Wozu ein Hauptschulabschluss ohne Hauptschule?
Dezember 2007
Als 2005 der zweite PISA-Ländervergleich veröffentlicht wurde, waren es diesmal nicht die Südländer Bayern und Baden-Württemberg, auf die sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtete, sondern die drei ostdeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit ihren Systemen ohne eigenständige Hauptschule, die sich unter dem Aspekt "soziale Auslese" und "Risikogruppe" als überraschend erfolgreich präsentierten. Seitdem stellt sich auch unter den Gegnern jeglicher Strukturveränderung die Frage, ob nicht wenigstens die Reduktion der Schulformen von vier auf drei oder zwei das deutsche Schulsystem im internationalen Leistungsvergleich aus seinem Mittelmaß herausführen könnte. Dabei geriet die Hauptschule ins Visier, die es in den drei ostdeutschen Ländern nur kurze Zeit nach der Wende gegeben hat und die in den übrigen Ländern immer mehr zur Problemschule geworden ist. Auch wenn man sie mit immer neuen Fördermaßnahmen zu retten versucht, sie verliert bei Eltern rapide an Akzeptanz, weil der Abschluss dieser Schulform kaum noch eine Perspektive bietet für einen erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben.
In dieser Hinsicht sind auch die Ergebnisse von PISA 2006, insbesondere in den inzwischen gut vergleichbaren Kompetenzbereichen Lesen und Rechnen, eher ernüchternd und die soziale Auslese bleibt ein zentrales deutsches Problem. Die neue Studie wird jedenfalls an der Brisanz der Frage nichts ändern, ob die statistisch unerheblichen Verbesserungen nach sechs Jahren PISA nicht doch ursächlich etwas zu tun haben mit der im internationalen Vergleich fast einmaligen frühen Zuteilung der Kinder zu unterschiedliche anspruchsvolle Schularten.
Um mit dieser Diskussion nicht alle drei Jahre erneut belästigt zu werden, fordern konservative Politiker, doch endlich aus PISA auszusteigen. Andere, Pädagogen vor allem, warnen vor der Gefahr, die Momentaufnahmen von PISA in den drei gut messbaren Lernbereichen könnten deren Bedeutung so sehr akzentuieren, dass alles andere, was an allgemeinbildenden Schulen auch bildsam ist, dem untergeordnet wird und PISA so die ohnehin durch permanente Auslese belastete Lernkultur an unseren Schulen zusätzlich belastet.
Bei aller, unterschiedlich motivierter Kritik an PISA, auch der von Bildungsforschern, - es bleibt das Verdienst der Wirtschaftsorganisation OECD, mit ihrer Langzeitstudie nicht nur wirtschaftliche Interessen zu bedienen. Wie nach keiner internationalen oder nationalen Leistungsvergleichsstudie diskutieren wir seit PISA 2000 nicht nur Fragen, wie unsere Schulen wichtige Grundqualifikationen für die Belange einer erfolgreichen Volkswirtschaft besser vermitteln, sondern auch normative Fragen, wie gerecht es bei dieser Vermittlung zugehen soll und ob überhaupt Allgemeinbildung nur an qualifizierten Abschlüssen und einem erfolgreichen Start ins Berufsleben gemessen werden darf. Ändert sich etwa die demokratische Substanz unserer Schulsystems schon, wenn wir, getrieben von PISA, demnächst die Quote von Haupt- und Sonderschulabsolventen ohne Abschluss vermindern und die Abiturientenquote steigern?
Und was ist gewonnen, wenn PISA 2006 noch einmal die Tendenz verstärkt, die Hauptschule abzuschaffen, die KMK aber an ihrem Beschluss festhält, dass auch Länder ohne eigenständige Hauptschulen weiterhin einen Hauptschulabschluss anbieten müssen? Um die normative Dimension dieser strukturellen Frage geht es in den folgenden Überlegungen.
