Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Schulstruktur und Gewalt in der Schule

Mai 2004

PISA-Ratschlag bei "schuldistanzierten" Jugendlichen

Die immer noch starke Auslese nach sozialer Herkunft in unserem gegliederten Schulsystem ist ein zentrales Ergebnis der PISA-Studie, das besonders beeindruckend ausfällt, vergleicht man die soziale Zusammensetzung und die Fachleistungen von Schülerinnen und Schülern an Gymnasien auf der einen mit denen an Haupt- und Sonderschulen auf der anderen Seite. Diese soziale Segregation, die nach der Zuordnung zu verschiedenen Schulformen am Ende der Grundschule durch Sitzenbleiben und Verweis in andere, weniger anspruchsvolle Schulformen weitergeht, darin bestätigt PISA die Erkenntnisse der Jugendforschung, setzt sich nahtlos fort in den Cliquen und Freundesgruppen der Fünfzehnjährigen, die wiederum deutliche Bezüge zu den erworbenen Fachkompetenzen aufweisen. Hier stehen häufig "schuldistanzierte", aggressive, gewaltbereite Gruppen mit problematischer Mediennutzung (Gewaltvideos, Pornos) Gruppen gegenüber mit einem stärker entfalteten Freizeitverhalten, in dem auch Lesen eine Rolle spielt.1
Das gesellschaftlich beunruhigende Ergebnis wird durch drei, vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen Studien zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit unter Jugendlichen (15- bis 24-Jährige) bestätigt. Rechtsextremistische, fremdenfeindliche Straftaten werden in Deutschland in der Regel von männlichen Jugendlichen mit niedrigem Bildungsniveau begangen, selten allein, meist in Gruppen. Überraschend gering ist dabei der Anteil arbeitsloser Jugendlicher. 80 Prozent dieser jugendlichen Straftätern gehen noch zur Schule oder machen eine Lehre oder sind bereits erwerbstätig. Weniger überraschend ist, dass in diesen Gruppen von Straftätern Hauptschulabsolventen überrepräsentiert sind. In hohem Maße beunruhigend ist allerdings, dass neun von zehn späteren Straftätern bereits in der Grundschule als sozial auffällig eingeschätzt wurden und ihre Schulzeit oft von Leistungsversagen, Schulabbruch und Straffälligkeit gekennzeichnet ist. Den Studien zufolge nehmen solche rechtsextremistischen, gewaltbereiten Gruppierungen gegenüber unpolitischen Freizeitgruppen an Bedeutung zu. 2 Für PISA verweist soziale Segregation durch frühe schulische Differenzierung auf die Notwendigkeit hin, "die Erziehungsleistung der Schule gerade gegenüber schuldistanzierten und nicht immer 'einfachen' Jugendlichen zu stärken" 3. PISA tut damit das, was die übrige Gesellschaft mit ihren Maßnahmen gegen Jugendgewalt in und außerhalb der Schule auch tut: Nicht die schulische Auslese vom ersten Schultag an als eine Quelle von Demütigung, Stigmatisierung, von Angst, Aggressivität und Gewalt wird in Frage gestellt, sondern die Schule soll ihre "Erziehungsleistung" steigern.
Die bildungspolitische Abstinenz der PISA-Studie zeigt sich besonders deutlich im Kommentar zu den Testergebnissen an der Sonderschule, - einer besonders entfalteten deutschen Schulform, die noch unterhalb der Hauptschule das selektive System perfektioniert und über den Erfolglosen und ihren Eltern vom ersten Schultag an wie ein Damoklesschwert hängt. Der Befund der PISA-Studie, die enge Koppelung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb ist für Brigitte Schumann 4 ebenso erschreckend wie das hartnäckige Schweigen der Politik zu den "unabweisbaren Zusammenhängen zwischen Schulstruktur, Bildungsarmut und sozialer Ausgrenzung, die sich am deutlichsten in der Sonderschule für Lernbehinderte" manifestiere. PISA habe zwar bewirkt, dass Rückstellungen bei der Einschulung und Klassenwiederholungen "von einem Teil der Öffentlichkeit nicht nur als unproduktive Maßnahme, sondern auch als Demütigung und Beschädigung von Kindern und Jugendlichen bewertet" würden, erstaunlicherweise finde aber "der Ausschluss aus dem Regelschulsystem durch die Sonderschulüberweisung auch nach PISA wenig Beachtung". Für die Studie bedrückend seien einerseits die ungebrochen steigenden Überweisungsquoten zu den Sonderschulen für Lernbehinderte, insbesondere für Kinder von Migranten, andererseits würden die schlechten Leistungsergebnisse der wenigen in die Studie einbezogenen Sonderschulen mit der lapidaren Bemerkung kommentiert: die Sonderschule habe eine "eigene schwierige Klientel", ohne dass PISA "die zahlreichen sonderpädagogischen Forschungsergebnisse und die praktischen Erfahrungen aus der Integrationspädagogik über die Vorteile des Lernens in leistungsgemischten Gruppen gegenüber den geradezu deprimierenden Leistungsergebnissen der Sonderschule" einbeziehe.
Brigitte Schumann referiert Befragungen von Sonderschullehrer/innen, die nur zu einem geringen Prozentsatz (22%) nach PISA die Sonderschule in Frage stellten, während die große Mehrheit der Eltern sich durch die Sonderschulüberweisung ihrer Kinder beschämt fühlten. Dabei litten Migranteneltern unter der doppelten Diskriminierung, Ausländer zu sein und schulversagende Kinder zu haben, stärker noch als deutsche Eltern. "Solange das deutsche Schulsystem dem Homogenitätsprinzip ideologisch anhängt und 'Aussortieren' mit Förderung gleichsetzt", resümiert Brigitte Schumann, "wird es die Gefühle und die Interessen der 'Aussortierten' ignorieren und umdeuten". (In Hessen werden nach einer Novellierung des Schulgesetzes Sonderschulen in Zukunft "Förderschulen" heißen.)

