Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Sind Hamburgs Stadtteilschule und Gymnasium gleichwertige Schulformen?

April 2015

Neue Zweigliedrigkeit

Nach den beiden ersten Pisa-Studien 2000 und 2003 war die dringliche Empfehlung der Kultusministerkonferenz „Keine neue Schulstrukturdebatte“ nicht mehr zu halten. Die beiden zentralen Ergebnisse des internationalen Leistungsvergleichs waren zum einen der deutsche Spitzenwert, was soziale Auslese betrifft, und in der Folge davon ein hoher Anteil an Schüler/innen, die mit oder ohne Hauptschulabschluss auf einem so niedrigen Bildungsniveau die Schule verlassen, dass sie nur schwer in den Arbeitsmarkt zu vermitteln sind. Diese „Risikogruppe“ befand sich zu dem Zeitpunkt ganz überwiegend in Haupt-und Sonderschulen.

Was beim innerdeutschen Ländervergleich auffiel, war das relativ gute Abschneiden der drei neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, mit einer vergleichsweise niedrigen „Risikogruppe“. Diese drei Länder haben nach der Wende auf eigenständige Hauptschulen verzichtet und neben dem Gymnasium nur noch eine weiterführende Schulform eingerichtet. Am Ende der Grundschule werden erst einmal Schüler/innen dem Gymnasium oder dieser nicht-gymnasialen Schule der Sekundarstufe I zugewiesen und nach Klasse 6 wird für die Schüler/innen, die nicht den Sprung aufs Gymnasium schaffen, entschieden, ob sie in abschlussbezogenen Haupt-oder Realschulklassen weiter unterrichtet werden, nicht aber in eigenständigen Hauptschulen oder Realschulen.

Diese Form der Zweigliedrigkeit war wohl ein wichtiger Impuls für westdeutsche Bundesländer, über die Frage nachzudenken, ob nicht schon eine Reduktion der Schulformen die deutsche Schule im internationalen Leistungsvergleich voran bringen könnte. Bereits in den frühen 1990er Jahren machte der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann den Vorschlag für ein zweigliedriges System, bei dem die nicht-gymnasiale Schule nicht mit dem 10.Schuljahr enden, sondern alle Abschlüsse, das Abitur eingeschlossen, anbieten sollte.

Für die drei Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg mit einem hohen Anteil an „Risikoschüler/innen“, darunter viele Kinder aus Migrantenfamilien, war die Frage besonders dringlich, ob nicht eine Unterrichtsreform nur mit einer Strukturreform Veränderungen bringen kann.

Schulreform und Volksentscheid

In der Landtagswahl 2003 errang die CDU die absolute Mehrheit und überraschte damit, dass sie als erster CDU-Landesverband ernsthaft eine gravierende Schulstrukturreform anstrebte. Es gelang ihr, eine parteiübergreifende Enquetkommission einzuberufen, die über neue Perspektiven des Hamburger Schulwesens beriet. Mit zentralen Aussagen der Kommission zog die CDU 2007/08 in den Wahlkampf. Die Eckpunkte ihres Schulprogramms waren:

  • Neben dem Gymnasium gibt es künftig nur noch eine Schulform, die Stadtteilschule, in der Hauptschule, Realschule und Gesamtschule fusionieren.

  • Am Ende der vierjährigen Grundschule führen die Lehrer/innen mit den Eltern Beratungsgespräche und danach entscheiden die Eltern, ob sie ihr Kind an einer Stadtteilschule oder einem Gymnasium anmelden.

  • Bis zum Ende von Klasse 6 können Schüler/innen zwischen Stadtteilschule und Gymnasium wechseln. Danach entscheidet das Gymnasium, wer bleiben darf oder in die Stadtteilschule wechseln muss.

  • Nach Klasse 9 gibt es an beiden Schulformen den Ersten Bildungsabschluss (Hauptschulabschluss) und nach der 10.Klasse den Mittleren Abschluss (Realschulabschluss).

