Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Hat die deutsche Gesamtschule eine Zukunft?

Oktober 2007

Es ist eine zwiespältige Situation, in der sich die Gesamtschule in der aktuellen Strukturdebatte in den einzelnen Bundesländern befindet. Da wollen die einen in einer "Schule für alle Kinder" das integrative Konzept der Gesamtschule weiterentwickeln, sich aber von der Bezeichnung verabschieden. Die andern würden gerne mit der Bezeichnung auch den Anspruch dieser Schule loswerden. Daneben gibt es noch die Bundesländer, in denen die Gesamtschule keine oder nur eine marginale Rolle spielt und die an diesem Zustand festhalten wollen, gegen den wachsenden Druck gesellschaftlicher Initiativen für ein längeres gemeinsames Lernen.

"Leistungsstarke Gesamtschulen"

In dieser für die Weiterexistenz und – entwicklung der Gesamtschule prekären Situation zieht die Interessenvertretung "Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule" (GGG) Bilanz des bisher Geleisteten. In einer 2007 veröffentlichten Broschüre "Leistungsstarke Gesamtschulen" geht es darum, wie es im Untertitel heißt, die Integrierte Gesamtschule "im Spiegel empirischer Schulleistungsvergleiche" darzustellen. Die Broschüre beginnt mit der Feststellung:

Dass "wir" Probleme mit der Chancengleichheit und der großen "Risikogruppe" im unteren Leistungsbereich haben, ist nicht mehr umstritten. Doch obwohl die hierarchisch gegliederte Schulstruktur offiziell als nicht ausschlaggebend für die Erklärung dieser Probleme gilt, wird doch in allen Ergebnisberichten besonderes Gewicht auf das Abschneiden der Gesamtschule gelegt. Die Gesamtschule wird so in die Ergebnisdarstellung einsortiert, als ob sie eine weitere Schulform im gegliederten Schulsystem darstelle. (Leistungsstarke Gesamtschulen 2007, S.7)

Bei dieser Darstellung zögen die Kritiker der Gesamtschule den Schluss: Sie hat versagt; denn ihre Ergebnisse liegen nicht gleichauf mit dem Gymnasium, sondern zwischen Haupt- und Realschule. Also könne sie nicht die Lösung der anerkannten Probleme mit der Leistung und der Chancengleichheit sein. Dies, stellt die GGG fest, sei die weithin herrschende Meinung in der Bildungspolitik, in großen Teilen der Wissenschaft und der Medien. (S.7)

Um diese Auffassung zu überprüfen, hat ein Arbeitskreis der GGG die Ergebnisse der empirischen Studien genauer unter die Lupe genommen und sich dabei ausdrücklich auf den Leistungsbereich beschränkt, auch wenn Strukturfragen nicht nur unter diesem Aspekt, sondern letztlich normativ zu beantworten seien. Dazu stellt der Arbeitskreis vorab klar:

Die Gesamtschule ist keine weitere Schulform neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Sie ist ihrem Konzept , ihrem Selbstverständnis und ihrer Wirklichkeit nach die Alternative zum gegliederten Schulsystem insgesamt. Ein Vergleich der Gesamtschule mit dem Gymnasium ist also unsinnig, denn das Gymnasium stellt ja nur einen Ausschnitt des gegliederten Schulsystems dar. Allerdings bringt es die Systemkonkurrenz mit sich, dass der größte Teil der Kinder mit Gymnasialempfehlung das Gymnasium besuchen und nur ein geringer Teil die Gesamtschule. (S.7 f.)

Wie alle neueren empirischen Studien bestätigten, sei neben der sozialen Herkunft die "schulnahe" Sprachkompetenz "ein mächtiges zusätzliches Selektionskriterium am Übergang von der Grundschule zur Sekundarschule". Sie führe "besonders häufig zur Empfehlung und Wahl des Gymnasiums bzw. der Realschule, wenn sie gut ausgebildet" sei, und "überdurchschnittlich zur Empfehlung von Gesamtschule oder Hauptschule, wenn sie noch Defizite" aufweise. (S.9)

Wenn das sich so verhält, ist für den Arbeitskreis die Frage, welche Schüler/innen "die höchsten Punktzahlen und Kompetenzen aufweisen", weniger interessant als die Frage, "ob es der Schule in der Sekundarstufe I gelingt, ihre Schüler und Schülerinnen zu erkennbarem Lernzuwachs zu führen". (S.8)