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Gewalt als ultima ratio

Wenn PISA bei "schuldistanzierten und nicht immer 'einfachen' Jugendlichen" von den Schulen eine höhere "Erziehungsleistung" fordert, ohne zu sagen, wie das in unserem gnadenlosen System gehen soll, diskutiert Uwe Findeisen in einem Beitrag über "Jugendgewalt" dieses Dilemma 5. Nach allem, was wir statistisch darüber wüssten, nehme Jugendgewalt gerade an Schulen rapide zu. Fast ein Drittes der Jungen hätten "in den vergangenen sechs Monaten einen Mitschüler geschlagen oder getreten und etwa ein Fünftel" würden "sogar einmal in der Woche gewalttätig, indem sie andere drangsalieren, bedrohen, herabwürdigen oder beschimpfen" 6. So klar die Sprache der Statistik, so unklar bleibt für Findeisen die Analyse des Phänomens. Wenn als Therapie neben mehr Erziehung in der Schule verschärfte Strafen gefordert würden, so werde das abweichende Verhalten damit erklärt, dass sich jemand nicht an die Gesetze gehalten habe, weil er nicht genug Angst vor Strafe hatte und die hatte er nicht, weil er eben aggressiv und gewaltbereit sei. Unter den Faktoren, die Jugendgewalt begünstigen können, werde in der Forschung und neuerdings auch im Sicherheitsbericht der Bundesregierung neben den schwierigen familiären Verhältnissen, Armut und Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund, negative Medieneinflüsse auch der Faktor Schule genannt und da: "hoher Anpassungsdruck, negative Sozialbeziehungen, Desinteresse am Unterricht, Misserfolgserlebnisse, Wut auf Lehrkräfte, Unzufriedenheit mit den eigenen Schulleistungen, Konkurrenzorientiertheit unter den Schülern". Da jedoch nur ein Teil der Jugendlichen in bestimmten "kriminogenen" Lebensverhältnissen gewalttätig werde, werde der "Übergang zur Gewalt als rein individuelles Problem, als Ausnahme und Sonderfall" angesehen, für den es trotz der vielen genannten Faktoren "eigentlich keinen Grund und damit keine gesellschaftliche Erklärung geben" könne. Diese gesellschaftlichen Bedingungen, darunter auch die schulischen, würden aufgeführt, "um von ihnen abzulenken - und um höchstens die pädagogische Aufgabe nachzureichen, dass in Schule, Familie usw. besser aufgepasst" werden soll, "damit die durchs Schulsystem geschaffenen Verlierer nicht ausrasten"; denn es hänge ja letztlich vom Entschluss des Einzelnen ab, "ob man wegen Armut zum Dieb, wegen Selbstbehauptung zum Schläger oder wegen Schulverweis zum Amokläufer" werde. 7
Wenn Jugendstudien zu dem Ergebnis kommen, gerade die Identifikation mit Zielvorgaben und Werten der herrschenden Leistungs- und Erfolgskultur können abweichendes Verhalten in dem Maße erzeugen, als der wertgeschätzte Erfolg auf konforme Weise, also mit legitimen, gesellschaftlich akzeptierten Mitteln, nicht zu erreichen sei, so fragt sich Findeisen, warum Jugendliche, wenn es um Erfolg geht, ausgerechnet Gewalt als Mittel wählen, also einen Weg, der den Erfolg gerade ausschließe.8 Dass die Schule Leistung fordert und dafür Leistungsdruck und Prüfungsdruck erzeugt und damit bei erfolglosen Schülerinnen und Schülern Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit erzeugen kann, ist für Findeisen ebenso unbestritten wie der Anspruch an die in der Konkurrenz Unterlegenen, dies, weil unumgänglich, auszuhalten; denn in der Arbeitsmarktkonkurrenz komme es ja auch darauf an, besser zu sein als andere, wenn man erfolgreich sein will. "Dieses Verhalten aber mit der individuellen Leistung zu legitimieren, die dem Einzelnen entspreche", unterschlage, "dass die Leistungsbedingungen nicht von denen, die konkurrieren, festgelegt werden, sondern vorgegeben sind". Für die Schule bedeute das, dass Schülerinnen und Schüler "unter einen künstlichen Zeitdruck" gesetzt werden, der notwendigerweise zu Leistungsunterschieden führt und zu Noten, die "keine qualitative Beurteilung, sondern "Leistungsabstandsmessungen" seien, "die die Schüler in eine Rangordnung von Ziffernnoten einordnen".