Die Wiederbelebung der "Orientierungsstufe"
Der Beschluss der KMK, am Hauptschulabschluss festzuhalten, war ursprünglich die Voraussetzung für den Kompromiss zwischen Bundesländern mit und ohne Integrierte Gesamtschulen. Die CDU-regierten Länder in dem Gremium waren in ihrem Kampf gegen die Gesamtschule nur bereit, die Abschlüsse dieser neuen Schule anzuerkennen, wenn auch diese integriert arbeitende Schule in den Abschlussklassen der Sekundarstufe I ihre Schüler/innen in bestimmten Fächern sortiert in diejenigen, die sie auf den Hauptschulabschluss vorbereitet und die übrigen, die versprechen, den Mittleren Abschluss zu schaffen. Längst wissen wir, wie gravierend diese Auflage für die Entwicklung und das Image der deutschen Gesamtschule als einer die übrigen Schulformen ersetzenden Schule war und noch immer ist. Wir wissen aber auch, was Integrierte Gesamtschulen trotz dieses massiven Eingriffs in ihr ursprüngliches Konzept leisten. (Leistungsstarke Gesamtschulen 2007; Merkelbach 2007 c; vgl. auch Der deutsche Schulpreis 2006 und 2007 der Robert-Bosch-Stiftung)
Wirksam wurde der Beschluss der KMK dann auch nach der Wende in den Ländern, die ohne eigenständige Hauptschulen auskommen, wie in den oben genannten Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, aber auch in Brandenburg, das nie eine Hauptschule hatte, im Saarland und neuerdings in Schleswig-Holstein. Auch in den neuen Schulstrukturplänen von Hamburg und Rheinland-Pfalz wird es den Hauptschulabschluss ohne eine eigenständige Hauptschule geben. Ausgenommen von dieser paradox klingende Verpflichtung ist bislang neben der Realschule das Gymnasium, das lange nur das Abitur anbot und erst neuerdings verpflichtet ist, uch den Mittleren Abschluss zu vergeben, damit die Schüler/innen, die das Abitur nicht schaffen, nicht ohne Abschluss die Schule verlassen.
Was haben diese Schulen mit so unterschiedlichen Namen wie Mittelschule, Sekundarschule, Regelschule, Erweiterte Realschule und neuerdings Regionalschule oder Kooperative Realschule gemeinsam? Sie stehen nicht gleichrangig neben, sondern als Zweitschulen unter dem Gymnasium. Am Ende der Grundschule werden nur noch die fürs Gymnasium empfohlenen Kinder ausgesondert, die anderen, d.h. die Mehrheit, bleibt bis Ende Klasse 6 zusammen. Erst ab Klasse 7 gibt es dann wieder "abschlussbezogene" Klassen oder, wie in der Gesamtschule, Niveaukurse, in denen getrennt unterricht wird, wer als Haupt- oder Realschüler in den Jahren davor erkannt worden ist. Es gibt also von Klasse 7 bis 9/10 wieder das dreigliedrige Schulsystem und das viergliedrige dort, wo es, wie in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, auch die Integrierte Gesamtschule oder neuerdings die Gemeinschaftsschule gibt.
Ist das unter dem Aspekt "länger gemeinsam lernen" nun ein Fortschritt? Im PISA-Ländervergleich 2003 wirkte sich diese Zweigliedrigkeit in 5/6 offensichtlich positiv aus, was den unteren Leistungsbereich betraf, ohne dass PISA allerdings berücksichtigte, wie viele Fünfzehnjährige in den betreffenden Ländern jeweils in Sonderschulen unterrichtet wurden.
