaus bessere Möglichkeiten für individuelle Förderung. Aber der Druck bleibt bestehen, solange das System danach, bezogen auf den Bildungsanspruch und die Abschlüsse, hierarchisch gegliedert ist. Dieser Druck ist nicht nur durch die Öffnung des Gymnasiums seit den 70er Jahren enorm gewachsen, worauf Oelkers zurecht hinweist. Er ist dort besonders groß, wo sozialdemokratische Landesregierungen im Kompromiss mit den Konservativen die Gesamtschule nicht in der Fläche, sondern nur als vierten Schultyp einführen konnten. Die Gesamtschule hat, was die Ländervergleichsstudie PISA 2003 eindrucksvoll belegt, entgegen ihrer Intention, die Probleme einer immer stärker ausgelesenen Hauptschule verschärft. Das gilt auch, ja in besonderem Maße für Berlin - trotz seiner sechsjährigen Grundschule und es gilt überall da, wo – wie in Berlin - in größerem Umfang Gesamtschulen gegründet wurden: in Hamburg, Bremen und in den Flächenstaaten Hessen und NRW.
Abschulung als Entwicklungsblockade im System
Oelkers spricht von "gemäßigt selektiven Systemen", die im internen Ländervergleich von PISA 2003 deutliche Verbesserungen zeigten, auch "bei Erhalt der Hierarchie" (S.119). Gemeint sind damit offensichtlich vor allem die drei neuen Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, die eigentlichen Siegerländer in der jüngsten Ländervergleichstudie. In ihnen gibt es neben dem Gymnasium nur noch eine Schulform, die in Sachsen "Mittelschule", in Sachsen-Anhalt "Sekundarschule" und in Thüringen "Regelschule" heißt. "Gemäßigt selektiv" sind diese System indertat , weil sie mit ihren beiden Schulformen gleichermaßen alle Abschlüsse offen halten und dabei ohne die Hauptschule als eigenständige Schulform auskommen, auch wenn sie von einem bestimmten Zeitpunkt an die Schüler/innen aussortieren müssen, die nur für den Hauptschulabschluss in Betracht kommen. Ähnliches gilt für eine weitere "gemäßigt selektive" ostdeutsche Systemvariante in Brandenburg, das nach der sechsjährigen Grundschule die Kinder auf drei Schulformen, Gymnasium, Realschule und Integrierte Gesamtschule, verteilt, die formal alle Schulabschlüsse, auch den begehrtesten, das Abitur, offen halten. (Merkelbach 2005)
Hierarchisch gegliedert sind diese Systeme ohne eigenständige Hauptschule allerdings vor allem, solange das Gymnasium Schüler/innen mit Lernproblemen in die nicht-gymnasialen Schulformen abschulen kann und die nicht-gymnasialen Schulen diese Schüler/innen, die oft bereits mindestens einmal nicht versetzt wurden, aufnehmen und integrieren müssen. Erst wenn mit der Hauptschule auch der Hauptschulabschluss fällt und das Gymnasium auf das pädagogisch fragwürdige Privileg der Abschulung verzichten muss und für alle Kinder aus der Grundschule die volle Verantwortung übernimmt, werden die Schulformen der "gemäßigt selektiven Systeme" in Ostdeutschland gleichrangig sein. Es sind dann de facto integrierte Systeme, die sich in den gesellschaftlich unterschiedlich angesehenen Schulformbezeichnungen unterscheiden, im übrigen aber als einzelne Schulen mit ihrem besonderen Profil und ihrer vorzeigbaren Leistungsbilanz um die Gunst der Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder werben.
Was das "Privileg" der Abschulung und damit einer verminderten Verantwortlichkeit für die von der Grundschule übernommenen Kinder zahlenmäßig bedeutet, hat PISA 2000 für den Schulformwechsel nach unten zwischen der 7. und 9./10.Klasse ermittelt:
15,6 Prozent aller Schülerinnen und Schüler des Hauptschulbildungsgangs sind seit dem 7.Schuljahr aus Realschulen und Gymnasien zugewandert, und 9,4 Prozent aller Lernenden im Realschulbildungsgang stammen aus dem Gymnasium. Der Bildungsgang Hauptschule wird – wenn überhaupt – lediglich in Richtung Integrierte Gesamtschule verlassen (7,1 % aller Schülerinnen und Schüler in Gesamtschulen). Das bedeutet, dass alle nicht-gymnasialen Schulformen zwischen der 7. und der 9./10. Klassenstufe eine größere Zahl an Hinzukommenden zu integrieren haben: 25 Prozentan Integrierten Gesamtschulen, 18 Prozent an Hauptschulen, 12 Prozent im Realschulbereich. Lediglich das Gymnasium ist hier ein Hort der Stabilität: 99,4 Prozent seiner 15-Jährigen waren auch in der 7.Klasse schon in dieser Schulform. (PISA 2000, S.476 f.)