  • Das Gymnasium führt in acht Schuljahren zum Abitur. In der Stadtteilschule können die Schüler/innen nach Klasse 12 die Fachhochschulreife erlangen und nach Klasse 13 das Abitur.

  • Schwache Schüler/innen bleiben in der Stadtteilschule nicht mehr sitzen, sondern werden individuell gefördert (ZEIT, 18.1.2007, S.34)

Die Frage war, wie die Opposition auf dieses für eine CDU-Alleinregierung ambitionierte Programm reagieren würde. Während die Grünen, wie schon bei der vorhergehenden Wahl, eine neunjährige „Grundschule“ nach skandinavischem Vorbild forderten („Neun macht klug“), beschloss die SPD auf einem bildungspolitischen Parteitag am 2.12.2006 u.a.:

  • Die Stadtteilschule führt wie Gymnasium und Gesamtschule auf einem direkten Weg zum Abitur, und dies nach12 oder 13 Schuljahren.

  • Die verbindliche Schullaufbahnempfehlung am Ende der Grundschule wird ersetzt durch eine „individuelle und qualitative Beratung“ der Eltern.

Unwidersprochen ließ die Partei im Schulprogramm der CDU, dass bis zum Ende von Klasse 6 Schüler/innen zwischen Stadtteilschule und Gymnasium wechseln können, am Ende von Klasse 6 aber das Gymnasium entscheidet, wer bleiben darf oder in die Stadtteilschule wechseln muss. Dies konterkariert, dass die Grundschule entlastet ist von der verbindlichen Zuweisung zu den beiden Schulformen, das Gymnasium dafür aber die Möglichkeit hat, zwölfjährige Kinder mit akuten Lernproblemen an eine Schule zu überweisen, die ohnehin eine viel stärker heterogene Schülerschaft zu unterrichten hat. Ein solches Zugeständnis führt die Rede, beide Schulformen seien wenigstens formal gleichberechtigt, ad absurdum.

Wie soll ein Gymnasium mit dieser Möglichkeit des Abschiebens schon nach Klasse 6 eine förderorientierte Pädagogik entwickeln, die dann ja auch gebraucht wird, wenn in den Klassen 7 bis 10 Schüler/innen auf den „ Ersten Bildungsabschluss“, auf den Mittleren Abschluss bzw. auf den Übergang in die Oberstufe vorzubereiten sind? Wie soll das Gymnasium, das sich nicht auf diesen anspruchsvollen pädagogischen Weg macht, eine inklusive Schule werden, offen auch für Kinder mit Behinderungen? Oder soll Inklusion auch noch von der Stadtteilschule allein bewältigt werden für das „Privileg“, wie das Gymnasium das Abitur in einer eigenen Oberstufe anbieten zu dürfen?

Bei der Wahl 2008 verlor die CDU ihre absolute Mehrheit und musste mit den Grünen als Partner deren Konzept einer neunjährigen „Grundschule“ mit dem von ihr favorisierten Zwei-Wege-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium auf einen für beide Seiten verträglichen Nenner bringen. Die Vereinbarungen sahen im Koalitionsvertrag in ihren strukturrelevanten Aussagen so aus:

  • Die Grundschule wird um die Klassen 5 und 6 erweitert zur neuen „Primarschule“ und entscheidet am Ende von Klasse 6 verbindlich, wer fürs Gymnasium und wer für die Stadtteilschule geeignet ist.

  • Dafür kann das Gymnasium in den Klassen 7-10 Schüler/innen mit Lernproblemen nicht mehr an die Stadtteilschule abgeben.