Diese zweijährige Form von Zweigliedrigkeit gab es im Übrigen bis vor einigen Jahren auch in Bayern, ehe die Landesregierung Haupt- und Realschüler/innen schon nach Klasse 4 trennte. Seitdem verliert die Hauptschule rapide an Akzeptanz und häufen sich die Hauptschulschließungen. Das hat das zuständige Ministerium wohl veranlasst, Schulexperten zu beauftragen, schon einmal über das Problem Hauptschule in Bayern nachzudenken. Als das Papier der Experten 2006 an die Öffentlichkeit gelangte, waren darin Sätze zu lesen wie "Hauptschulen sind eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform"; oder: "Es hilft dieser Schulform nicht, wenn man unflexibel und unbeirrt an alten Hauptschulevorstellungen festhält". Als die Grünen im bayrischen Landtag aus dem Papier zitierten, hat es, wie Christian Füller in der TAZ vom 30.11.2006 berichtet, einen kleinen Tumult gegeben. Der Fraktionsvorsitzende habe, um die Wogen zu glätten, später mitteilen lassen, niemand in der Fraktion kenne dieses Experten-Papier und die Hauptschule bleibe, "was sie immer war, die beliebteste Schulform Bayerns".
Ein ähnlicher Vorgang ereignete sich 2007 in Hessen. Auch da beauftragte das zuständige Ministerium, angesichts der wachsenden Problemen an Hauptschulen, Schulexperten, über Strukturveränderungen nachzudenken, was die hessische Kultusministerin seit PISA 2000 besonders energisch abgelehnt hat. In dem Gutachten wird ein Fusion von Haupt- und Realschule vorgeschlagen und ein integrierter Unterricht, sogar bis Ende von Klasse 7. Gymnasium und Integrierte Gesamtschule bleiben unangetastet. Als die Presse davon Wind bekam und mit der Schlagzeile herauskam "Hessen schafft die Hauptschule ab" (Frankfurter Rundschau, 2.3.07), gab es wie in Bayern eine, wenn auch nicht so harsche, Distanzierung von dem Experten-Gutachten.
Was bedeutet diese zweijährige Zweigliedrigkeit in fusionierten Haupt- und Realschulen für die betroffenen Kinder und Eltern und für eine andere Lernkultur, die stärker als bisher auf gemeinsames Lernen und individuelle Förderung setzt? Das Versprechen "längeres gemeinsames Lernen" der Mehrheit der Kinder bis Ende Klasse 6 wird schwer einzulösen sein; denn die Entscheidung, wer ab Klasse 7 dann doch Hauptschüler/in wird und wer den Mittleren Abschluss anstreben darf, bleibt eine so wichtige Entscheidung und muss für die dann zwölfjährigen Kinder und deren Eltern sorgfältig vorbereitet werden. Das wird den gemeinsamen Unterricht ebenso nachhaltig beeinflussen, wie das in der Grundschule spätestens im 3./4. Schuljahr immer schon der Fall ist. Das war schließlich auch das Problem der Förder- oder Orientierungsstufe, die mit ihren A-, B- und C-Kursen, in die man auf- und absteigen konnte, von Kindern, Eltern und Lehrer/innen oft eher als Auslesestufe empfunden wurde und die inzwischen ja auch ohne große Gegenwehr weitgehend von der Bildfläche verschwunden ist.
Weder die sechsjährige Grundschule, die ja weiterhin ihre zwölfjährigen Kinder Schulformen zuweisen muss, noch diese Zweitschule unter dem mit Klasse 5 beginnenden Gymnasium sind ein Weg aus dem alten ausleseorientierten System. Dabei besteht der Vorteil der um zwei Jahre verlängerten Grundschule (Berlin, Brandenburg) immerhin darin, dass das Einsortieren in hierarchisch gegliederte Schulformen nur einmal stattfindet, während die Kinder dieser fusionierten Haupt- und Realschule mit zehn Jahren erfahren, dass man ihnen das Gymnasium mit dem direkten Weg zum Abitur nicht zutraut und die mit zwölf, wenn es für sie schlecht läuft, ertragen müssen, dass sie auch für einen Mittleren Abschluss wohl nicht in Betracht kommen.
