Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Erfolgreiche Gesamtschulen vor dem Aus?

Oktober 2009

Für Heinrich Lee, den Protagonisten von Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ (1880) begann die Schulzeit in einer „Armenschule“. Sie war keine „öffentliche Anstalt, sondern das Werk eines gemeinnützigen Vereins und dazu bestimmt, bei dem damaligen Mangel guter unterer Volksschulen, den Kindern dürftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen“. Zu der Frage, warum das Kind eines erfolgreichen und in der Stadt angesehenen Baumeisters eine solche Schule besuchte, heißt es im Lebensrückblick des alten Heinrich Lee:

Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser Anstalt, die er zuweilen besuchte und in Augenschein nahm, geschwärmt und oft den Entschluss ausgesprochen, meine ersten Schuljahre in derselben verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungsmaßregel suchend, dass ich mit den ärmsten Kindern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zubrächte und aller Kastengeist und Hochmut so im Keime erstickt würden. Die Absicht war für meine Mutter ein heiliges Vermächtnis und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für mich. (1.Band, 9.Kapitel: „Schuldämmerung“)

Wachsende Akzeptanz trotz Behinderungen und Blockaden

Die verstärkte Zustimmung von Eltern zur Gesamtschule, die seit Jahren zu beobachten ist und in einem engen Zusammenhang steht mit dem Niedergang der Hauptschule, erfährt durch das Gymnasium einen weiteren Attraktivitätsschub. Seit die Bundesländer begonnen haben, die Gymnasialzeit in der Sekundarstufe I auf fünf Jahre zu verkürzen, wird die Gesamtschule auch für bislang gymnasial orientierte Eltern akzeptabel. Hat die Gesamtschule, also nur an Akzeptanz gewonnen, weil andere Schulformen an Zustimmung eingebüßt haben?

Die PISA-Studie und die öffentliche Debatte darüber haben gezeigt, wie einsam Deutschland ist mit seinem auslesenden Schulsystem gegenüber all den Ländern, in denen es, z.T. seit Jahrzehnten, Gesamtschulsysteme gibt, die keine neue Regierung bislang wieder abschaffen wollte. Die meisten dieser Länder haben sich bei PISA als weitaus leistungsstärker erwiesen als Deutschland. Auch die an PISA beteiligten deutschen Gesamtschulen haben gute Ergebnisse erzielt. Imagegewinn brachte zudem der seit 2006 an leistungsstarke Schulen mit einem innovativen pädagogischen Konzept vergebene Deutsche Schulpreis, bei dem bislang nicht Gymnasien, sondern Integrierte Gesamtschulen mit Auszeichnungen glänzen.

Das hindert konservative Landesregierungen nicht, die Leistungen der Gesamtschulen weiterhin schlecht zu reden und für die wachsende Nachfrage eine ausreichende Zahl an Gesamtschulplätzen zu verweigern.

Die niedersächsische Landesregierung, die jahrelang ein Gründungsverbot für Gesamtschulen verhängte, versucht nach Aufhebung des Verbots der verstärkten Nachfrage der Eltern und den Initiativen für Neugründungen dadurch zu begegnen, dass nun auch der Gesamtschule eine Verkürzung der Schulzeit in der Sekundarstufe I verordnet werden soll, was allerdings massive Proteste, auch von betroffenen Kommunen, ausgelöst hat. (http://bildungsklick.de/ 8.5.und 10.5.09)

Die neue hessische Landesregierung aus CDU und FDP will noch nicht die achtjährige Gesamtschule einführen, sondern hat im Landtag am 8.7.09 erst einmal eine Gesetzesänderung beschließen lassen, wonach künftige neue Gesamtschulen nicht mehr zweizügig, sondern mindestens dreizügig starten müssen. Die Voraussetzungen für andere Schulformen bleiben unverändert: Hauptschulen einzügig, Realschulen und Gymnasien mindestens zweizügig. Zur Begründung dieser Neuregelung zulasten der Gesamtschule heißt es, sie geschehe, „um deren Leistungsfähigkeit und die Qualität des Unterrichtsangebots sicher zu stellen“; die seit 2008 im Schulgesetz noch geforderte Zweizügigkeit lasse „den Anspruch einer Schwerpunktbildung sowie eine Fachleistungsdifferenzierung nur in unzureichendem Maße zu“. (Hessische Lehrerzeitung, 9/09, S.32)