Auf einer Sitzung des Landesvorstandes am 17.7.2009 lehnt die SPD die sechsjährige Primarschule ebenso ab wie die Abschaffung des Elternwahlrechts. Wieder sollen die Schüler/innen „in zwei Kategorien sortiert werden“ und „auf eine akademische Karriere“ (Gymnasium) bzw. „auf eine berufliche Laufbahn“ (Stadtteilschule) vorbereitet werden. Die Stadtteilschule brauche „ein klares Profil, das sich beispielsweise an den guten Profilen erfolgreicher Gesamtschulen orientieren sollte“. Die große Chance „auf einen Hamburger Schulfrieden, wie er von der Enquete-Kommission vorbereitet“ worden sei, werde durch die sechsjährige Primarschule gefährde

Im Mai 2008 trat die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ auf den Plan, die verhindern will, dass das Gymnasium nach der Einführung von G8 um weitere zwei Jahre durch die sechsjährige „Primarschule“ verkürzt werden soll. Nach dem im Herbst 2009 erfolgreich durchgeführten Volksbegehren ging es dann bei dem auf den 18.Juli 2010 terminierten Volksentscheid um die beiden Forderungen der Bürgerinitiative an Bürgerschaft und Senat,

  • „eine Ausgliederung der Klassen 5 und 6 aus dem Gymnasium und anderen weiterführenden Schulen und deren Anbindung an die Grundschule als 'Primarschule' zu unterlassen“,

  • „Gymnasien und weiterführende Schulen in der bisherigen Form“ zu erhalten und den Eltern wie bisher das Recht einzuräumen, „die Schulform für ihre Kinder nach Klasse 4 zu wählen“.

Der drohende Volksentscheid hat den Senat veranlasst, mit der oppositionellen SPD über die am 7.10.2009 von der Bürgerschaft auf der Basis des Koalitionsvertrags beschlossene Schulgesetznovelle zu verhandeln mit dem Ergebnis:

  • Am Ende der sechsjährigen Grundschule entscheiden wie bisher nach Klasse 4 die Eltern. Dies sollte ein Angebot sein an die Initiatoren des Volksentscheids und war jetzt die Forderung der SPD.

  • Dafür akzeptierte die SPD in der Klasse 7 des Gymnasiums ein Probejahr, an dessen Ende die Zeugniskonferenz über den Verbleib am Gymnasium entscheidet.

Dieser Kompromiss, dem nachträglich auch die Linkspartei zustimmte, war für die Initiative „Wir wollen lernen“ kein Friedensangebot, sondern eine Provokation. Für die SPD allerdings ist es ein Versagen im Kampf um eine wenigstens formal gleichrangige Schule neben dem Gymnasium. Sie akzeptierte, dass nach der Elternentscheidung fürs Gymnasium schon nach einem Jahr die Zeugniskonferenz entscheidet, wer bleiben darf und wer gehen muss. Nicht zugestimmt hatte die Linkspartei der Selbstverpflichtung der drei anderen Parteien, „die Schulstruktur über einen Zeitraum von zehn Jahren zu garantieren – unabhängig davon, wer die Regierung stellt“.

Der erfolgreiche Volksentscheid am 18.7.2010 veränderte den All-Parteien-Kompromiss an entscheidenden Punkten: Die sechsjährige Primarschule hat sich ebenso wie das Probejahr am Gymnasium in Klasse 7 erledigt und die Eltern können am Ende der vierjährigen Grundschule wieder frei wählen zwischen Gymnasium und Stadtteilschule. Geblieben ist das Zugeständnis ans Gymnasium, am Ende von Klasse 6 zu entscheiden, wer bleibt und wer geht.

SPD-Alleinregierung

Am 29.11.2010 war nach dem Rücktritt von Bürgermeister Ole von Beust Schwarz-Grün am Ende und bei der Neuwahl am 7.3.2011 gewann die SPD die absolute Mehrheit. In ihrem Wahlprogramm vom 12.1.2011 erklärt die Partei: „Wir stehen zu dem zehnjährigen Schulfrieden, der erneute Veränderungen“ an der „Schulstruktur ausschließt“. (S.25) Die SPD-Alleinregierung akzeptiert erneut, dass es statt der Grundschule dem Gymnasium vorbehalten bleibt, am Ende von Klasse 6 zu entscheiden, wer bleiben darf und wer in die Stadtteilschule überwiesen wird, - und das für die nächsten zehn Jahre.