Das sehen natürlich diejenigen anders, die gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse immer noch glauben, man könne Kinder mit 10 oder 12 Jahren "begabungsgerecht" zwei oder drei unterschiedlich anspruchsvollen Schularten zuweisen, mit gravierenden Folgen für ihr weiteres Leben. Wer gemeinsames Lernen bis zum Ende der Pflichtschulzeit will, weil er dies für effektiver, aber auch für humaner und demokratischer hält, kann diese sich verstärkende Tendenz zu einer Drei- oder Viergliedrigkeit erst ab Klasse 7 für die Mehrheit der Kinder eher als versteckte Rettung der Hauptschule begreifen und nicht als Schritt zu mehr gemeinsamem Lernen. Wie aber können Schritte aussehen, die den Status quo unseres Schulsystems wirklich verändern?
Neue Strukturmodelle ohne Hauptschule
Im Folgenden werden vier Strukturmodelle dargestellt, die alle als Reaktion auf die PISA-Studien formuliert wurden, unter der besonderen Zielsetzung, der sozialen Auslese mit einer großen "Risikogruppe", die sich vor allem an Haupt- und Sonderschulen findet, entgegenzuwirken. Wie gehen diese Modellen, in denen es keine eigenständigen Hauptschulen mehr geben wird, mit dem Hauptschulabschluss um?
Der Schulkompromiss der Großen Koalition in Schleswig-Holstein
Im Schulkompromiss der Großen Koalition in Schleswig-Holstein vom 9.Februar 2007 wird die Hauptschule mit der Realschule zur Regionalschule zusammengelegt, mit einer gemeinsamen "Orientierungsstufe" in 5/6 und abschlussbezogenen Haupt- und Realschuleklassen von 7 bis 9/10. Der Grundschule bleibt die ihr integratives Konzept belastende Aufgabe, ihre Kinder am Ende von Klasse vier für die Regionalschule oder das Gymnasium zu empfehlen.
Was den Kompromiss zwischen CDU und SPD für Eltern und Schulträger vor allem attraktiv macht, ist die Gemeinschaftsschule, die für alle Kinder am Ende der Grundschule offen ist, die über Klasse 6 hinaus die Entscheidung über die weitere Schullaufbahn so lange wie möglich offen halten soll und die auch auf die Zuweisung zu abschlussbezogenen Kursen verzichten kann. Es wird also von der einzelnen Schule abhängen, ob sie in der Vorbereitung auf die Hauptschulprüfung die Schüler/innen vorsortiert oder ob sie die Prüfung als einen förderorientierten Leistungstest organisiert, an dem alle teilnehmen. Die ihn bestehen, haben einen Hauptschulabschluss und die Möglichkeit, entweder die Schule zu verlassen oder sich auf den Mittleren Abschluss vorzubereiten.
Das Gymnasium mit dem Abitur nach 12 Jahren behält weitgehend seine privilegierte Stellung. Ihm werden weiterhin die leistungsstärkeren Schüler/innen zugewiesen und es hat nach einer "Orientierungsstufe" am Ende von Klasse 6 die Möglichkeit, Schüler/innen in die anderen Schulformen abzuschieben. In der "Mittelstufe von 7-9" soll es dann allerdings ein "Aufsteigen ohne Versetzungsbeschluss" geben.
Die Überwindung der Hauptschule und des Hauptschulabschlusses findet so in Schleswig-Holstein tendenziell nur in der Gemeinschaftsschule statt, zu der sich die bestehenden Integrierten Gesamtschulen weiterentwickeln sollen. Aber auch andere Schulen oder Schulverbünde können Gemeinschaftsschulen werden, wenn Schulträger, Schulen und Eltern das wollen. So hat auf der Insel Fehmarn eine Gemeinschaftsschule bereits im Schuljahr 2007/08 ihren Betrieb aufgenommen, die aus einer Haupt- und Realschule und einem Gymnasium entstanden ist. (Merkelbach 2007 a,S.4 ff.)