"Leistungsdruck ist jedoch keine Selbstverständlichkeit von Lernprozessen. Lernen braucht Zeit. Aber eine Durchschnittszeit fürs Lernen so festzulegen, dass immer einige nicht mitkommen, schafft erst den Leistungsdruck, an dem man scheitert. Aus der Wissensvermittlung folgt dieser selektive Umgang nicht, denn sie hätte ihr Maß am Verstehen des jeweiligen Inhalts - was mal länger, mal kürzer dauert. Wissen legt nicht fest, in welcher Zeit es verstanden werden will und muss. Wissen in eine Pensum zu verwandeln macht die vorherrschende Form der Wissensaneignung erst zum Lerndruck. Lernen in einer vorher festgelegten Zeit hat nichts damit zu tun, dass jeder seine Fähigkeiten entwickelt. Es wird benutzt, um eine Verteilung von Berechtigungen für die Hierarchie der Berufswelt vorzunehmen." 9 Schülerinnen und Schüler, die diesen "heimlichen Lehrplan" nicht durchschauen und den Konkurrenzbedingungen ausgeliefert sind, betrachten Noten, die guten und die schlechten, als persönliches Verdienst oder Versagen und auch der Grund für den Erfolg oder Misserfolg im späteren Berufsleben scheint ihnen allein in der persönlichen Anstrengung und Begabung zu liegen. Das ist für Findeisen "die zentrale Täuschung des Konkurrierens" und darauf basiert seine These, dass Schülerinnen und Schüler, die gelernt haben, den Grund für Erfolg und Misserfolg bei sich selbst zu suchen, "über sich in den Kategorien von Stolz, Scham oder Trost" denken; auch oder gerade den Erfolglosen sei "die Schule überhaupt nicht gleichgültig", sondern sie seien von ihr tief enttäuscht und fühlten sich von ihr ungerecht behandelt und bevor jemand zur Gewalt greife, habe "er schon manche Anstrengung unternommen, um Anerkennung durch andere zu erreichen" und sei "meist daran gescheitert".10
Findeisen beschreibt ein Fülle von "Bewältigungsstrategien" die angewandt werden, um das in Abhängigkeit vom Leistungsprinzip entstandene Geltungsbedürfnis innerhalb und außerhalb der schulischen Notenkonkurrenz zu kompensieren: Strategien des Klassenkaspers, des Weiberhelden oder Kraftprotzes, des Punkers, des Fans, Strategien mit der besonderen Haartracht, des Outfits, der Mutprobe, der Herabsetzung anderer usw. Erst wenn solche Bewältigungsstrategien nicht genügen, greife der in seinem Stolz und Ehrgefühl Verletzte zur Gewalt und zwinge den Unterlegenen ihn als Sieger anzuerkennen. Nicht um die besseren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse werde dabei konkurriert, sondern "um die Rangordnung in ihrer brutalen Form". Nicht die wirklichen Gründe seines Scheiterns interessieren den Gewalttätigen, der sich "als beleidigte Persönlichkeit" sehe und der "der Beleidigung noch Recht geben würde", wenn er sich nicht wehre. Alles spitze sich auf diesen "Ehrstandpunkt" zu, "der sich abstrakt von jedem wirklichen Grund und jeder möglichen Alternative (rechtlicher Widerspruch, Schulwechsel, Lehre usw.)" trenne. Natürlich sei das Rache und werde landläufig auch so gesehen, zugleich aber leugne man "den Zusammenhang von Konkurrenz, Leistungsvergleich, Geltungsbewusstsein und Ehre".11
Die meisten Präventionsmaßnahmen seien jedoch nicht auf eine "andere Lernkultur", auf Förderung und damit auf Verminderung des Leistungsdrucks gerichtet, sondern dienten "dem Lernen von Selbstkontrolle" in Maßnahmen wie "Tobräume, Training der Sozialmoral, Streitschlichter, Strafraum, Sensibilisierung" usw., die das verletzte Selbstwertgefühl losgelöst von wirklichem Erfolg nutzten und im Grunde die oben genannten falschen Bewältigungsstrategien bestätigten.12