Begründet wird dieser als Abstieg vollzogene Schulformwechsel als eine "begabungsgerechte" Maßnahme, die im Interesse leistungsschwacher und angeblich falsch zugewiesener Schüler/innen notwendig sei. Was aber bedeutet dieser massive Eingriff für die Betroffenen, die nicht nur die Klassengemeinschaft verlassen wie bei Nichtversetzung, was schon demütigend genug sein kann, sondern die das ganze schulische Umfeld verlieren? Und was bedeutet der Schulformwechsel für die davon betroffenen Schulen und deren Leistungsfähigkeit? Die Ausgangssituation ist doch diese:
Da wechseln vom Gymnasium, das von der Grundschule überwiegend die Leistungsstarken zugewiesen bekommt, allein zwischen dem 7. und 9./10. Schuljahr noch 11,2 Prozent in Schulformen, die ihrerseits in mehr oder minder großem Umfange die weniger Leistungsstarken von der Grundschule übernommen haben und damit ja schon alle Hände voll zu tun hätten. Das allerdings in unterschiedlichem Maße. Während die Realschule keine von der Grundschule für die Hauptschule empfohlene Kinder übernehmen muss, ihrerseits aber Schüler/innen mit Lernproblemen weiterreichen kann und es auch ordentlich tut, hat die Integrierte Gesamtschule mit einem hohen Anteil von Schüler/innen mit einer Hauptschulempfehlung noch 25 Prozent Schulformwechsler im 7. bis 9./10. Schuljahr zu integrieren, wofür sie dann von Gegnern dieser Schulform auch noch gerne leistungsmäßig in die Konkurrenz mit dem Gymnasium gedrängt wird.
Die Hauptschule schließlich, in der sich überwiegend die Bildungsverlierer der Grundschule versammeln, muss zusätzlich 18 Prozent am Leistungsanspruch ihrer Schulform Gescheiterte zwischen Klasse 7 und 9 verkraften. Sie wird für ihre enormen pädagogischen und sozialen Probleme mit einem immer größeren Imageverlust bestraft und von den Eltern aus nachvollziehbaren Gründen immer weniger akzeptiert.
Das Instrument der Abschulung abzuschaffen wäre schon aus Gründen der Fairness eine vordringliche Maßnahme. Für die Schulformen, die abschulen, wäre es zugleich die Chance, Verantwortung nicht nur auf Probe für die von der Grundschule anvertrauten Kinder zu übernehmen und sich ernsthaft frühzeitig und kollegial um individuelle Förderung zu kümmern für diejenigen, die langsam sind und weniger leistungsstark und die den Anschluss zu verlieren drohen.
Für die de facto gleichrangigen und integrierten Schulen der Sekundarstufe I brauchte dann die Grundschule, ob vier- oder sechsjährig, auch keine Sortierungen mehr vorzunehmen, weil Eltern, ohne die begründete Angst vor einer perspektivarmen Hauptschule für ihre Kinder, den Blick frei bekommen für die besonderen pädagogischen Qualitäten einer Schule, unabhängig von ihrer gesellschaftlich mehr oder minder angesehenen Schulformbezeichnung.
Was Oelkers im hierarchisch gegliederten System für Hauptschulen "in besonders schwieriger Lage" fordert, sie nämlich "gezielt zu unterstützen, und zwar zu Lasten der besser gestellten Schulen" (S.114), gilt dann für alle "belasteten" Schulen der Sekundarstufe I, die es auch nach Auflösung der Hauptschule weiterhin geben wird, nicht nur in sozialen Brennpunkten.
Die Politik ist am Zuge
Die Logik von Oelkers Studie zur "Gesamtschule in Deutschland" ist mehr als der Kompromissvorschlag einer erweiterten Grundschule. Zu sorgfältig erörtert der den Begriff und die Bedingungen der schulischen Chancengleichheit in einer Gesellschaft, die zwar streng auf der Schulpflicht besteht, notfalls unter Polizeieinsatz, der es aber bis auf den heutigen Tag schwer fällt, diese Pflicht, achtsam und unter angemessener Ressourcenzuweisung, an ein "Bürgerrecht auf Bildung" zu knüpfen und damit die Schulen darauf zu verpflichten, "für eine Bildung zu sorgen, die in einem hohen Minimum für alle gleich wäre" (S.7).