Unter dieser Fragestellung konzentriert sich der Arbeitskreis auf die drei Bundesländer Brandenburg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Sie haben gemeinsam einen hohen Anteil Integrierter Gesamtschulen, in denen bei der Anmeldung "der Anteil des oberen Leistungssegments der Grundschule klar unterrepräsentiert, der Anteil des unteren Leistungssegments der Grundschule überrepräsentiert" sei. Dieses Bild gelte jedoch nicht mehr am Ende der Klasse 10 und danach. "Mehr als zwei Drittel der Schüler und Schülerinnen" erreichten dann "mittlere und höhere Schulabschlüsse". (S.9)

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Analysiert werden für diese drei Länder die folgenden Leistungsstudien:

Hamburg:

LAU: Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern an Hamburger Schulen Klassenstufen 5-13, durchgeführt von Reiner H. Lehmann u.a., 1997-2005.

Brandenburg:

Schulforschung in Brandenburg, H.1: Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik (QuaSUM). Hrsg.: Ministerium für Bildung des Landes Brandenburg, 2000.

Nordrhein-Westfalen:

Zentrale Lernstandserhebungen in der Jahrgangsstufe 9 im Jahr 2004. Erster Kurzbericht zur wissenschaftlichen Begleitung: www.learnline-nrw.de.

Vor der Darstellung der Gesamtschulergebnisse in den drei Bundesländern untersucht der Arbeitskreis das Abschneiden der Gesamtschulen im zweiten Ländervergleich von PISA 2003 mit dem Ergebnis:

Trotz des in allen Ländern auftretenden creaming-Effekts bei den Anmeldungen an Gesamtschulen (sprachlich und sozial starke Kinder gehen überwiegend zum Gymnasium), ragen die Spitzenleistungen in fast allen Bundesländern weit in den Gymnasialbereich hinein und oft über die Realschul-Spitzenleistungen hinaus. Aber auch am unteren Ende des Leistungsspektrums sieht es überwiegend gut aus. Es gelingt den Gesamtschulen in allen Bundesländern, bei denen die Gesamtschulen dargestellt sind, die leistungsschwächsten ihrer Schüler und Schülerinnen zu höheren Leistungen zu führen, als dies an den Hauptschulen der Fall ist. Dies ist plausibel. Dass die größere Heterogenität der Schülerschaft gerade auch für die Leistungsschwächeren fördernd wirkt, ist ja ein zentrales Argument für die Gesamtschule. Die lange gepflegte Behauptung, die Konfrontation mit den leichter lernenden Kindern wirke entmutigend und demotivierend auf sie, wird durch die Daten in jedem dargestellten Bundesland widerlegt. (S.22/24) (Vgl. Merkelbach 2005; darin: Die Leistungsbilanz der Integrierten Gesamtschule, S.7 f.)

Was sich im PISA-Ländervergleich für die Gesamtschulen ergibt, sieht der Arbeitskreis im Blick auf die oben genannten länderspezifischen Studien bestätigt. In Hamburg etwa zeigten die LAU-Studienzur Lernausgangslage und Lernentwicklung in den Klassen 5 bis 11, "dass die Gesamtschulen nicht nur die gesamte Breite ihrer Schülerschaft fördert, sondern in gleicher Weise auch die leistungsstärkeren Schüler". (S.44) Aus der Studie selbst zitiert der Arbeitskreis das Resümee:

Die beträchtliche Streuungsbreite an den Gesamtschulen bei gleichzeitig hohem Leistungszuwachs scheint ein Indiz dafür zu sein, dass das Bemühen, Anschluss an das übliche Gymnasialniveau zu finden, recht erfolgreich und jedenfalls nicht um den Preis der Vernachlässigung des vergleichsweise weniger lernstarken Segments in diesem Teil des Leistungsspektrums erfolgt. (Zitiert nach: Leistungsstarke Gesamtschulen, S.44 f.)