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Förderung moralischer Urteilsfähigkeit

Ein Beleg für Findeisens Kritik an den meisten Präventionsmaßnahmen der Schule gegen Gewalt, die die Schule in hohem Maße selbst erzeugt, findet sich im selben Zeitschriften-Heft abgedruckt. In ihrem Beitrag mit dem eingängigen Titel "Bevor die Faust zuschlägt" beschreibt Corinna Hößle die Möglichkeit, Gewaltbereitschaft durch "Förderung moralischer Urteilskompetenz" zu reduzieren.13 Die Bedeutung des Themas "Schule und Gewalt" belegt sie statistisch mit dem hohen Anteil von Kindern im Schulalter (10-12%), die "an psychischen Störungen vor allem in den Bereichen Leistung, Emotion und Sozialkontakt leiden", von denen eine Minderheit aggressiv und gewalttätig reagiere, - schon in der Grundschule, aber besonders in Haupt- und Berufsschulen mit multiethnischer und multikultureller Schülerschaft. Auch wenn von einer dramatischen Zunahme von Jugendgewalt nicht auszugehen sei, bleibe doch problematisch, "dass vor allem an Hauptschulen insbesondere die Jungen zu 50-60% bewaffnet seien - mit Baseballschlägern, Messern, Schlagringen oder ähnlichem".14
Corinna Hößle kommt nahe an Findeisens Thema "Gewalt durch Schule" heran, wenn sie feststellt: Der Schule werde oft die Hauptverantwortung für gewaltbereite Kinder und Jugendliche zugeschrieben. Gewaltbereitschaft sei jedoch "ein Phänomen der gesamten Gesellschaft" und könne "nicht isoliert auf die Institution Schule zurückgeführt werden". Der Schule komme allerdings die Aufgabe zu, "Methoden und Wege aufzuweisen, die die Gewaltbereitschaft von Schülern" senke. 15 Damit verlässt Hößle das Thema "Schule als Quelle von Gewalt", um sich im Folgenden den verschiedenen theoretischen Erklärungsversuchen von Gewalt und der moralischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu widmen. Ausführlich beschreibt sie in einem Sech-Phasen-Modell, wie in der Schule moralische Urteilsfähigkeit gefördert werden kann. Am Ende warnt die Autorin davor, bei dem Konzept der Gewaltprävention die praktischen Schwierigkeiten, die "bei der Schulung moralischer Urteilsfähigkeit auftreten können", nicht sehen zu wollen, ohne dass dabei noch einmal Schulen mit einem hohen Anteil an aggressiven und gewaltbereiten Jugendlichen ins Blickfeld geraten. Corinna Hößles Beitrag ist fundiert und mit Gewinn zu lesen, auch wenn sie mit keinem Wort die Struktur unseres Schulsystems in Frage stellt; denn auch mit der Abschaffung der Dreigliedrigkeit wird ja nicht Gewalt in der Schule verschwinden. Das Erstaunliche ist allerdings, dass so unterschiedliche schulformspezifische Gewaltpotenziale, wie sie die Forschung festgestellt hat, von der Autorin benannt, aber offensichtlich als schicksalhaft hingenommen werden.