In Nordrhein-Westfalen, wo Gesamtschulen nicht nur drei-, sondern vierzügig, mit mindestens 112 Schüler/innen, starten müssen, hatte die Landesregierung nun auch noch verfügt, dass unter den angemeldeten Kindern ein Drittel eine Gymnasialempfehlung haben muss (Frankfurter Rundschau, 23.9.08, S.15). Nur unter dieser Bedingung wollte die Bezirksregierung Köln eine vierte Gesamtschule genehmigen, die die Stadt Bonn im Oktober 2008 beantragt hatte. Unter den 156 angemeldeten Kindern waren jedoch nur 30 mit einer Gymnasialempfehlung. Die Schulleitung wählte 121 Schüler/innen aus und ging davon aus, dass die leistungsmäßige Zusammensetzung die Einrichtung einer Gesamtschule rechtfertige. Die Bezirksregierung Köln lehnte den Antrag ab mit der Begründung, es fehle an der notwendigen „Leistungsheterogenität“.

Das Verwaltungsgericht Köln beschied die Klage der Stadt Bonn: Es gebe keine Rechtsgrundlage für die Auflage, dass ein Drittel der angemeldeten Kinder eine Gymnasialempfehlung haben müsse. Es räumt der Schulleitung einen Ermessensspielraum bei der Umsetzung der Leistungsheterogenität ein. Sie könne die Schulformempfehlung der Grundschule heranziehen; diese sei aber nicht allein maßgebend. (http://bildungsklick.de/ 27.2.09).

Dass mit diesem Gerichtsurteil der Landesregierung ein Blockadeinstrument bei der Gründung neuer Gesamtschulen aus der Hand genommen wurde, beantwortet der schulpolitische Sprecher der CDU so: Man werde nun genau beobachten, ob Gesamtschulen sich verstärkt um gymnasialempfohlene Kinder bemühten und dafür Kinder mit einer Hauptschulempfehlung diskriminierten (Frankfurter Rundschau, 3.3.09, S.13). Die Schulministerin selbst erklärte im August 2009, sie werde keinen neue Gesamtschule mit Ganztagsbetrieb genehmigen. Das für Ganztagsschulen zur Verfügung stehende Geld werde auf die bislang benachteiligten Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium konzentriert. (http://bildungsklick.de/ 17.8.09)

Für das Schuljahr 2008/09 und 2009/10 wurden in NRW jeweils rund 15000 Kindern ein Platz an der Gesamtschule verweigert. Das sind 9 Prozent von 25 Prozent der Kinder, die an Gesamtschulen in NRW angemeldet wurden. (http://bildungsklick.de/ 8.2.08 und 27.2.09)

Gesamtschulen im internationalen Vergleich

Unter welchen Bedingungen und mit welchen Handicaps sich die deutsche Gesamtschule im Vergleich zu den Gesamtschulsystemen unserer europäischen Nachbarn entwickelt hat, zeigt eine Studie des Wiener Erziehungswissenschaftlers Karl Heinz Gruber. Unter dem Titel „’Echte’ und Pseudo-Gesamtschulen“ erörtert er die in den vergangenen vierzig Jahren durchgeführten Reformen der Sekundarstufe I und wirft dabei auch einen kritischen Blick auf den deutschen Reformdiskurs. Gruber beginnt seine „Skizze“ mit der Feststellung:

Aus internationaler Perspektive ist die Frage nach der Notwendigkeit einer Strukturreform der Sekundarschulen ein Anachronismus. Die meisten OECD-Länder, darunter Australien, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, alle skandinavischen Länder und Spanien, haben die „alteuropäische“, früh selektierende Sekundarschulorganisation zum Teil schon vor Jahrzehnten durch Gesamtschulsysteme ersetzt...Deutschland und Österreich halten hingegen an der Auslese am Ende der Grundschule und an der Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe I fest. (Gruber 2009, S.61)

Für Gruber tun dies die beiden Länder inzwischen gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, auch die der neueren Hirnforschung, die die Annahme bekräftigt, „dass sich Begabungs- und Interessenstruktur erst nach der Pubertät konsolidiert“, so dass man Kindern, wenn man sie in Schulen der Sekundarstufe I gebe, „die nach der Logik weniger anspruchsvoll sind, wichtige Impulse der Begabungsförderung“ vorenthalte. Auch die Bildungssoziologie komme seit Jahrzehnten europaweit zum immergleichen Befund: „Je früher schulische Auslese bzw. organisatorische Differenzierung erfolgt, desto stärker profitieren davon Kinder aus ‚bildungsnahen’ Mittel- und Oberschichtfamilien und desto stärker benachteiligt sind Kinder aus ‚bildungsfernen’ Unterschicht- und Migrantenfamilien“.(S.63)