Dieser Konsens mit der Opposition brachte die SPD mit ihrem Regierungsantritt 2011 in die Defensive bei all denen, die in Hamburg sich für eine Schule für alle engagierten und jetzt erleben mussten, dass die neue Regierung nicht einmal für eine wenigstens formale Gleichstellung der beiden Schulformen zu kämpfen bereit ist. Alles, was der neue Schulsenator, Ties Rabe, in den folgenden Jahren unternahm, um die enormen Problem in den Stadtteilschulen wenigstens zu vermindern, wurde überschattet durch den nach wie vor exklusiven Charakter des Gymnasiums.

In einer der ersten Pressemeldungen der „Behörde für Schule und Berufsbildung“ im Juli 2011 nennt der neue Schulsenator unter den vordringlichen Zielen seiner Arbeit, „die neuen Stadtteilschulen“ zu stärken (http://bildungsklick.de /1.7.2011), für die die SPD in dem All-Parteien-Kompromiss bereits durchsetzte, dass die Obergrenze für die Klassengröße für die Stadtteilschule bei 25, für das Gymnasium bei 28 Schüler/innen liegen soll.

In einer Pressemeldung der Schulbehörde im Februar 2013 freut sich der Senator, dass die Anmeldezahlen an Stadtteilschulen und Gymnasien stabil geblieben sind. Fast alle neu gegründeten Stadtteilschulen hätten sehr gute Anmeldezahlen. Das sei ein gutes Ergebnis und zeige, „dass wir mit zwei gleichwertigen weiterführenden Schulformen auf dem richtigen Weg sind“. Die Anmeldezahlen für die Klasse 5 liegen 2013 bei Stadtteilschulen bei 46,4 Prozent, bei Gymnasien bei 52,6 Prozent. Erfahrungsgemäß, so der Senator, kehre sich das Verhältnis in Klasse 7 zugunsten der Stadtteilschule um“. (http://bildungsklick.de /13.2.2013).

Im Klartext heißt dieses „zugunsten“, dass die Stadtteilschule zu Beginn des 7.Schuljahres einen erheblichen Anteil der Schüler/innen, die das Gymnasium als nicht geeignet abschiebt, zu integrieren hat. Im „Bildungsbericht 2014“ stellt die Schulbehörde zum Thema „Schulformwechsel“ fest: Er nehme von der Stadtteilschule zum Gymnasium „kontinuierlich“ ab, da es inzwischen an fast allen Stadtteilschulen eine eigene Oberstufe gebe. Dagegen nehme er vom Gymnasium zur Stadtteilschule zu. „Verließen im Schuljahr 2008/09 nach der Jahrgangsstufe 6 noch 4,6 Prozent aller Schülerinnen und Schüler das Gymnasium, stieg der Anteil 2013/14 auf 10 Prozent.“ 17 Prozent davon hatten eine Gymnasialempfehlung. Ursache sind für die Schulbehörde „die starke Anwahl des Gymnasiums und die strengere Leistungsselektion in Jahrgangsstufe 6“. 4,6 Prozent der Schüler/innen verabschieden sich dann noch einmal nach Klasse 10 vom Gymnasium, weil sie sich „in der dreijährigen Oberstufe der Stadtteilschule mehr Erfolg“ versprechen „als in der zweijährigen Oberstufe des Gymnasiums“. (http://bildungsklick.de /12.11.2014)

Wie weit der Weg noch ist zu zwei formal gleichwertigen Schulformen, zeigt auch, dass statt einer stufenbezogenen Reform der Lehrer/innen-Bildung die Schulbehörde es als Erfolg vermeldet, „dass Lehrkräfte in den Jahrgangsstufe 5-10 der Stadtteilschulen“ „in ihrer Unterrichtsverpflichtung den Lehrkräften an den Gymnasien gleichgestellt“ werden, was im vereinbarten „Schulfrieden“ so beschlossen worden sei (http://bildungsklick.de/16.8.2012). Beim Start einer „Offensive zur Verbesserung“ von Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften an Stadtteilschulen will der Senator erreichen, dass der „Anteil von Gymnasiallehrkräften nach dem Vorbild besonders erfolgreicher Stadtteilschulen deutlich in Richtung 50 Prozent“ erhöht wird. (http://bildungsklick.de/29.10.2014)