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Strukturelle Gewalt beim Schuleintritt und beim Übergang in die "Weiterführende Schule"

Die Angst vor der strukturellen Gewalt durch die Sonderschulüberweisung betrifft nur die Eltern der erfolglosen, abgeschriebenen Kinder, die Angst vor der rechten Schulwahl beim Beginn und besonders beim Übergang in die sogenannte Weiterführende Schule betrifft alle Eltern, auch, ja gerade die, die an einer erfolgreichen Schulkarriere ihrer Kinder stark interessiert sind. Was dieser Teil der überwiegend bildungsprivilegierten Elternschaft unternimmt, um sich nicht einfach in das Schicksal des deutschen Schulsystems zu fügen, betrifft all die Maßnahmen, die zugewiesene Grundschule wegen zu vieler Kinder aus sozial und kulturell unterprivilegierten und/oder Migranten-Familien zu vermeiden. Dieser Prozess der sozialen Segregation durch Eltern mit Duldung oder entsprechenden gesetzlichen Regelungen durch den Staat ("Gestattungen") findet bereits vor Schulbeginn statt und verstärkt sich in den ersten Grundschuljahren, so dass sich in Großstädten immer mehr eine saubere Trennung ergibt in "gute" und "schwierige" Grundschulen, - eine Stigmatisierung ganzer Schulen, die man, wenn man es gut mit seinen Kindern und sich selber meint, vermeiden muss, koste es was es wolle. Selbst Umzüge soll es geben zu diesem Zweck. Mit dem Schuleintritt beginnt dann erst der richtige Kampf um die guten Platzanweisungen am Ende dieser Schulstufe und das sind Empfehlungen für das Gymnasium, - alles andere sind mehr oder minder schwere Niederlagen in diesem Kampf, - abgesehen von den relativ wenigen Anmeldungen von Kindern mit einer einwandfreien Gymnasialempfehlung an Integrierten Gesamtschulen. Ein Ergebnis dieses Hauens und Stechens ist ein wachsendes Aggressions- und Gewaltpotenzial schon an den "schwierigen" Grundschulen, von dem nicht nur die Forschung, sondern auch Sondereinheiten der Polizei für Gewaltprävention an Schulen zu berichten wissen.
Der Höhepunkt struktureller Gewalt, die Zuweisung der Kinder zu den Bildungsgängen der Sekundarstufe wird zu einer leidvollen Erfahrung für die Kinder, die sich nicht empfohlen, sondern bestraft fühlen und die auch noch ihre Eltern enttäuschen müssen und sie zwingen, die folgenreiche Zuordnung der Grundschule als Schicksal zu akzeptieren oder den waghalsigen Versuch zu unternehmen, gegen die Empfehlung der Schule eine anspruchsvollere Schulform für ihr Kind zu wählen.
Was wir bei diesem Übergang allerdings nicht nur den erfolglosen oder weniger erfolgreichen Kindern antun, sondern auch denen, die die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen versprechen, erhellt schlaglichtartig ein sehr persönlich gehaltener Bericht von Andreas Molitor.16 Als leidgeprüfter Vater nimmt er die wieder einmal aktuelle Situation der Eltern von etwa einer Million Kindern, sich für eine "weiterführende" Schulform entscheiden zu müssen, zum Anlass, sich an diese Situation als Kind und als Elternteil zu erinnern. Molitor, Sohn eines Oberamtmannes, an dem als Kind "der Geruch der Mittelklasse" klebte, erinnert sich an den lange in Vergessenheit geratenen Detlev, der besser Fußball spielen konnte, aber weitaus schlechter Rechnen und Rechtschreiben:
"Nach den Sommerferien 1973, zu Beginn des fünften Schuljahres, kam ich plangemäß aufs Gymnasium, während Detlev von nun an die Hauptschule besuchte. Nur ein Fußweg und ein Zaun trennten die Gebäude. Wir hätten morgens gut zusammen zur Schule gehen können. Aber wir taten es nicht. Er war doch jetzt Hauptschüler, auf der anderen Seite des Zauns, und ich Gymnasiast, Sextaner. Die von der Hauptschule sind kein Umgang, sagten meine Eltern. Also ging ich auf der linken Seite der Straße und Detlev auf der rechten. Ich glaube, wir haben nie wieder ein Wort miteinander gesprochen.(...)
Als ich noch Single war, konnte ich mir gut vorstellen, durchaus ein bisschen proletarisch und leicht verkommen zu leben, in einem Hinterhof-Altbau im tiefsten Berlin-Kreuzberg beispielsweise. Bestimmt hätte ich dann all die gutverdienenden Lebensstilpioniere mit bunten Bastelbiografien gegeißelt, die ihre Kinder morgens im Volvo zur Privatschule ins schmucke Zehlendorf fahren, statt sie die paar Meter zur nächstgelegenen Grundschule gehen zu lassen, wo auf dem Schulhof fast ausschließlich Türkisch gesprochen wird. Wer sich aus der Solidargemeinschaft herauskauft, hätte ich argumentiert, trägt erst recht dazu bei, dass Ghetto-Restschulen für die Chancenlosen zurückbleiben.
Spätestens mit der Einschulung des ersten Kindes änderte sich der Blickwinkel. Die Tochter wurde auf einer katholischen Grundschule mit durchaus überschaubarem Ausländeranteil angemeldet. Soll denn das eigene Kind als Versuchsobjekt gescheiterter sozialer Integration herhalten? Gegen den Rest schlechten Gewissens halfen Gespräche mit aufgeklärten türkischen Mittelschicht-Eltern, die ihre Kinder auch nicht auf die erstbeste Grundschule im Kiez schicken, sondern auf die besser beleumundete mit mehrheitlich deutscher Schülerschaft im benachbarten bürgerlichen Viertel."