Das konstitutive Element aller Gesamtschulsysteme ist für Gruber „die Integration der Sekundarstufe I bzw. das Hinausschieben schulorganisatorischer Differenzierung bis an das Ende der Schulpflicht mit 15 oder nunmehr immer häufiger mit 16 Jahren“ (S.64). Generalisierend lasse sich feststellen, „dass der ‚Sozialisations-Bonus’, den Kinder aus ambitionierten, bildungsnahen Familien haben, auch in Gesamtschulsystemen erhalten bleibt“. Der „Sozialisations-Malus“ von Unterschicht- und Immigrantenkindern aber werde „nicht wie in Auslesesystemen durch die Schulorganisation systemisch verstärkt, sondern merklich, wenngleich nicht spektakulär, ausgeglichen“. (S66)

Auf der Basis der europäischen Reformerfahrungen formuliert Gruber eine Reihe von „Echtheits“-Kriterien, „die zutreffen müssen, damit Gesamtschulen, die in sie gesetzten Erwartungen realisieren können“:

  • Echte Gesamtschulen müssen Elemente eines Gesamtschulsystems sein, neben dem es keine anderen öffentlichen Schulen geben darf. Echte Gesamtschulen können nicht eine Schulform neben anderen sein.
  • Echte Gesamtschulen müssen prinzipiell ein Schülerschaft aufnehmen, die das gesamte soziale und Begabungsspektrum umfasst, und dafür die Verantwortung übernehmen. Echte Gesamtschulen dürfen leistungsfähige Schüler nicht durch „creaming“ verlieren und leistungsschwache Schüler nicht an andere Schulen abschieben.
  • Echte Gesamtschulen müssen eine gesamtschulische „Mission“ haben: ihre „corporate identity“, ihr Bildungsauftrag, ihr „Schulethos“, ihre Schulkultur ist prinzipiell „comprehensive“ und „inclusive“.
  • Echte Gesamtschulen brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die für diese Schulform ausgebildet sind und sich professionell als Gesamtschullehrer definieren. (S.66)

In allen Ländern mit Gesamtschulen hat es nach Gruber viele Jahre gedauert, „bis die Strukturreform und die begleitenden Maßnahmen, etwa die Entwicklung gesamtschuladäquater Differenzierungsformen und die Reform der Lehrerbildung, im ganzen Land vollzogen waren“. Es habe „längere Phasen der Koexistenz von traditionellen Schulformen und Gesamtschulen“ gegeben, „während denen die Gesamtschulen von ‚creaming’ betroffen waren“ und an der Realisierung ihres Potenzials gehindert wurden. Im Falle Deutschlands sei die Situation allerdings eindeutig. Deutsche Gesamtschulen seien „aus internationaler Sicht Pseudo-Gesamtschulen, auf die keines der obigen Kriterien“ zutreffe. (S.67)

Nur eine „Pseudo-Gesamtschule“?

Karl Heinz Grubers Urteil, deutsche Gesamtschulen seien nur „Pseudo-Gesamtschulen“, verdankt sich einer durchaus nachvollziehbaren Systematik, ohne dass Gruber allerdings der Frage nachgeht, inwieweit es auch deutschen Gesamtschulen trotz „creaming“ und all der anderen Handicaps und Schikanen gelungen ist, den „Sozialisations-Malus“ von Unterschicht- und Immigrantenkindern nicht „systemisch“ zu verstärken, „sondern merklich, wenngleich nicht spektakulär“, auszugleichen

Nachdem es in den 70er Jahren in keinem sozialdemokratisch regierten Land gelungen ist, die Gesamtschule als „ersetzende“ Schule in der Fläche einzuführen, hat diese neue Schule neben dem creaming-Effekt in der Konkurrenz zum Gymnasium mit einem gravierenden Handicap zu kämpfen. Statt bis zum Ende der Pflichtschulzeit ohne weitere Sortierungsmaßnahme arbeiten zu können, musste sie, um ihre Abschlüsse von der Kultusministerkonferenz anerkannt zu bekommen, akzeptieren, vom 7.Schuljahr an durch äußere Differenzierung in abschlussbezogenen Leistungsgruppen das dreigliedrige System abzubilden.