Der Schulplan der CDU-Regierung in Hamburg
Die Hauptschule soll nach den Vorstellungen der alleinregierenden CDU in Hamburg nicht nur mit der Realschule, sondern auch mit den zahlreichen Integrierten Gesamtschulen zu einer Stadtteilschule fusionieren, die für alle Schüler/innen nach Klasse 9 den Ersten Bildungsabschluss und nach 10 den Mittleren Abschluss vergibt; die in der Sekundarstufe II nach 12 zur Fachhochschulreife und am Ende von Klasse 13 zum Abitur führt. D.h. die Hauptschulprüfung als Erster Bildungsabschluss nach Klasse 9 ist in der Stadtteilschule eher ein wichtiger Leistungstest für alle vor dem Mittleren Abschluss. Es gibt kein Einsortieren in abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen. Der Stadtteilschule bleibt allerdings auch in Hamburg die Sonderschule als "Entlastungsschule".
Die Grundschule führt zwar am Ende der Klasse 4 einen Leistungstest durch und berät die Eltern bei ihrer Entscheidung, welche Schule für ihr Kind in Betracht kommt. Dennoch bleibt den Eltern die freie Wahl zwischen Stadtteilschule und Gymnasium.
Das Gymnasium bleibt im Hamburger Plan die privilegierte Schulform, die auch ohne Empfehlungen der Grundschule die leistungsstärkeren Schüler/innen bekommen wird und, wie in Schleswig-Holstein, nach Klasse 6 noch einmal die Möglichkeit hat, "falsche" Schüler/innen loszuwerden. Danach ist aber auch das Gymnasium in Hamburg verpflichtet, nicht nur den Mittleren Abschluss zu vergeben, sondern alle Schüler/innen auf den Ersten Bildungsabschluss nach Klasse 9 vorzubereiten.
Was diesen für eine CDU-Regierung radikal erscheinenden Plan dennoch besonders problematisch macht, ist das Festhalten an einem statischen Begabungsbegriff. Mit der Realisierung des Plans wird für zehnjährige Kinder vorentschieden, ob sie nach einem "berufsorientierten" Curriculum der Stadtteilschule ihre Allgemeinbildung erfahren oder nach einem "wissenschaftsorientierten" am Gymnasium. Mit dem Verschwinden der zahlreichen Integrierten Gesamtschulen wird es keine Schulen mehr geben, in denen Berufs- und Wissenschaftsorientierung integrale Bestandteile des pädagogischen Programms sind. Während die Hauptschule in den letzten Jahren in den Abschlussklassen immer mehr zu einer nach hinten verlängerten Berufsschule wurde, soll es die Stadtteilschule bereits vom 5.Schuljahr an sein. (Merkelbach 2007 b; Schulstruktur in Hamburg 2007).
Damit wäre schulgeschichtlich wieder ein Zustand erreicht, der sich in Deutschland erst mit der Einführung der Realschule in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts änderte: Das Gymnasium als die "höhere Schule" neben der Volksschule. Ein Gymnasium jetzt allerdings, in das nicht 3 oder 4 Prozent eines Schülerjahrgangs gehen, sondern in dem 30 bis 40 Prozent, Tendenz steigend, die Eingangsklassen bevölkern und eine Volksschule, in der man zwar auf dem direkten Weg die Hochschulreife erlangen kann, die jedoch das Image der Zweitschule für die eher praktisch Bildbaren aus den unteren Sozialmilieus kaum wird vermeiden können. Wer in Hamburg etwas auf sich hält, wird wohl nicht freiwillig sein Kind auf diese neue Volksschule schicken.
Der Schulplan der SPD-Regierung von Rheinland-Pfalz
Die seit der letzten Landtagswahl alleinregierende SPD in Rheinland-Pfalz hat sich in der PISA-Debatte besonders hartnäckig gewehrt gegen eine Strukturveränderung im Schulsystem, die die alten Grabenkämpfe um die Gesamtschule wiederbeleben könnte. Nun hat die demografische Entwicklung und die schwindende Akzeptanz der Hauptschule auch diese Landesregierung gedrängt, über eine neue Schulstruktur nachzudenken. Im zweiten PISA-Ländervergleich (PISA 2003) hat Rheinland-Pfalz neben der Integrierten Gesamtschule, die wegen Geringfügigkeit in den Leistungstest nicht einbezogen wurde, bereits vier Schularten: das Gymnasium (25,8 %), die Realschule (22,2 %), die Hauptschule (22,9 %) und die Regionale Schule (12,8 %), ein Zusammenschluss von Haupt- und Realschule. Mit der Regionalen Schule, die über die Klassen 5/6 hinaus integriert unterrichten kann, und der Integrierten Gesamtschule hat das Land ein fünfgliedriges Schulsystem in der
Sekundarstufe I. Die Sonderschule ist die sechste Schulform.