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Auf den Anfang kommt es an

Dass es den Skandinaviern soviel besser gelingt, mit dem Problem der sozialen Auslese durch Schule fertig zu werden als wir, - aber auch als England und die USA, die lang schon kein dreigliedriges Schulsystem mehr haben, hat zweifellos viel mit einer humanen Schulphilosophie zu tun, mit der Grundmaxime, kein Kind zurückzulassen, keine Kind zu beschämen. Es hat aber offenbar auch mit dem zu tun, was in den nordischen Ländern schon vor dem Schuleintritt passiert. Für den dänischen Soziologen Gösta Esping-Andersen 17 sind die Lebenschancen von Kindern stark determiniert durch das, was sie, bevor sie in die Schule kommen, erleben. Das ist für ihn der Grund, warum mit Blick auf Deutschland ein ganzes Jahrhundert der Schulreform es nicht vermocht hat, die Wirkung sozialer Vererbung zu mindern. Noch immer diktiere der soziale Status der Eltern den Bildungserfolg, das Einkommen und die Berufsaussichten von Kindern. Zahlreiche empirische Studien zeigten, dass familiäre Armut, ökonomische Entbehrung und Unsicherheit fundamentale Ursachen seien für geringe Lebenschancen von Kindern, weil armen Eltern die Mittel fehlten, in die Zukunft ihrer Kinder zu investieren. Allerdings sei diese Erklärung für soziale Vererbung nicht ausreichend. Vielmehr spreche auch sehr viel dafür, "dass 'kulturelle' Faktoren ebenfalls entscheidend sind - vor allem hinsichtlich der kognitiven und emotionalen Entwicklung von Kindern". Wenn das aber so ist, wenn auch das "kulturelle Kapital" einen großen Einfluss hat, so müsse eine Strategie zur Umverteilung der Einkommen "zugleich die Ungleichheit der kulturellen Resourcen angreifen", weil die kognitiven Fähigkeiten immer bedeutsamer für die Lebenschancen der Menschen würden. Gefragt sei darum eine Politik, "die den Einfluss ungleicher kultureller und kognitiver Resourcen in den betreffenden Familien selbst beeinflusst". Die Statistiken zeigten, dass es in den Vereinigten Staaten, in Deutschland und Großbritannien überhaupt keinen Rückgang in der Sozialvererbung gegeben habe, während die skandinavischen Länder einen erheblichen Rückgang verbuchten. Für Esping-Andersen liegt die eine Erklärung dafür in den erheblichen Anstrengungen der nordischen Wohlfahrtsstaaten zur Reduzierung von Kinderarmut, eine andere, nicht in Konkurrenz dazu stehende, ist für ihn die folgende:
"Diese Länder - Dänemark voran, Norwegen als Nachzügler - setzen mittlerweile seit Jahrzehnten auf die allgemeine Versorgung mit Betreuungsmöglichkeiten für Kinder im Vorschulalter. Bei nahezu ausgeschöpften weiblichen Erwerbsquoten quer durch alle Bildungsgruppen profitieren die Kinder aus wirtschaftlich und/oder kulturell schwächeren Haushalten grundsätzlich von denselben pädagogischen Standards und kognitiven Impulsen wie Kinder mit privilegiertem Hintergrund. Deshalb bringen skandinavische Kinder bei der Einschulung unabhängig von ihrer sozialen Herkunft weitgehend homogene Voraussetzung mit."
Eine solche vorschulische Bildungspolitik trägt nach Esping-Andersen zur Lösung zweier Probleme bei: zum Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mit dem sich berufstätige Mütter vor allem herumschlagen, und sie sei außerdem ein effektives Mittel im Kampf gegen Vererbung sozialer Nachteile. In unserem Zusammenhang bedeutet das ein solides Fundament für eine Schule, die die Angst vor dem Leistungsanspruch nicht durch ständiges Dingfestmachen von Siegern und Verlierern verschärft und auf so gewalttätige Formen der Diskriminierung, wie sie unser Schulsystem verlangt, verzichten kann. Auch diese Schule kann aggressives Verhalten und Gewaltanwendung nicht beseitigen, ist aber offensichtlich strukturell und mit ihre Philosophie, kein Kind aufzugeben, weitaus besser in der Lage, den in der selektiven Schule wirksamen Zirkel von Angst, Versagen, Ehrverlust und Gewalt zu durchbrechen und dabei auch noch in einem angstverminderten Klima die besseren Lernergebnisse zu erzielen.
Auch bei uns soll nach PISA mehr in Grundschule und vorschulische Einrichtungen investiert werden, wobei immer noch das ökonomische und familienpolitische Argument, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Debatte dominiert und weniger der Bildungsaspekt. Wenn die entwicklungspsychologische und erziehungswissenschaftliche Forschung bei Kindern, die bei uns zur Schule kommen, eine Differenz von zwei bis drei Jahren in ihrer kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklung feststellen, kann man von der Grundschule in ihrem Bemühen um Kompensation und Angleichung keine Wunder erwarten, zumal diese Arbeit ja nicht, wie in Skandinavien, bis zum Ende der Schulpflicht ungestört weitergehen kann und schon unsere Grundschule eine Selektionsschule sein muss, lange vor dem Selektionsfinale am Ende dieser Schulstufe. Auf den Anfang käme es schon an, wenn das so einfach wäre in einem Land, indem noch viele Privilegierte dem demokratischen Gebot der Chancengleichheit nicht widersprechen, wenn dabei die eigenen Kinder oder die eigene Klientel chancengleicher bleiben, - und das über Abitur und Studium hinaus.