Erst in neueren Untersuchungen, die nicht wie PISA den Leistungsstand von Schüler/innen zu einem bestimmten Zeitpunkt messen, sondern der Frage nachgehen, ob und inwieweit es gelingt, ihre Schüler/innen, von ihren unterschiedlichen Ausgangsbedingungen her und der Bildungsgangempfehlung durch die Grundschule, zu erkennbarem Lernzuwachs zu führen, erfährt die Gesamtschule eine, wenn auch späte, Rehabilitierung ihrer Arbeit.

In einer von der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) initiierten, 2007 veröffentlichten Broschüre „Leistungsstarke Gesamtschulen“ geht es darum, die Integrierte Gesamtschule „im Spiegel empirischer Schulleistungsvergleiche“ darzustellen. Die Broschüre beginnt mit der Feststellung:

Dass „wir“ Probleme mit der Chancengleichheit und der großen „Risikogruppe“ im unteren Leistungsbereich haben, ist nicht mehr umstritten. Doch obwohl die hierarchisch gegliederte Schulstruktur offiziell als nicht ausschlaggebend für die Erklärung dieser Probleme gilt, wird doch in allen Erhebungsberichten besonderes Gewicht auf das Abschneiden der Gesamtschule gelegt. Die Gesamtschule wird so in die Ergebnisdarstellung einsortiert, als ob sie eine weitere Schulform im gegliederten Schulsystem darstelle. (Leistungsstarke Gesamtschulen 2007, S.7)

Bei dieser Darstellung zögen dann Kritiker der Gesamtschule den Schluss: Sie hat versagt; denn ihre Ergebnisse liegen nicht gleichauf mit dem Gymnasium, sondern zwischen Haupt- und Realschule. Also könne sie nicht die Lösung der anerkannten Probleme mit der Leistungsschwäche des Systems sein. Dies sei, stellt die GGG fest, die weithin herrschende Meinung in der Bildungspolitik, in großen Teilen der Wissenschaft und der Medien.

Um diese Auffassung zu überprüfen, hat ein Arbeitskreis im Auftrag der GGG die Ergebnisse empirischer Studien genauer unter die Lupegenommen und sich dabei ausdrücklich auf den Leistungsbereich beschränkt, auch wenn Strukturfragen nicht nur unter diesem Aspekt, sondern letztlich normativ zu beantworten seien. Dazu vorab die Feststellung:

Die Gesamtschule ist keine weitere Schulform neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Sie ist ihrem Konzept, ihrem Selbstverständnis und ihrer Wirklichkeit nach die Alternative zum gegliederten Schulsystem insgesamt. Ein Vergleich der Gesamtschule mit dem Gymnasium ist also unsinnig, denn das Gymnasium stellt ja nur einen Ausschnitt des gegliederten Schulsystems dar. Allerdings bringt es die Systemkonkurrenz mit sich, dass der größte Teil der Kinder mit Gymnasialempfehlung das Gymnasium besuchen und nur ein geringer Teil die Gesamtschule. (S.7 f.)

Wie alle neueren empirischen Studien bestätigten, sei neben der sozialen Herkunft die „schulnahe“ Sprachkompetenz „ein mächtiges zusätzliches Selektionskriterium am Übergang von der Grundschule zur Sekundarschule“. Sie führe „besonders häufig zur Empfehlung und Wahl des Gymnasiums bzw. der Realschule, wenn sie gut ausgebildet“ sei und „überdurchschnittlich zur Empfehlung von Gesamtschule oder Hauptschule, wenn sie noch Defizite“ aufweise (S.9). Wenn sich das so verhält, ist für den Arbeitskreis die Frage, welche Schüler/innen „die höchsten Punktzahlen und Kompetenzen aufweisen“, weniger interessant als eine andere, „ob es der Schule in der Sekundarstufe I gelingt, ihre Schüler und Schülerinnen zu erkennbarem Lernzuwachs zu führen. (S.8)