Für die "Zentralen Lernstandserhebungen in den Jahrgangsstufen 9 im Jahr 2004" in NRW wurden, um den Schulen möglichst faire Rückmeldungen zu geben, "Standorttypen" gebildet, in die u.a. das Wohngebiet, der Bildungsabschluss der Eltern, der Anteil an Migrantenkindern eingingen. Typ 1 etwa bezeichnet "Schulen mit dem sozial schwächsten Einzugsgebiet ihrer Gruppe". Was die soziale Zusammensetzung ihrer Schülerschaft betrifft, unterscheiden sich Gesamtschulen in NRW nur wenig von Hauptschulen. D.h. die Schülerschaft teilt sich fast vollständig zwischen Gymnasium und Realschule auf der einen, sowie Gesamtschule und Hauptschule auf der anderen Seite. (S.48 f.)

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Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der Lernstandserhebungen in NRW zu sehen, die der Arbeitskreis so zusammenfasst: Außer im Grundkurs des Standorttyps 1 ("Schulen mit dem sozial schwächsten Einzugsgebiet ihrer Gruppe") seien "die Leistungen in allen anderen Kursen zum Teil deutlich über der vergleichbaren sozialen Referenzgruppe der anderen Schulformen". Die Lernzuwächse seien "beachtlich und höher als in vergleichbaren Sozialgruppen des gegliederten Schulsystems". (S.50)

Das dritte Bundesland, das der Arbeitskreis genauer unter die Lupe nimmt, Brandenburg, hat nach der Wende die vollständige Anpassung an den Westen verweigert und, ähnlich wie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, auf die Einrichtung eigenständiger Hauptschulen verzichtet. Im Gegensatz zu diesen drei Bundesländern wurde in Brandenburg aber neben Gymnasium und Realschule auch die Integrierte Gesamtschule eingeführt, mit einem Schüler/innen-Anteil von mehr als 50 Prozent. Alle Schüler/innen, die die Hauptschule besuchen würden, gehen in Brandenburg auf Gesamtschulen.

Die Studie "Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik" (QuaSUM) von 1999 kam, wie der Arbeitskreis zusammenfassend feststellt, zu dem Ergebnis, dass von der Gesamtschule als leistungsmäßiger "Ersatz-Hauptschule" keine Rede sein könne; dass "mehr als die Hälfte aller Lernenden an Gesamtschulen" in Mathematik den Erweiterungskurs besuchten. Dennoch sei es in Brandenburg, sogar unter Berufung auf diese Studie, beim negativen Image der Gesamtschule geblieben.

Die Ergebnisse der Studie werden dann, wie der Arbeitskreis nachweist, im PISA-Ländervergleich 2003 eindrucksvoll bestätigt. Das gelte vor allem für den unteren Leistungsbereich, der ja hauptsächlich von der Gesamtschule verantwortet werde. Im Vergleich mit Bayern und Baden-Württemberg, die für ihre guten Hauptschulergebnisse gelobt wurden, liegen die Ergebnisse in Brandenburg gleichauf, was "höchst bemerkenswert" sei, als die von PISA 2003 erfassten Jahrgangsanteile in den drei Bundesländern weit auseinanderliegen. Während in Bayern 85 % und in Baden-Württemberg 86 % des Jahrgangs der Fünfzehnjährigen getestet wurden, waren es in Brandenburg 96,6 %. Dazu der Arbeitskreis:

Generell gilt: Je weniger Jugendliche am Test teilnahmen bzw. im Bericht erscheinen, umso wahrscheinlicher ist es, dass die fehlenden Schüler und Schülerinnen die leistungsschwächsten sind. Sie befinden sich – als Fünfzehnjährige – in der Regel nicht mehr im allgemein bildenden Schulsystem. (S.30)

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In diesem Falle stelle sich das Gesamtergebnis im unteren Leistungsbereich noch besser dar, als es von PISA gemessen wurde. Für den oberen Leistungsbereich zitiert der Arbeitskreis den PISA-Ländervergleich 2003, wonach die leitungsstärkere Hälfte der Jugendlichen an den Integrierten Gesamtschulen und Realschulen Kompetenzwerte erreicht, "die auf dem gleichen Niveau liegen wie die der leistungsschwächeren 60 bis 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien". (PISA-Konsortium Deutschland 2005, S.185)

In keinem Bundesland, stellt der Arbeitskreis aufgrund der PISA-Daten fest, haben weniger Schüler/innen eine "verzögerte Schullaufbahn" als in Brandenburg (20,4 %), gibt es demnach weniger Zurückstellungen am Schulanfang und Klassenwiederholungen und ist der Zusammenhang von sozialer Herkunft geringer ausgeprägt.