Eine stufenbezogene Reform der Lehrer/innnen-Bildung ist in dem auf 10 Jahre vereinbarten „Schulfrieden“ nicht vorgesehen, auch wenn sie bei angeblich zwei gleichwertigen Schulformen eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

Im selben „Bildungsbericht 2014“ heißt es zum Thema „Inklusion“, dass seit dem Schuljahr 2010/11, also seit der SPD-Alleinregierung, „eine Zunahme inklusiver Beschulung zu verzeichnen“ sei. So besuchen im Schuljahr 2013/14 58,2 Prozent der Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeine Schulen, im Schuljahr 2009/10 waren es nur 16,2 Prozent. Dazu der lapidare Satz: „An Gymnasien findet kaum Inklusion statt.“ (http://bildungsklick.de /12.11.2014)

Wiederum sind es die Stadtteilschulen, die für die Umsetzung der Inklusion in der Sekundarstufe allein verantwortlich sein sollen, während das exklusive Gymnasium sich in Zurückhaltung übt. Der rapide Anstieg der Schüler/innen mit Behinderungen in Regelschulen ist verursacht durch den Beschluss der schwarz-grünen Vorgängerregierung, der alle Eltern berechtigt, Kinder mit Behinderungen an Regelschulen anzumelden. Das brachte das seit 20 Jahren bewährte Hamburger Modell der Integrationsschulen mit Integrationsklassen, die ständig mit zwei Lehrkräften ausgestattet waren, personell und finanziell ins Straucheln und wurde ersetzt durch einen Test, bei dem festgestellt wird, wie viele „Extra-Lehrerstunden“ einer inklusiven Schule zustehen. Aus dieser Umstellung des Verfahrens resultiert ein Konflikt der Schulen mit der Schulbehörde. Während die Schulen erklären, dass sie mit den Extra-Lehrerstunden eine Doppelbesetzung nicht mehr organisieren können, unterstellt die Schulbehörde den Schulen, zu viele Kinder mit dem Recht auf sonderpädagogische Förderung zu melden. (Eine detaillierte Darstellung des Konflikts: Esther Geißlinger: Mehr Kinder im Fördersystem. In: Erziehung und Wissenschaft, 9/2014, S.38 f.)

Unabhängig davon, wie dieser Streit um eine bedarfsgerechte Ausstattung gelöst wird, bleibt unstrittig: Die Umsetzung der Inklusion ist für die Stadtteilschulen eine weitere schwere Belastung, ausgelöst wiederum durch ein Gymnasium, das lernschwache Schüler/innen abschieben kann und darum keinen Druck verspürt, eine förderorientierte Pädagogik für alle nach der Grundschule angenommenen Kinder zu entwickeln. Erst mit einer solchen Pädagogik werden Gymnasien in der Lage sein, sich auch für Kinder mit Behinderungen zu öffnen.

Wahlprogramme und Koalitionsvertrag

Schulsenator Ties Rabe kommt im November 2014, schon im Wahlkampfmodus, zu der Feststellung, dass Studien der Schulpolitik, die sich lange „auf Fragen der Schulstruktur“ konzentriert habe, ein Umdenken nahe legten; denn die Ergebnisse dieser Studien zeigten, „dass die Qualität des Unterrichts und das Handeln der Lehrkräfte für den Bildungserfolg entscheidend“ seien. Der „Hamburger Schulfrieden“ habe nun „die Möglichkeit eröffnet, jahrzehntelange zermürbende Diskussionen zu überwinden und die Schulpolitik auf die Verbesserung der Schul- und Unterrichtsqualität zu konzentrieren“ (http://bildungsklick.de /4.11.2014). An der hierarchischen Struktur von Stadtteilschule und Gymnasium dürfte sich also, wenn es nach der Wahl wieder auf die SPD ankommt, wohl nichts ändern.