Unter dieser Fragestellung konzentriert sich der Arbeitskreis auf die drei Bundesländer Brandenburg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Sie haben gemeinsam einen hohen Anteil Integrierter Gesamtschulen, in denen bei der Anmeldung „der Anteil des oberen Leistungssegments der Grundschule klar unterrepräsentiert, der Anteil des unteren Leistungssegments überrepräsentiert ist“. Dieses Bild gelt jedoch nicht mehr am Ende der Klasse 10 und danach. „Mehr als zwei Drittel der Schüler und Schülerinnen“ erreichten dann „mittlere und höhere Schulabschlüsse“. (S.9)

Da es für die Gesamtschulen in NRW zwei Folgeuntersuchungen zu der Studie gibt, sollen an dieser Stelle nur die Ergebnisse für NRW genannt werden (für die Ergebnisse insgesamt: Merkelbach, Oktober 2007, S.1-4). Es hat in dem Bundesland 2004 „Zentrale Lernstandserhebungen in den Jahrgangsstufen 9“ gegeben. Um den Schulen möglichst faire Rückmeldungen zukommen zu lassen, wurden alle Schulen „Standorttypen“ zugeordnet, in die u.a. das Wohngebiet, der Bildungsabschluss der Eltern, der Anteil an Migrantenkindern eingingen. Typ 1 etwa bezeichnet „Schulen mit dem sozial schwächsten Einzugsgebiet ihrer Gruppe“. (S.48 f.)

Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse der Lernstandserhebungen in NRW zu sehen, die der Arbeitskreis so zusammenfasst: Außer im Grundkurs des Standorttyps 1 („Schulen mit dem sozial schwächsten Einzugsgebiet ihrer Gruppe“) sind „die Leistungen in allen anderen Kursen zum Teil deutlich über der vergleichbaren sozialen Referenzgruppe der anderen Schulformen“. Die Lernzuwächse sind „beachtlich und höher als in vergleichbaren Sozialgruppen des gegliederten Systems“. (S.50)

Eine Bestätigung erfährt dieses Ergebnis der Studie durch ein Umfrage am Ende des Schuljahres 2007/08, diesmal im Auftrag der GGG und der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen von NRW. In einer repräsentativen Studie wurden an 29 Gesamtschulen die Schullaufbahnen von Schüler/innen untersucht, die 2004 die 11.Klasse besuchten. Während die Landesregierung aus CDU und FDP alles versucht, mit Fördermaßnahmen die Hauptschule zu retten und die CDU-Ministerin die Gesamtschulen des Landes nur als gescheitertes Auslaufmodell wahrzunehmen vermag, kommt die Studie zu dem Ergebnis:

90 Prozent aller Schüler/innen an Gesamtschuloberstufen in NRW schließen mit der Hochschulreife ab; 71 Prozent erreichen die allgemeine Hochschulreife und 19 Prozent die Fachhochschulreife, darunter nicht wenige, die vom selektiven System aussortiert und an Gesamtschulen aufgenommen wurden. Nur 10 Prozent der Schüler/innen verlassen also die Oberstufe ohne einen höheren Abschluss, am Gymnasium sind es 20 Prozent, die vorzeitig die Schule verlassen. (http://bildungsklick.de/ 29.8.08)

Unter dem Titel „Abiturientinnen und Abiturienten an Gesamtschulen 2009“ haben Dagmar Nägele, Werner Kerski, Gerd Schäfers und Rainer Dahlhaus, wiederum im Auftrag der GGG und der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen NRW, eine weitere Erhebung durchgeführt und die Ergebnisse am 13.8.09 veröffentlicht (PISA-Info/GEW, 17/09). Alle Gesamtschulen wurden im Frühjahr 2009 gebeten, Daten zu ihrem Abiturjahrgang 2009 zu erheben, wobei sich die Arbeitsgruppe besonders für die Einschätzung und Empfehlung der Grundschule und für den Migrantenanteil unter den Abiturientinnen und Abiturienten interessierte. Von 219 Gesamtschulen in NRW haben 95 (43,4 %) vergleichbare Daten geliefert. (S.1)

Als die Schüler/innen des Abiturjahrganges 2009 in die Sekundarstufe I einer Gesamtschule wechselten, war die Vorlage der Grundschulempfehlung noch nicht erforderlich. Um diese Daten zu bekommen, wurden die Schüler/innen persönlich nach ihrer Empfehlung durch die Grundschule befragt. Von 4848 hatten 863 (17,8 %) eine Hauptschulempfehlung, 2554 (52,7 %) eine Empfehlung für die Realschule und 1431 (29,5 %) eine Empfehlung für das Gymnasium. D.h.: 70,5 % der Schüler/innen an NRW-Gesamtschulen machten entgegen der Prognose der Grundschule das Abitur, und zwar ein nach landesweiten Standards vergleichbares. 34,7 % davon hatten einen Migrationshintergrund gegenüber 14 % an Gymnasien (S.2). Von den 4848 Jungendlichen besuchten 3277 schon in der Sekundarstufe I die Gesamtschule; 1571 (32,4 %) wechselten im Jahrgang 11 von der Hauptschule oder der Realschule in die gymnasiale Oberstufe der Gesamtschule.