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Ausblick

Ob die Alternative zu den vielfach fragwürdigen schulischen Maßnahmen zur Gewaltprävention, nämlich Schülerinnen und Schüler darüber aufzuklären, dass unser Schulsystem nur funktioniert, wenn es Gewinner und Verlierer gibt, und darum Misserfolg nicht oder nicht nur persönlich zu nehmen ist, - ob dieser Versuch wirklich weiterhilft, ist für Uwe Findeisen schwer einzuschätzen, weil das Geltungsbedürfnis in unserer Gesellschaft eine maßgebliche Rolle spiele und "genau zu der für sakrosankt erklärten Konkurrenzordnung" passe. 18 Wie eine "andere Lernkultur" allerdings aussehen kann, mit einer Verminderung des Leistungsdrucks, nicht der Leistungen, ist nicht mehr das Thema des Psychotherapeuten Findeisen, sondern eine Frage der Bildungspolitik und der Schulforschung. Dabei kann es wohl nicht um eine Pädagogik im konkurrenzfreien Raum gehen, jenseits gesellschaftlicher Macht- und Gewaltstrukturen, wohl aber um eine Schule, die Schülerinnen und Schülern beim Lernen nicht unter einen künstlichen Leistungsdruck setzt, um so zu den für das System erforderlichen Leistungsunterschieden zu kommen, sondern um eine Pädagogik, die ihr Maß hat am Verstehen, was bei den einen mehr, bei anderen weniger Zeit erfordert, bei identischen Lernzielen und Standards.
Um eine solche Debatte geht es, wenn auch zögerlich und gegen massive Widerstände, bei uns nach PISA und IGLU. Es kann in dieser neuen Strukturdebatte ausdrücklich nicht um die Einführung der deutschen Gesamtschule in der Fläche gehen; denn diese Schulform hat sich in der erbitterten und ruinösen Konkurrenz zu Gymnasium und Realschule, mit Zweier- oder gar Dreierdifferenzierung, an vielen Orten weit entfernt vom Konzept gemeinsamen Lernens und ist mit dem ständigen Aussortieren in A-, B- und C-Kurse oft nur noch eine Karikatur des ursprünglich Gewollten. Wie eine gemeinsame Schule für alle von Klasse 1 bis 9/10 aussehen kann, lässt sich zur Zeit wohl am besten in Skandinavien studieren, aber auch an Reformschulen bei uns, wo im pädagogischen Konzept auf psychische Gewaltanwendung und Bestrafung durch frühe Benotung und Ausgrenzung verzichtet wird. In Finnland z.B. gibt es Noten erst ab Klasse 5, in Dänemark ab Klasse 8 und in Schweden sogar erst ab Klasse 9.
Es sind bei uns offensichtlich die selektiven Maßnahmen, die viele Schülerinnen und Schüler in ihrer Person treffen, die sie als stigmatisierend und ehrverletzend erleben und auf die die einen resignierend, andere aber aggressiv und gewalttätig reagieren. Dass die Schule dieses Resignation und Gewalt fördernde System aufrecherhalten muss, um en bestimmtes Leistungsniveau zu halten und im gesellschaftlichen Interesse der Abnehmer zu gewährleisten, ist eine nicht erst seit PISA, aber durch diese Studie gründlich widerlegte Legende. Schulsysteme, die auf diese Maßnahmen der Ausgrenzung