Die SPD will in ihrem „Regierungsprogramm“ weiterhin die „Stadtteilschulen stärken“. Sie will an allen Stadtteilschulen „die Zahl der Gymnasiallehrkräfte auf rund 50 Prozent anheben“, will, dass „Berufsorientierung als eigenes Schulfach fester Bestandteil des Unterrichts“ wird. Sie setzt „weiter auf ein hohes Leistungsniveau auf dem Gymnasium“. Sie will „Inklusion weiter verbessern“ und hat darum „Grund-und Stadtteilschulen mit 300 zusätzlichen Pädagoginnen und Pädagogen gestärkt“. Und beim Übergang von Schule und Beruf sollen „Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule“ bereits während ihrer Schulzeit „gezielt auf den Übergang in Beruf und Studium vorbereitet“ werden. (S.44 f.)

Mit solchen programmatischen Sätzen will die SPD ihre Schulpolitik der letzten Jahre nahtlos fortsetzen. Die Stadtteilschule kann zum Abitur führen, hat aber den klaren Schwerpunkt „Berufsorientierung“, während das Gymnasium zwar auch alle Abschlüsse anbietet, aber auf „hohem Leistungsniveau“ und verkürzter Schulzeit auf ein akademisches Studium vorbereitet. Positiv zu bewerten ist dann schon, das die SPD in ihrem „Regierungsprogramm“ nicht mehr von Gleichwertigkeit beider Schulformen spricht.

Die Grünen sind in ihrem Wahlprogramm „immer noch grundsätzlich überzeugt, dass längeres gemeinsames Lernen in Schulen, in denen jedes Kind seine ganz individuellen Talente entdecken und fördern kann, die beste Form des Bildungserwerbs darstellt“. Gemeint ist damit wohl ihr Konzept einer neunjährigen „Grundschule“, unter Einschluss des Gymnasiums. „Die Frage nach größeren strukturellen Veränderungen am Hamburger Schulsystem“ stellt sich aber für die Partei „derzeit nicht“. Schulen brauchten „jetzt vor allem Zeit und Ruhe, um die Reformen umzusetzen“ (S.82), - ein zählebiges Argument der Konservativen, um vor allem strukturelle Veränderungen abzuwehren.

Ganz besonders wollen die Grünen „die noch junge, mit viel Potenzial ausgestattete Schulform Stadtteilschule unterstützen, damit sie ihrer unglaublich vielfältigen Bildungsaufgabe gerecht werden kann“. Mit einem „Inklusionsfonds“ wollen sie „u.a. eine bessere Betreuung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den Stadtteilschulen sowie Fortbildungsmaßnahmen ermöglichen“. (S.84)

Dass die „unglaublich vielfältige Bildungsaufgabe“, sprich extreme Belastung, der Stadtteilschule eine Folge des exklusiven Gymnasiums ist, dem die Grünen im All-Parteien-Schulkompromiss zugestimmt haben, bleibt unerwähnt. Statt dessen wollen sie die Gymnasien „in ihrer Schul-und vor allem Unterrichtsentwicklung, gerade im Hinblick auf die zunehmend heterogener werdende Schülerschaft, gezielt unterstützen und fortbilden“. Damit auch die Gymnasien „zu inklusiven Schulen werden“, wollen sie „dort schrittweise inklusiven Unterricht vorbereiten und fördern“. (S.84 f.)

Es ist schon erstaunlich, wie die schulpolitisch so aufmüpfigen Grünen („Neun macht klug“) sich durch die traumatische Erfahrung beim Volksentscheid das Nachdenken über schulpolitische Alternativen verbieten lassen und, wie die SPD, ein zehnjähriges Moratorium akzeptieren.

Die Linkspartei ist von ihrer Zustimmung zu dem zwischen CDU, SPD, Grünen und FDP ausgehandelten Schulkompromiss, dem sie nachträglich zugestimmt hat, wohl so erschöpft, dass sie in ihrem Wahlprogramm schulpolitisch sich einfach ausschweigt, obwohl sie ja als einzige Partei dem verabredeten zehnjährigen schulstrukturellen Stillstand nicht zugestimmt hat.