Brandenburg mit seinen 50 % Gesamtschülern und Gesamtschülerinnen steht in drei von vier Bereichen an der Spitze der Bundesländer, die international als wichtig gelten:

  • der Förderung am unteren Ende des Leistungsspektrums
  • der Förderung im oberen Leistungsbereich
  • der relativ geringsten Vergeudung von Lebenszeit im Schulalter
  • der relativ stärksten Entkoppelung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. (S.31)

Im klaren Widerspruch zu dieser Leistungsbilanz sieht der Arbeitskreis die schulpolitischen Konsequenzen, die die Große Koalition in Brandenburg nach der Landtagswahl 2005 zog, indem sie alle Gesamtschulen ohne eine eigene Oberstufe mit Realschulen zu "Oberschulen" zusammenlegte. Dabei blieben von 174 Gesamtschulen noch 39 übrig, denen, wie der Arbeitskreis befürchtet, bei zurückgehenden Schülerzahlen auch die Umwandlung droht, sobald ihre Oberstufe nicht mehr der gesetzlichen Vorgabe von 60 Schüler/innen entspricht.

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Gesamtschulen werden gebraucht

Wenn in Brandenburg beim großen Gesamtschulreinemachen 39 übrig geblieben sind, so gibt es immerhin noch Schulen, die, nicht wie die Oberschulen, ihrem Status entsprechend zweitrangige Schulen unterhalb des Gymnasiums sind, in die das Gymnasium Schüler/innen mit Lernproblemen abschieben kann. Diese 39 Gesamtschulen mit einer eigenen Oberstufe sind nach wie vor für alle Kinder der Grundschule offen und natürlich werden auch die Gesamtschulkollegien in Oberschulen nicht ihre integratives Konzept über Bord werfen. Das Problem ist nur, dass die sozialdemokratisch geführte Landesregierung, vor allem demografisch motiviert, ein zweigliedriges System à la Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen anstrebt, in dem es dann keine Schule mehr geben wird, die sich in der Sekundarstufe I als "ersetzende" Schule versteht. Es wird nach dem sechsten Grundschuljahr das Gymnasium geben und nicht daneben, sondern darunter die Oberschule.

Es sei denn, es entsteht auch in Brandenburg, wie in einer Reihe anderer Bundesländer, eine Bürgerinitiative für "gemeinsames Lernen von 1 bis 10", die nicht nur erfolgreich den Erhalt der verbliebenen Integrierten Gesamtschulen verteidigt, sondern darüber hinaus fordert, dass auch die Oberschule formal und in ihrem Bildungsanspruch dem Gymnasium gleichgestellt wird, bei entsprechenden Schülerzahlen eine eigene Oberstufen erhält oder ihre Schüler/innen am Ende der Sekundarstufe I in ein Oberstufenzentrum für mehrere Schulen der Sekundarstufe I schicken kann. Gymnasien hätte dann nicht mehr das pädagogisch so fragwürdige Privileg, Schüler/innen mit auftretenden Lernproblemen an Schulen abzuschieben, die ohnehin die Leistungsschwächeren von der Grundschule übernehmen. Dies könnte, auch aus demografischen Gründen, für Gymnasien der Anlass sein, mit einem anderen pädagogischen Programm um die Eltern zu werben, die inzwischenmehr für ihr Kind wollen als ein traditionelles Gymnasium.

Alle Schulen des Landes, die sich auf den Weg machen zu einer Schule für alle Kinder, die mit besonderem Förderbedarf eingeschlossen, brauchen auf diesem Weg das Know how erfolgreicher Gesamtschulen. Sie brauchen die Erfahrungen und pädagogischen Konzepte von Schulen wie der Montessori-Gesamtschule in Potsdam, die inzwischen Oberschule heißt und in der auch Kinder mit besonderem Förderbedarf willkommen sind. (Vgl. Kahl 2005)