Im neuen Schulplan soll nun die Hauptschule nicht in die Regionale Schule integriert werden, sondern in eine neue Schulart, die Kooperative Realschule, die, wie die Regionalschule in Schleswig-Holstein, nach einer "Orientierungsstufe" abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bilden wird (Neue Schulstruktur in Rheinland-Pfalz 2007). In einem von Yvonne Globert geführten Interview (Frankfurter Rundschau 2.11.07, S.15) gibt die zuständige Ministerin, Doris Ahnen, auf die Frage, warum nicht neben Gymnasium und Integrierter Gesamtschule die Regionale Schule zum Modell einer fusionierten Haupt- und Realschule werden soll, die eher ausweichende Antwort, diese neuen Kooperativen Realschulen könnten ja auch Regionale Schulen werden. Und zur Frage der Zweigliedrigkeit, auf die immer mehr Länder setzten, antwortet die Ministerin:
Wir haben uns natürlich sehr genau angeschaut, welche Modelle es bundesweit, aber auch international gibt. Sehr bewusst setzen wir nicht auf starre Zweigliedrigkeit. Die Option zur Umwandlung in eine Integrierte Gesamtschule, die in Rheinland-Pfalz von Schulträgern verstärkt nachgefragt wird, werden wir im Schulgesetz erleichtern.
Das ist für die Befürworter der Integrierten Gesamtschule endlich eine gute Nachricht, nachdem das so lange Jahre SPD-geführte Land nach einer auf KMK-Angaben erstellten Statistik von 2006 auf gerade einmal 4 Prozent Schüler/innen an Integrierten Gesamtschulen kommt (Erziehung & Wissenschaft/GEW, 11/07, S.28). Dass diese Schulform verstärkt nachgefragt wird, bestätigt eine andere, von der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule erstellte Statistik mit Zahlen von 2005, wonach 38 Prozent der Schüler/innen, die an Integrierten Gesamtschulen angemeldet wurden, dort keinen Platz fanden, darin nur noch übertroffen von Schleswig-Holstein mit 48 Prozent. (Leistungsstarke Gesamtschulen 2007, S.20)
Es bleibt in Rheinland-Pfalz, das im Bereich "frühkindliche Bildung" und "Ganztagsschule" eine Vorreiterrolle unter den Bundesländern spielt, beim Einsortieren am Ende der Grundschule in Gymnasium und in die beiden Formen einer fusionierten Haupt- und Realschule. Es bleibt in der neuen Kooperativen Realschule bei einer zweiten Auslese der dann 12-jährigen Kinder in abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen. Das Gymnasium behält seine privilegierte Position uneingeschränkt und kann weiterhin Schüler/innen mit Lernproblemen in untergeordnete Schulformen durchreichen. Unerörtert bleibt auch die Frage, ob es nicht an der Zeit ist für neue Anstrengungen, Kinder mit Behinderungen in die Regelschulen zu integrieren, statt sie verstärkt in Sonderschulen abzuschieben, was in wachsendem Maße Kinder aus Migrantenfamilien trifft.