Das knappe Fazit der Arbeitsgruppe:

Aus dem vorgelegten Datenmaterial lässt sich die überdurchschnittliche Leistung der Oberstufen an Gesamtschulen in NRW zur Förderung von weiterführenden Bildungskarrieren erneut und detailliert belegen. Dabei ist die Heterogenität der Schülerpopulation der Gesamtschulen die Grundlage, nicht ein Hinderungsgrund für den Erfolg. Weiterhin ist die Fragwürdigkeit von Schulformprognosen am Ende der vierten Grundschulklasse durch die Arbeit der Gesamtschulen aktuell bestätigt worden. (S.3)

Was die drei Gesamtschulstudien auch zeigen: Es sind nicht nur die prominenten Gesamtschulen, die bei PISA gute Ergebnisse erreichten und/oder beim Deutschen Schulpreis mit Auszeichnungen glänzen. Auch die vielen weniger bekannten Gesamtschulen kommen offensichtlich ihrem Anspruch der individuellen Förderung und des Verzichts auf selektive Instrumente wie Nichtversetzung und Abschulung näher als Schulen des gegliederten Systems.

Was bleibt?

Trotz wachsender Akzeptanz der Gesamtschule, und das nicht nur, weil Eltern die Hauptschule oder G8 vermeiden wollen, sondern weil sie wohl auch das pädagogische Konzept und der Erfolg bei den Abschlüssen überzeugt, wird die Gesamtschule in Schleswig-Holstein in der Gemeinschaftsschule aufgehen und in den drei Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen mit Haupt- und Realschule fusionieren (Merkelbach, August 2009, S.3 ff.).

Ähnliche Entwicklungen könnte es demnächst auch in den Flächenstaaten mit Gesamtschulen geben, wenn die Hauptschule nicht mehr zu halten ist und das Gymnasium eine Schule für alle weiterhin blockiert. Die entscheidende Frage wird sein, ob diese neue Schule mit dem Know-how der Gesamtschule sich als eine Schule neben dem Gymnasium etabliert oder zu einer Zweitschule unterhalb der „höheren Schule“ wird, auch wenn diese neue Schule durchweg mit eigener Oberstufe oder einem zugeordneten Oberstufenzentrum den direkten Weg zum Abitur anbietet.

Während die „Gemeinschaftsschule“ in Schleswig-Holstein, die „Stadtteilschule“ in Hamburg und die „Integrierte Sekundarschule“ in Berlin das Gymnasium als die „höhere Schule“ weitgehend unangetastet lassen, versucht der Bremer Schulkompromiss, ausgehandelt zwischen rot-grüner Landesregierung und oppositioneller CDU, ernst zu machen mit der Ankündigung, dass die beiden Schulformen, Gymnasium und die neue „Oberschule“ „gleichwertig“ sein sollen. (Merkelbach, August 2008, S.8 ff.)

Das beginnt damit, dass den Eltern gesetzlich zugesichert ist: Sie können auch nach „verbindlicher Beratung“ durch die Grundschule frei zwischen Gymnasium und Oberschule wählen. Jede Schule muss die Kinder, die sie aufnimmt, bis zu einem qualifizierten Abschluss fördern. Ein Schulwechsel ist nur auf Antrag der Eltern möglich. Auch jede Oberschule hat eine eigene Oberstufe oder ist im Verbund mit einer Oberstufe.

Für die Jugendlichen, die absehbar den Mittleren Schulabschluss nicht schaffen, hat Bremen statt des Hauptschulabschlusses eine „Werkschule“ ins Gesetz aufgenommen. Die Werkschule wird an berufsbildenden Schulen eingerichtet. Ein dreijähriger „praxis- und projektorientierter Bildungsgang beginnt im neunten Jahrgang und dauert drei Jahre bis Jahrgang 11“. Am Ende steht „eine Prüfung zur Erweiterten Berufsbildungsreife“. In Klasse 8 können sich Jugendliche für diese Schule bewerben.