Ob dafür die Grundschule neben einer obligatorischen Vorschule und dem Verzicht auf die wissenschaftlich fragwürdigen Zurückstellungen noch um zwei Jahre verlängert wird, - entscheidend für ihre volle Leistungsfähigkeit wird in jedem Fall die vollständige Entlastung vom Einsortieren in Schulformen sein, in denen immer noch die "niedere" und "höhere" Bildung des Ständestaates überdauert und nach wie vor gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis politisch als "begabungsgerecht" legitimiert wird. Auf diesem Weg, den zahlreiche deutsche Reformschulen, überwiegend reformierte Integrierte Gesamtschulen, bereits erfolgreich gehen, sind die ostdeutschen Länder nach den Ergebnissen der Ländervergleichsstudie PISA 2003 zu einer starken Herausforderung für die alten Bundesländer geworden. Das betrifft die traditionell dreigliedrigen Systeme im konservativ regierten Süden. Es betrifft mehr noch die unter sozialdemokratischen Regierungen viergliedrig gewordenen Systeme, in denen mit ihren ausgezehrten Hauptschulen der dringendste strukturelle Reformbedarf besteht.
In einer von der Last der Auslese befreiten Sekundarstufe I kann dann auch die unbefriedigende Situation beendet werden, dass Schüler/innen des auf acht Jahre verkürzten Gymnasiums nach Klasse 9 den Mittleren Schulabschluss erwerben können, Schüler/innen der Realschule und der Integrierten Gesamtschule aber erst nach Klasse 10, um dann, wenn sie in die gymnasiale Oberstufe wechseln wollen, in die 10.Klasse zurückgestuft zu werden. Das mag angesichts der z.Zt. stofflich überlasteten gymnasialen Mittelstufe noch als Vorteil gesehen werden, ist aber dann nicht mehr begründbar, wenn alle Schulen der Sekundarstufe I unter vergleichbaren formalen Bedingungen auf den Mittleren Schulabschluss vorbereiten.
Was aber geschieht, wenn es keine Hauptschule und auch keinen Hauptschulabschluss mehr gibt, mit den Jugendlichen, die, ohne von Abschulung bedroht, trotz anregungsreicherem Lernmilieu und bei verstärkter individueller Förderung, die Mindeststandards eines Mittleren Schulabschlusses nicht erreichen? Dafür scheint die finnische Lösung durchaus auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Dort haben diese Schüler/innen in einem allgemeinbildenden 10.Schuljahr eine zweite Chance für einen Abschluss, der immer mehr die unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung um eine Lehrstelle darstellt.
Wenn in der Sekundarstufe I ohne die Hauptschule als Entlastungsschule die bestehenden Schulformen zu gleichrangigen werden, so scheint es allerdings unter dem Aspekt der Chancengleichheit mittelfristig notwendig, dass, neben den bereits bestehenden Oberstufenkollegs, Gymnasien von 5 bis 12 zwei Schulen von 5 bis 9 und von 10 bis 12 werden, mit je eigenem Kollegium und eigener Leitung, damit Schüler/innen aus nicht-gymnasialen Schulen nicht in ein geschlossenes System einsteigen und dadurch Nachteile erfahren können.
Es geht, mit den traurigen Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte, nicht darum, da stimme ich Jürgen Oelkers zu, das bestehende System auf den Kopf zu stellen, es aber dort endlich zu verändern, wo es sich in seiner Leistungsfähigkeit selbst blockiert durch eine zu frühe Selektion, aber auch durch eine starre Hierarchie der Schulformen in der Sekundarstufe I, mit ihren selektiven Instrumenten der Nichtversetzung und vor allem der Abschulung. Die Front derer, die sich gegen die notwendige Strukturreform zur Wehr setzen, ist längst ins Wanken geraten, insbesondere durch Stimmen aus der Wirtschaft, die besagen, dass Hauptschulabgänger, auch diejenigen mit einem Abschluss, immer weniger ausbildungsfähig sind.