verzichten und Heranwachsende bis zum Ende der Schulpflicht gemeinsam lernen lassen, erweisen sich generell als die leistungsstärkeren und im Interesse der Abnehmer effektiveren Systeme. Das wird auch in Teilen der Wirtschaft inzwischen so wahrgenommen 19, wo man selbst im mittelständischen Handwerk mit Hauptschulabsolventen, mit oder ohne Abschluss, nicht mehr viel anfangen kann und angebotene Lehrstellen lieber offen lässt, wenn nicht genügend Bewerber/innen mit Mittlerem Abschluss oder gar Abitur zur Verfügung stehen.
Die Frage nach einer Strukturreform wird sich dringlicher stellen in dem Maße, als bei Eltern, besonders den bildungsprivilegierten, die Einsicht wächst, dass dieses Konkurrenz dominierte System nicht nur die "Verlierer" trifft, sondern auch den Charakter der "Sieger" verdirbt, dass es in der Schule nicht nur um höhere Abschlüsse und um günstige Startchancen für den Beruf geht, sondern um eine Bildungsprozess, der im privaten, öffentlichen und beruflichen Leben trägt, in dem sich die kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen gleichermaßen entwickeln können.
Neben der Wirtschaft und den Eltern werden Lehrerinnen und Lehrer in dieser neuen Strukturdebatte ein wichtige Rolle spielen, sofern sie für eine Schule eintreten, in der nicht mehr viel Zeit und Energie für Auslese und Ausgrenzung vergeudet werden müssen, sondern ausschließlich der individuellen Förderung dienen. Es könnte eine Schule werden, in der die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden friedfertiger und konstruktiver werden, die Zufriedenheit der Lehrenden mit ihrer Arbeit ebenso wächst wie ihr gesellschaftliches Ansehen, weil sie längerfristig auch bessere Ergebnisse vorzuweisen hätten.

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Anmerkungen

1 Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen 2001, S.485f.
2 Frankfurter Rundschau, 2.4.2002.
3 Deutsches PISA-Konsortium (Anm.1), S.489.
4 Brigitte Schumann: Wie unser Schulsystem Eltern beschämt. In: Frankfurter Rundschau, 30.3.2004, S.9..
5 Uwe Findeisen: Jugendgewalt. Von der Leistungskonkurrenz zu Selbstbild und gekränkter Ehre. In: PädForum 2004, H.1, S.15-20.
6 Ebd., S.15.
7 Ebd., S.16.
8 Ebd.
9 Ebd., S.17.
10 Ebd., S.18.
11 Ebd., S.19.
12 Ebd., S.20
13 Corinna Hößle: Bevor die Faust zuschlägt. Gewaltprävention durch Förderung moralischer Urteilsfähigkeit. In: PädForum 2004, H.1, S.28-39.
14 Ebd., S.28.
15 Ebd., S.29.
16 Andreas Molitor: Wohin mit dem Kind? In: Die Zeit, 15.4.2004, S.61.
17 Gösta Esping-Andersen: Aus reichen Kindern werde reiche Eltern. Vorschläge, wie die Politik dem Phänomen der sozialen Vererbung entgegensteuern kann. In: Frankfurter Rundschau, 20.12.2003, S.7.
18 Findeisen (Anm.5), S.20.
19 V.Merkelbach: Neue Akteure im alten Streit um ein anderes Schulsystem in Deutschland: www.rz.uni-frankfurt.de/~merkelba/

Letzte Aktualisierung: 01.05.2004