Härter noch als die Gesamtschule in Brandenburg könnte es die IGS in Hamburg treffen, wenn es nach der Wahl 2008 weiterhin nach dem Willen der CDU geht. Denn dort soll es trotz der Erfolge, die PISA und LAU ermittelt haben, überhaupt keine Gesamtschulen mehr geben. Sie sollen ausnahmslos aufgehen mit Haupt- und Realschulen zusammen in einer "berufsorientierten" Stadtteilschule neben dem "wissenschaftsorientierten" Gymnasium. (Merkelbach 2007)

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Anders als zur Großen Koalition in Brandenburg gibt es in Hamburg allerdings eine Opposition aus SPD und Grünen, die an einer für alle Kinder offenen Schule festhalten wollen und es gibt gegen den zweigliedrigen Schulplan der CDU eine "Volksinitiative": "Hamburg braucht eine Schule für alle", - ein Bündnis aus Schüler/innen, Lehrer/innen, Gewerkschaften und Parteien, das ein Volksbegehren und zur Europawahl 2009 einen Volksentscheid über die künftige Schulform in Hamburg anstrebt.

Während in Hamburg trotz beginnendem Wahlkampf von den beiden politischen Lagern eher moderat über eine grundlegende Schulreform gestritten wird, tobt in NRW, dem dritten Bundesland mit vielen Gesamtschulen, ein erbitterter Schulstreit, ausgelöst durch einen Parteitagsbeschluss der SPD vom 25.8.07 (Die beste Bildung für alle, 2007). Streitpunkt ist weniger, was über vorschulische Bildung, Studium oder berufliche Bildung beschlossen wurde, sondern, wie könnte es anders sein, die Schulstrukturfrage. Die SPD von NRW hat nach Jahren bildungspolitischer Stagnation als Regierungspartei, in der die Gesamtschule nicht nur von der CDU, sondern auch von führenden Sozialdemokraten für das, was sie leistet, wenig Anerkennung erfuhr, die Zeit der Opposition und die Erfahrungen aus PISA für einen bildungspolitischen Neuanfang genutzt.

Im schulpolitischen Teil des Beschlusses wird das gegliederte Schulsystem als "nicht zukunftsfähig" erklärt, weil es "den Anforderungen der modernen demokratischen Wissensgesellschaft nicht gerecht" werde.

Nordrhein-Westfalen braucht seine Kinder, seine Talente – und zwar alle! Das mehrgliedrige Schulsystem jedoch verschwendet Talente. Zu viele Schülerinnen und Schüler werden aus höheren Schulen abgeschult, zu viele bleiben sitzen oder verlassen die Schule ohne Abschluss. Und noch immer ist die Abiturquote zu gering. (S.9)

Mit "alle" meint der Beschluss ausdrücklich auch Kinder mit Behinderungen, die besonderer Förderung bedürfen. Diese Förderung dürfe "in der Regel nicht zu einer Beschulung in besonderen Einrichtungen führen". Deshalb müssten "Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im jeweiligen System ihren Möglichkeiten entsprechend optimal darin unterstützt" werden, "an gesellschaftlichen Entwicklungen teilzuhaben, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen". Dies schließe "die Vorbereitung auf die Teilhabe am Erwerbsleben ein". Alle Bildungseineinrichtungen müssten "auf ein barrierefreies Lernen" hinwirken. In "sonderpädagogischen Förderzentren" sollen "besondere Lern- und Unterrichtskonzepte für die entsprechenden Förderbedarfe" entwickelt werden, die Schulen und Kindertagesstätten beraten, das Angebot an "Frühförderung" koordinieren und "personell und fachlich eng mit den allgemeinen Schulen" zusammenarbeiten. (S.4)

Was auch in NRW besonders zum Handeln zwingt, sind rückläufige Schülerzahlen und die sich verschärfenden Probleme mit der Hauptschule, die "unter einer erschreckend niedrigen Akzeptanz" leide und trotz guter Arbeit der Kollegien kaum in der Lage sei, "den Schülerinnen und Schülern Anreize und berufliche Perspektiven zu bieten". (S.9 f.)