Um der Forderung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nachzukommen, wird Bremen den Grundsatz der Inklusion im Gesetz festschreiben. Sonderschulen, in Bremen Förderzentren genannt, werden nach und nach aufgelöst. An ihre Stelle treten „Zentren für unterstützende Pädagogik an allgemeinen Schulen und Regionale Beratungszentren“.
(http://www.bildung.bremen.de)

Trotz dieses erstaunlichen, lagerübergreifend gefundenen Bremer Schulkompromisses gibt es feine Unterschiede zwischen Gymnasium und Oberschule, die die Gleichwertigkeit der beiden Schulformen beeinträchtigen.

Hat eine Schulform z.B. mehr Anmeldungen als Plätze, müssen beide Schulformen vorab zehn Prozent der Plätze an „Härtefälle (gesundheitlich, sozial, familiär)“ vergeben. Die Oberschule kann danach ein Drittel der Plätze nach einem Leistungskriterium vergeben („überdurchschnittliche Leistungen in Deutsch und Mathematik“). Alle andern Plätze, also rund 60 Prozent, werden durch Los vergeben. Am Gymnasium haben nach den zehn Prozent für Härtefälle Kinder Vorrang, „die ein bestimmtes, in der Grundschule begonnenes Sprachangebot fortsetzen wollen“ und/oder „deren Leistungen in Deutsch und Mathematik überdurchschnittlich sind“. Wenn es dann noch freie Plätze gibt, entscheidet das Los.

An überwählten Gymnasien dominiert so im Vergleich zur Oberschule das Leistungskriterium. Mit dem an der Grundschule begonnenen Sprachangebot zusammen haben Eltern, die notfalls auch in private Nachhilfe investieren können, gute Möglichkeiten, schon in der Grundschule sich einen Platz am Gymnasium, auch an einem überwählten, für ihr Kind zu sichern.

Bei Überanwahl die leistungsstarken Schüler/innen aussuchen zu können, geht doch immer zu Lasten der Schulen, denen für ihre freien Plätze dann leistungsschwächere Schüler/innen zugewiesen werden. Eine Alternative zu diesem Verfahren wäre, auf das Leistungskriterium und den Losentscheid zu verzichten und mit den Schulen Kriterien wie soziale und kulturelle Mischung, Wohnortnähe u.a. zu vereinbaren. Das Urteil darüber, welche Schule sich nach solchen Kriterien zu verfahren bemüht oder doch lieber die Leistungsstarken sich aussucht, bliebe dann den Eltern überlassen. Den Ausgleich zwischen den unterschiedlich belasteten Schulen, die es ja in jedem Falle geben wird, muss dann ohnehin eine bedarfsgerechte Ressourcenzuweisung leisten, um einen halbwegs fairen Wettbewerb unter allen Schulen der beiden Schulformen zu ermöglichen.

Eine Einschränkung der Gleichwertigkeit sind auch die unterschiedlichen Abschlüsse, Abschlusszeiten und das Lerntempo. Die Oberschule führt in einem sechsjährigen Bildungsgang zum „Mittleren Schulabschluss/ zur Erweiterten Berufsbildungsreife“ und in einem neunjährigen Bildungsgang, der auch auf acht Jahre verkürzt werden kann, zum Abitur. Am Gymnasium gibt es nur den achtjährigen Bildungsgang zum Abitur und der „Unterricht berücksichtigt die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Lerntempo“.
(http://www.bildung.bremen.de).

Am achtjährigen Gymnasium ist also im Unterschied zur Oberschule „erhöhtes Lerntempo“ angesagt, was auch im „verbindlichen Beratungsgespräch“ der Grundschule ein Thema sein wird. Wie zur Zeit Eltern die Gesamtschule dem in der Sekundarstufe I verkürzten Gymnasium vorziehen, so könnte hier die Oberschule auch für Eltern mit gymnasial empfohlenen Kindern attraktiv sein. Dennoch ist dieser feine Unterschied ein Moment der Separierung und wohl besonders attraktiv für gymnasial orientierte Eltern, die die Oberschule, in der sich viele Kinder mit geringerem Lerntempo versammeln, häufig aus unterprivilegierten Familien, vermeiden wollen und die bei auftretenden Lernproblemen in der Schule „mit erhöhtem Lerntempo“ in die Nachhilfe investieren können.