Bleibt für alle, die in Rheinland-Pfalz für längeres gemeinsames Lernen und eine Schule für alle Kinder eintreten, sich für Integrierte Gesamtschulen zu engagieren und dabei das Versprechen der Ministerin, die Einrichtung weiterer Gesamtschulen im Schulgesetz zu erleichtern, beim Wort zu nehmen. Anders als in Hamburg und ähnlich wie in Schleswig-Holstein gibt es in Rheinland-Pfalz nicht den Versuch, zehnjährige Kinder in "berufsorientiert" und "wissenschaftsorientiert" bildbare zu trennen. Attraktive Gesamtschulen, die sich öffnen auch für Kinder mit Behinderungen, können in Rheinland-Pfalz die Idee einer inklusiven Schule am Leben halten, gegen die Tendenz von Zweigliedrigkeit in Klasse 5/6, die offensichtlich die Strukturdebatte beenden und das alte hierarchisch gegliederte System noch einmal über die Runden retten soll.
Eine "gemeinsame Sekundarstufe I" im Schulstrukturplan der hessischen SPD
Dass es Parteien neu beleben kann, wenn sie nach langer Regierung in die Opposition geraten, ist eine demokratische Binsenwahrheit, die sich in der hessischen SPD, besonders in der Bildungspolitik und da wiederum im Schulbereich zur Zeit bestätigt. Auch die hessische SPD geht in ihrem Programm "Haus der Bildung", mit dem sie in den anstehenden Wahlkampf zieht, davon aus, dass die eigenständige Hauptschule, trotz immer neuer Rettungsversuche der Landesregierung, die nächsten Jahre nicht überleben wird. Es bleiben dann eine verbundene Haupt- und Realschule, das Gymnasium und die Integrierte Gesamtschule, mit einem Schüler/innen-Anteil von 16,6 Prozent. Auch in Hessen wächst die Zahl der Kinder, die in der Gesamtschule keinen Platz finden.
Die hessische SPD geht nun angesichts einer sterbenden Hauptschule einen anderen Weg als der in den drei Bundesländern beschriebene. Formuliert wird in dem Plan das integrative pädagogische Konzept einer "gemeinsamen Sekundarstufe I", zu der sich jede Schule der Sekundarstufe I, ob Gymnasium, verbundene Haupt- und Realschule oder Integrierte Gesamtschule entwickeln kann. Sie ist geplant als Ganztagsschule in freiwilliger (offener) oder verpflichtender (gebundener) Form, worüber die Schulgemeinde jeweils entscheidet. Diese Schule verpflichtet sich "weitestgehend auf äußere Differenzierung zu verzichten" und auch Kinder mit Behinderungen zu integrieren. Sie wäre dann eine wirkliche Schule für alle Kinder, in der die Lehrkräfte unterstützt werden sollen durch "Schulassistenten" und "psychologisches, heilpädagogisches und sozialpädagogisches Fachpersonal". ("Haus der Bildung" 2007: 2.2: "Längeres gemeinsames Lernen")
Längeres gemeinsames Lernen findet nach dem Plan allerdings nicht nur an den Schulen mit "einer gemeinsamen Sekundarstufe I" statt. Auch die anderen Schulen übernehmen für die Kinder aus einer Grundschule, die keine Schulformempfehlungen mehr abgibt, die volle Verantwortung für einen möglichst qualifizierten Abschluss.
- Die Querversetzung, d.h. die Überweisung an eine andere Schule, wird aus dem Schulgesetz gestrichen.
- An die Stelle des Sitzenbleibens treten Fördermaßnahmen. Die Erziehungsberechtigten behalten aber das Recht, selbst über eine Klassenwiederholung oder einen Schulwechsel ihres Kindes zu entscheiden.
- Alle Schulen der Sekundarstufe I bereiten auf alle Abschlüsse vor.
Wenn alle Schulen, auch die Gymnasien, auf sämtliche Abschlüsse vorbereiten und alle, ohne die selektiven Instrumente der Nichtversetzung und des Abschulens, sich dabei auf gemeinsames Lernen und individuelle Förderung konzentrieren können, so hat das auch gravierende Folgen für die Funktion des Hauptschulabschlusses, solange er noch vergeben werden muss. Er wird für alle Schüler/innen der Sekundarstufe I auf der Basis von schulformübergreifenden Mindeststandards zu einer Prüfung am Ende von Klasse 9, mit der man zwar die Schule verlassen kann, die zugleich aber Auskunft gibt über Stärken und Schwächen, die für Lernende und Lehrende nützlich sind bei der Vorbereitung auf den Mittleren Schulabschluss, der längst die Mindestvoraussetzung darstellt für einen erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben.