In dieser Situation startet die SPD nun nicht eine Offensive für die Gesamtschule, die nach Zahlen von 2005, also noch in der Zeit der eigenen Regierungsverantwortung, für 32 % der an Integrierten Gesamtschulen angemeldeten Kindern keinen Platz hatte (Leistungsstarke Gesamtschulen 2007, S.20). Der "richtige Weg" für die NRWSPD heißt jetzt "Gemeinschaftsschule":

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  • Die Gemeinschaftsschule nimmt die Kinder nach der Grundschule auf und ist bis zur Klasse 10 für deren Bildungserfolg verantwortlich.
  • Am Ende der Klasse 10 können alle Schulabschlüsse der Sekundarstufe I erreicht werden
  • In den Klassen 5 und 6 findet für alle Kinder ein gemeinsamer Unterricht statt
  • Ab Klasse 7 oder später wird nach gemeinsamer Entscheidung der Schule, des Schulträgers und der Eltern entweder ein vollständig integrierter Unterricht weitergeführt oder eine Differenzierung beispielsweise in Haupt-, Realschul- und Gymnasialklassen vorgenommen.
  • Die Gemeinschaftsschule hat eine gemeinsame Schulleitung und ein gemeinsames Kollegium. (S.10 f.)

Was alles über die innere Verfasstheit der Gemeinschaftsschulen, wohl vor allem über die, die "einen vollständig integrierten Unterricht" weiterführen, gesagt wird, ist auch in NRW seit über drei Jahrzehnten pädagogisches Programm Integrierter Gesamtschulen. Für sie fehlt in dem Beschluss allerdings die wenn auch späte Anerkennung für eine Integrationsleistung unter oft sehr schwierigen Bedingungen, vor allem in der massiven Konkurrenz zu Gymnasium und Realschule, in die sie in der Öffentlichkeit von ihren Gegnern gezwungen wird. Immerhin heißt es im letzten Satz des Kapitels über die Gemeinschaftsschule:

Gesamtschulen werden als Gemeinschaftsschulen in integrierter Form weitergeführt. (S.13)

Wie immer die Auseinandersetzung um die Gemeinschaftsschule und vor allem den Erhalt eigenständiger Gymnasien in den nächsten Jahren in NRW weitergehen wird, - es gibt so etwas wie eine Bestandsgarantie der SPD für die Gesamtschule unter dem neuen Etikett "Gemeinschaftsschule". Bis dahin wird es in NRW, auch nach Beschlusslage der CDU, Integrierte Gesamtschulen geben und die SPD kann in dieser Zeit zeigen, dass es ihr ernst ist mit längerem gemeinsamen Lernen und mit der freien Schulwahl der Eltern und ihrem Anspruch auf einen Platz an einer Gesamtschule. Auch die Initiative "Eine Schule für alle in NRW", ein Bündnis aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, darf gespannt sein, wie sich ihre Beziehung zur SPD nach dem Parteitagsbeschluss vom 25.8.07 entwickelt. Die Initiative beabsichtigt ein Volksbegehren mit dem Ziel, dem Landtag einen Gesetzentwurf zur Entscheidung vorzulegen, der die Zusammenführung aller Schulformen der Sekundarstufe I beinhaltet.

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Unter den drei Bundesländern, die der Arbeitskreis der GGG genauer unter die Lupe nimmt, ist die Gesamtschule am stärksten gefährdet in Hamburg, wenn die dortige Stadtregierung auch die nächste Wahl gewinnt und ihren zweigliedrigen Schulplan gegen den Widerstand der Opposition und relevanter gesellschaftlicher Gruppen durchsetzen würde. Diese Hamburger Zweigliedrigkeit, in der die Gesamtschule in der Stadtteilschule verschwindet, ist kein Zwischenschritt in die richtige Richtung. Sie ist die um Schulformen reduzierte Variante eines Schulsystems, das die Hierarchie des Bildungsanspruchs mit "berufsorientiert" (Stadtteilschule) und "wissenschaftsorientiert" (Gymnasium) bereits für zehnjährige Kinder programmatisch fixiert. Eine solche Strukturveränderung dürfte unter dem Aspekt gleicher Bildungschancen wohl kaum als verfassungskonform bestehen können.