Die CDU ist in ihrem Wahlprogramm unter dem Titel „Starke Schulen, frei von Ideologie“ ganz im Reinen; denn mit dem unter „CDU-Senaten“ konzipierten „Zwei-Säulensystem aus Gymnasium und Stadtteilschule“ sei das Hamburger Schulsystem „grundsätzlich gut aufgestellt“. Nur habe die SPD-Regierung einiges schlecht umgesetzt. So gefährde die „unausgereifte und vorschnelle Umsetzung der Inklusion den Erfolg vor allem der Stadtteilschule“. Auch die „flächendeckende Einführung der ganztägigen Bildung und Betreuung“ genüge „dem Anspruch an eine gute Ganztagsschule oft nicht“. Die „vollständige Abschaffung des Sitzenbleibens und die ungenügende Umsetzung des Konzepts 'Fördern statt Wiederholen'“ führten „zu weiteren Qualitätsverlusten“. „Anstatt ideologisch motivierter Experimente“ will die CDU den „Schulfrieden“ nutzen, „um langfristig die Unterrichtsqualität in allen Schulformen zu verbessern“. (S.34 f.)

Starke und leistungsorientierte Gymnasien fördern lernstarke und begabte Schüler besser als bisher. Die Stadtteilschulen bereiten ihre Schüler in den Kernfächern ab Klasse acht auf ihre weitere Bildungslaufbahn vor. Dabei sind die Chancen der dualen Ausbildung als gleichwertige Alternative zum Studium zu vermitteln. Durch äußere Differenzierung des Unterrichts und einen höheren Gymnasial-und Fachlehrereinsatz werden an der Stadtteilschule die leistungsstärkeren Schüler besser auf die Oberstufe vorbereitet. (S.35 f.)

Schließlich will die CDU „die Lehrerausbildung grundlegend reformieren, aber keine Einheitslehrer“. Sie will deshalb das Lehramt für Gymnasien ebenso beibehalten wie die Lehrämter für Primarstufe, Sekundarstufe I und Sonderpädagogik. „Für die herausfordernde Aufgabe der Inklusion“ will die Partei „Leuchtturmschulen“ schaffen, sie gut ausstatten und erst im nächsten Schritt an „einen sukzessiven Ausbau des Netzes an Inklusionsschulen bis 2030“ gehen. Daneben sollen die Sonderschulen „als gleichwertige Alternative erhalten“ bleiben. (S.36)

Die CDU erweckt mit solchen programmatischen Aussagen den Eindruck einer Partei, die entschlossen ist, nach den schulpolitischen Turbulenzen unter Schwarz-Grün und mit dem Schutzschild des vereinbarten Schulkompromisses die für ihre Klientel so günstige Schulstruktur, mit dem Gymnasium als einer nach wie vor exklusiven Schule, die nächsten zehn Jahre gegen alle „ideologischen“ Angriffe und „Experimente“ zu verteidigen.

Im Wahlprogramm „Bildungspolitik“ der FDP muss in der Stadtteilschule „die Ausbildungsreife für das duale Berufsausbildungssystem“ im „Vordergrund“ stehen. „Dazu gehört ab Klasse 7 eine enge Kooperation zwischen Wirtschaft und Stadtteilschule, um entsprechende Praktika anzubieten und eine fundierte Berufsorientierung durchzuführen“. Das Ziel des Gymnasiums hingegen ist die „Hochschulreife“. Das bedeutet für die FDP, „dass Abiturienten auch und vor allem dazu befähigt werden müssen, möglichst selbständig ein Hochschulstudium mit Erfolg abzuschließen“. Beim Thema „Inklusion“ setzt sich die Partei für ein Wahlrecht der Eltern ein. „Die Förderschulen müssen auch zukünftig erhalten bleiben und gut ausgestattet werden, damit sie echte Alternativen darstellen.“ (S.2-4)

Die SPD verliert bei der Wahl am 15.Februar ihre absolute Mehrheit, war sich aber mit ihrem neuen Partner, den Grünen, ja schon vor der Wahl einig, am Schulkompromiss festzuhalten. So heißt es gleich zu Beginn im Koalitionsvertrag: „Hamburgs Schulen brauchen in den nächsten Jahren vor allem Zeit und Ruhe, um bereits beschlossene Reformen umzusetzen, die Qualität zu sichern und Freude am Lernen zu fördern.“ Deshalb gelte „der Schulfrieden, wie vereinbart, weiter“. (S.83)