Die Beweislast der wissenschaftlichen Erkenntnisse, das zeigt auch eindruckvoll Jürgen Oelkers Studie, für eine andere Schul- und Unterrichtskultur, ist mittlerweile so erdrückend, dass die politischen Akteure, die für längeres gemeinsames Lernen eintreten, endlich den Mut fassen sollten, dafür in der Ernstsituation eines Landtagswahlkampfes auch um eine Mehrheit in der Bevölkerung zu werben. Dass dieser Mut nach PISA 2000 nicht mehr politischem Übermut gleicht, zeigt die letzte schleswig-holsteinische Landtagswahl, in dem die SPD im Einvernehmen mit ihrem Koalitionspartner, den Grünen, und dem Schleswigschen Wählerverband mit einem moderaten, von skandinavischen Schulsystemen inspirierten Schulprogramm antrat. Das Programm basierte auf einem umfangreichen wissenschaftlichen Gutachten, in dem neben den pädagogischen auch ökonomische Gesichtspunkte der Finanzierbarkeit des Systems bei rückläufigen Schülerzahlen eine wichtige Rolle spielten (Rösner 2004). Dass die Koalition gegen alle Prognosen nur eine knappe Mehrheit bekam, hatte wohl weniger bildungs- als arbeitsmarktpolitische Gründe und dass dann auch noch die Wahl der Ministerpräsidentin scheiterte, war gewiss auch nicht der Racheakt eines Bildungspolitikers.
Man kann, soviel zumindest zeigt das schleswig-holsteinische Beispiel, mit einer wissenschaftlich fundierten, moderaten Strukturreform im Wahlprogramm wohl noch keinen Waffenstillstand der alten Kontrahenten erwarten, muss aber auf dem Informationsstand nach PISA 2000 und 2003 auch nicht an einem solchen Vorhaben scheitern, vorausgesetzt es gelingt zu vermitteln, dass eine solche Reform keine enge parteipolitische Klientelpolitik bedient. Es gilt die wissenschaftliche Erkenntnis in den öffentlichen Diskurs einzubringen, dass eine Schule ohne die Last der permanenten Auslese Spielräume gewinnt für die individuelle Förderung aller: der Schüler/innen, bei denen Lernprobleme auftreten, der großen Gruppe in der Mitte, die gut oder ganz gut über die Runden kommen, aber auch der weit Entwickelten, die eine besonders sensible Förderung brauchen, damit neben ihrer stark entwickelten kognitiven Intelligenz ihre sozialen und emotionalen Anlagen nicht verkümmern.
Erst die Übernahme der vollen Verantwortung für alle Schüler/innen schafft die Notwendigkeit, gemeinsam im Kollegium Lernpläne für jedes einzelne Kind zu entwickeln und sie mit Formen gemeinsamen Lernens zu verbinden. Dass dies ein hoher Anspruch, aber keine realitätsferne Zielsetzung ist, zeigen nicht nur skandinavische Systeme, allen voran das finnische. Dieser vollen Verantwortung stellen sich viele deutsche Reformschulen, die dafür hohes Ansehen bei Eltern genießen und entsprechend gut frequentiert sind. Mehr Verantwortung übernehmen, das könnte auch ein Weg für unsere Schulen sein, ihr im internationalen Vergleich äußerst geringes gesellschaftliches Ansehen zu heben. (Roller 2006)
Literatur
Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Frankfurt/M: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2003.
Merkelbach, Valentin: Die Strukturfrage ist längst gestellt. Schulpolitische Perspektiven der Ländervergleichsstudie PISA 2003. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/. Dezember 2005.
Merkelbach, Valentin: Was machen wir mit der Risikogruppe an unseren Schulen? Von Wegen und Holzwegen in den Reformbemühungen seit PISA 2000. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/. April 2006.
Oelkers, Jürgen: Gesamtschule in Deutschland. Eine historische Analyse und ein Ausweg aus dem Dilemma. Weinheim 2006.
PISA 2000. Hrsg. Deutsches PISA-Konsortium. Opladen 2001.
Rösner, Ernst: Schulentwicklung in Schleswig-Holstein. Veränderungen der Schulstruktur in Schleswig-Holstein als Konsequenz demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Gutachten des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IfS) Universität Dortmund. Vervielf. Ms. Dortmund 2004.
Roller, Edeltraud: Das Bildungs- und Gesundheitssystem im Urteil der Bürger. In: Aus Politik und Zeitgeschehen (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament) 30-31/2006, 24.Juli 06, S.23-30.