Verbunden mit G8 ist der Unterschied in den Abschlüssen. Die Oberschule führt zu einem Mittleren Abschluss und zum Abitur, während Schüler/innen am Gymnasium, bei denen sich in der Zeit der Pubertät abzeichnet, dass sie die Oberstufe nicht besuchen werden, aus sicher unterschiedlichen Motiven, wohl an die Oberschule wechseln werden, um dort einen Mittleren Schulabschluss zu bekommen. Dies ist ein weiteres Moment der Separierung von Schüler/innen und zugleich eine Gelegenheit für das Gymnasium, sich von Schüler/innen zu trennen, statt sie wenigstens bis zu einem Mittleren Abschluss am Ende von Klasse 10 zu fördern.

Ein Mittlerer Abschluss am Gymnasium müsste allerdings zur Folge haben, dass auch dort das Abitur nach 12 oder 13 Schuljahren möglich ist. Ein „erhöhtes Lerntempo“ könnte dann, wie an der Oberschule, erst von älteren Jugendlichen in den Kursen der Oberstufe frei gewählt werden, um schon nach 12 Schuljahren das Abitur zu machen. Wäre diese Lösung nicht auch unter gymnasialorientierten Eltern mit den G8-Erfahrungen mehrheitsfähig und auch im wohlverstanden Interesse ihrer Kinder? Oder war diese Differenz entscheidend für den Kompromiss?

Gleichwertige Schulformen brauchen eine gleichwertige Lehrerbildung. Ein großes Handicap der Gesamtschule gegenüber dem Gymnasium war von Anfang an, dass für die Gesamtschule kein eigenes Lehramt eingerichtet wurde und in ihr Lehrer/innen verschiedener Lehrämter mit Unterschieden in Ausbildungsdauer, Lehrdeputat und Besoldung unterrichten, was für die kollegiale Zusammenarbeit nicht förderlich ist.

Gleichwertigkeit heißt: Beide Schulformen erheben denselben Bildungsanspruch. Es gibt bis zum Ende der Schulpflicht kein Sortieren in berufs- oder wissenschaftsorientiert; denn beide Zielsetzungen sind integrale Bestandteile allgemeiner Bildung. Wie das geht, lässt sich an den pädagogischen Konzepten unserer Reformschulen, meist Gesamtschulen, studieren, - Konzepte, die von Projekten und Praktika geprägt sind und von dem alten reformpädagogischen Prinzip des Lernens mit Kopf, Hand und Herz.

Die Ende 2007 in einem Beitrag erörterte Frage, ob die Gesamtschule eine Zukunft hat, (Merkelbach, Oktober 2007), wäre heute, zwei Jahre danach, skeptischer noch zu beurteilen als damals, wenn es nur um die Bezeichnung ginge. Worauf es in der aktuellen Auseinandersetzung ankommt, ist der Erhalt des pädagogischen Konzepts der Gesamtschule als einer das auslesende System ersetzenden Schule. Gleichgültig unter welcher Bezeichnung Schulen sich auf den Weg machen zu einer Schule, die alle Kinder willkommen heißt, ob weiterhin als Gesamtschule, ob als Gemeinschaftsschule, Oberschule oder Gymnasium, - was die deutsche Gesamtschule allen Behinderungen und Auflagen zum Trotz in Jahrzehnten an pädagogischem Know-how entwickelt hat, wird dringend gebraucht, wenn eine Strukturreform mittel- und langfristig auch zu einer anderen Lernkultur führen soll.

Literatur

Gruber, Karl Heinz: „Echte“ und Pseudo-Gesamtschulen. Eine Skizze der in den vergangenen vierzig Jahren europaweit durchgeführten Reformen der Sekundarstufe I samt einigen Anmerkungen zum deutschsprachigen Reformdiskurs. In: Die Deutsche Schule, 1/09, S.60-71.

Leistungsstarke Gesamtschulen. Gesamtschulen im Spiegel empirischer Schulleistungsvergleiche. In: Die Blaue Reihe der GGG, H.57, 2007.

Merkelbach, Valentin: Hat die deutsche Gesamtschule eine Zukunft? Oktober 2007. (http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/).

Merkelbach, Valentin: Die Zweigliedrigkeit in den Stadtstaaten und die Rolle der SPD. August 2009.(http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/)

Letzte Aktualisierung: 01.10.2009