Anders liegen die Dinge in Brandenburg, selbst wenn sich die düstere Prognose der GGG erfüllen sollte und die noch verbliebenen Gesamtschulen mit eigener Oberstufe bei rückläufigen Schülerzahlen in Oberschulen umgewandelt werden. Denn die Oberschule ist nicht, wie die Hamburger Stadtteilschule, schon konzeptionell auf ein "berufsorientiertes" Curriculum festgelegt. Es entstünden dann sächsische Verhältnisse, wo allerdings inzwischen auch der Bazillus "Gemeinschaftsschule" bei Schulträgern und Eltern seine Wirkung tut, - unterstützt auch dort von einem Aktionsbündnis "Sachsens Zukunft – EINE Schule für alle", bestehend aus Landesschüler – und Elternrat, Gewerkschaften und Parteien.

Bei allem Streit, der um das SPD-Konzept der Gemeinschaftsschule in NRW entbrannt ist und dauern wird, - in beiden politischen Lagern ist die Integrierte Gesamtschule derzeit nicht in Frage gestellt. Die CDU kann sie nicht abschaffen und im SPD-Konzept, wenn es eines Tages Gesetz werden sollte, werden Gesamtschulen auch als Gemeinschaftsschulen "mit vollintegriertem Unterricht" bis Ende 10 weiterarbeiten können.

Die eingangs gestellte Frage, ob die deutsche Gesamtschule eine Zukunft hat, wäre wohl eher skeptisch zu beurteilen, wenn es nicht nur um die Bezeichnung ginge, sondern mit ihr, wie im Hamburger CDU-Plan, das integrative/inklusive Konzept überhaupt zur Disposition stünde. Doch in der aktuellen Debatte erfährt dieses Konzept wachsende Akzeptanz gesellschaftlicher Organisationen und Initiativen. Auch in Landesverbänden der SPD beginnt man zu begreifen, dass es an der Zeit ist, die Leistung der Gesamtschule anzuerkennen und in der Öffentlichkeit zu verteidigen und sich nicht weiter unter dem Dauerbeschuss ihrer Gegner wegzuducken. Aus nationalen und internationalen Vergleichsstudien wissen wir inzwischen besser, worauf die GGG zurecht verweist, nach welchen Kriterien die Leistung der deutschen Gesamtschule fairerweise zu beurteilen ist, ja dass unter den innovativen Schulen der Sekundarstufe I, darunter nicht wenige mit einem besonders schwierigen sozialen Umfeld, die Gesamtschule so etwas wie ein Monopol besitzt. (Vgl. das Netzwerk deutscher Reformschulen unter: www.BlickUeberDenZaun.de )

Gleichgültig unter welcher Flagge Schulen mit dem "Blick über den Zaun" sich auf den Weg machen zu einer Schule für alle Kinder, die mit Handicaps eingeschlossen, ob weiterhin als Integrierte Gesamtschule, als Gemeinschaftsschule, Oberschule oder Gymnasium, - was deutsche Gesamtschulen, allen Widerständen zum Trotz, in Jahrzehnten entwickelt haben, zusammen mit den vielen innovativen Grundschulen, ist das Beste in unserem Schulsystem, das dringend gebraucht wird, wenn eine Strukturreform mittel- und langfristig auch zu einer anderen Schul- und Lernkultur führen soll. Für diese Entwicklung können die integrativen Systeme anderer Länder, allen voran die unserer Nachbarn Finnland und Schweden, anregend und hilfreich sein. Unsere erfolgreichen Integrierten Gesamtschulen jedoch sind für die Zukunft der deutschen Schule unverzichtbar.

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Literatur

Die beste Bildung für alle. Erfolgreich starten und ein Leben lang lernen – Fördern statt Auslesen. Beschluss des a.o. Landesparteitags des NRWSPD am 25.August 2007: www.NRWSPD.de 2007.

Kahl, Reinhard: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen. Archiv der Zukunft 2004, 2.überarb. Auflage 2005 (Beltz Verlag).

Leistungsstarke Gesamtschulen. Gesamtschulen im Spiegel empirischer Schulleistungsvergleiche. In: Die Blaue Reihe der GGG, H.57, 2007.

Merkelbach, Valentin: Die Strukturfrage ist längst gestellt. Schulpolitische Perspektiven der Ländervergleichsstudie PISA 2003. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/. Dezember 2005.

Merkelbach, Valentin: Das Recht auf Bildung in einem zweigliedrigen Schulsystem. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ August 2007.

PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland – Was wissen und können Jungendliche? Münster 2005.

Letzte Aktualisierung: 01.10.2007