Die Inklusion erklären die neuen Partner „zu ihrer gemeinsamen Priorität.“ Das betrifft konkret allerdings fast ausschließlich Grund- und Stadtteilschulen; denn „Gymnasien können auf eigenen Wunsch inklusiv arbeiten“. (S.83) Wie dieser „Wunsch“ bei einer nach wie vor exklusiv arbeitenden Schule stärker werden soll, ist nur schwer vorstellbar.

Wie die SPD-Alleinregierung will auch die Koalition „die Stadtteilschulen stärken“. Dazu gehöre u.a. „die Multiprofessionalität des Schulpersonals (Lehrkräfte, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher, Therapeutinnen und Therapeuten)“ zu erhöhen und „den Anteil der Gymnasiallehrkräfte an den Fachlehrkräften auf 50%“ zu steigern. „Die Berufs- und Studienorientierung ist fester Bestandteil des Unterrichts“ an der Stadtteilschule, - was nicht zu kritisieren wäre, wenn dieselbe Formulierung auch für Gymnasien gelten würde, die ja auch für ihre Schüler/innen die „Berufsreife“ und die „Mittlere Reife“ vorbereiten und nicht nur die „Studienreife“. (S.84)

„Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer“ soll „weiterentwickelt“ werden. „Weiterentwickelt“ bedeutet offensichtlich nicht, dass ein einheitliches Lehramt für Stadtteilschulen und Gymnasien angestrebt wird, was insofern konsequent ist, als für eine Schulform mit dem Schwerpunkt „Berufsorientierung“ auch ein anderes Curriculum gelten muss, als für eine Schulform mit dem Schwerpunkt „akademisches Studium“. (S.87)

Ausblick

Beim schulstrukturellen Stillstand der Parteien in der Bürgerschaft, stellt sich die Frage: Wie soll es den schwer belasteten Stadtteilschulen gelingen, in einen Wettbewerb mit dem Gymnasium einzutreten und auch bildungs-und leistungsorientierte Eltern von ihrem inklusiven Konzept zu überzeugen? Besteht nicht die Gefahr, dass sie, vor allem in Stadtteilen mit einer unterprivilegierten Bevölkerung und mit vielen Kindern aus Migrantenfamilien, trotz Abiturangebot, die neuen Hauptschulen werden?

Sollte es wirklich zehn Jahre dauern, bis insbesondere bei SPD, Grünen und Linkspartei, aber vielleicht auch bei der CDU, die Einsicht reift, dass Gymnasien, die ab Klasse 7 niemanden mehr abschieben können und Jugendliche auch auf den ersten und zweiten Bildungsabschluss vorbereiten müssen, diesen für Gymnasien schwierigen Lernprozess am besten schon mit zehn- bis zwölfjährigen Kindern einüben? Eine solche Strukturveränderung wäre eine große Entlastung der Stadtteilschule, könnte aber auch Gymnasien pädagogisch entscheidend voran bringen in ihrer Verantwortung für alle Kinder, die Eltern einer Schule anvertrauen, und sie auch als inklusive Schulen qualifizieren.

Dies scheint mir eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, dass Stadtteilschulen und Gymnasien wenigstens formal gleichwertig werden. Mit einer bedarfsgerechten Ressourcenzuweisung auf der Basis eines jeweils aktualisierten, wissenschaftlich begründeten Sozialindex, könnte es für Eltern immer weniger relevant werden, wie eine Schule heißt, als das pädagogische Konzept, das sie anbietet und praktiziert. Schließlich ist das in Hamburg keine Zukunftsvision, sondern Realität im erfolgreichen Wettbewerb ehemaliger Gesamtschulen mit Gymnasien um das Vertrauen von Eltern aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus.

 

Letzte Aktualisierung: 16.04.2015