Damit werden in dem Plan auch die Schulen, die sich nicht entschließen können, die Auflagen einer "gemeinsamen Sekundarstufe I" zu erfüllen, veranlasst, eine förderorientierte Lernkultur zu entwickeln. D.h. alle Schulen der Sekundarstufe I, so unterschiedlich die soziale Zusammensetzung ihrer Schülerschaft weiterhin sein wird und damit der Bedarf an personeller und materieller Ressourcenzuweisung, sind in diesem Plan formal gleichrangig und die Eltern haben am Ende der Grundschule die Wahl, eine Schule zu suchen, die ihnen für ihr Kind angemessen erscheint.
Ob die Schule mit dem anspruchsvollen pädagogischen Konzept (Ganztagsschule, Integration behinderter Kinder) eines Tages Gemeinschaftsschule heißen wird oder doch Gesamtschule, lässt der Plan der hessischen SPD offen. Es geht wesentlich um ein spezielles Angebot an alle Schulen, auch an die, die das Konzept einer "gemeinsamen Sekundarstufe I" nicht realisieren wollen. Es geht nicht zuletzt um einen qualifizierten Abschluss für möglichst alle Schüler/innen nach Klasse 10. Konsequent sieht der Plan darum auch vor, die Schulzeitverkürzung in der gymnasialen Sekundarstufe I aufzuheben und dafür die Oberstufe zeitlich flexibel zu gestalten.
Zweigliedrigkeit
Vielleicht doch "der zweitbeste Weg"
In einem Interview fragt Jeannette Goddar, nachdem auch Rheinland-Pfalz die Hauptschule abschaffen will, den Bildungsexperten Klaus Klemm, ob nicht das Schulsystem von morgen zwei- statt dreigliedrig sein werde (Frankfurter Rundschau, 6.11.07, S.12). Klemm sieht in der Tat die Bundesländer, die an der Hauptschule festhalten wollen, inzwischen in der Minderheit und geht zugleich davon aus, dass eine Zweigliedrigkeit das Gymnasium stabilisieren werde, weil die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule "eine Menge Druck aus der Debatte" nehme. Er kann sich nämlich nicht vorstellen, dass ein Bundesland, das heute "Regionalschulen" gründet, morgen sagt: "So, nun nehmen wir die Gymnasien dazu". Wer in einer Schulreform heute die Gymnasien anrühre, tangiere "in vielen Regionen 40 und mehr Prozent der Eltern" und die fänden in dem Gymnasium eine Schule vor, "in der ihre Kinder – wenn überhaupt – nur auf leistungsstarke Kinder mit Migrationshintergrund treffen". Die mangelnde Förderung von "Zuwandererkindern" lasse sich jedoch nicht dadurch beheben, "dass wir diese – gemeinsam mit schwächeren Schülern ohne Migrationsgeschichte – in den anspruchslosesten Teil des gegliederten Schulsystems abschieben".
Auf den Einwand der Interviewerin, ob dann die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule nicht doch die falsche Antwort sei, antwortet Klaus Klemms:
Da schlagen inzwischen zwei Herzen in mir. Einerseits bin ich immer noch fest überzeugt, dass wir eine Schule für alle brauchen – und nicht eine für viele und eine für das obere Drittel. Mit Bildungsgerechtigkeit hat das nichts zu tun. Andererseits ist alles besser als weitere Generationen perspektivloser Hauptschüler dem Festhalten an einer nicht durchsetzbaren Idee zu opfern. Zweigliedrigkeit ist vielleicht der zweitbeste Weg – wenn er aber hilft, diese Schülerinnen und Schüler aus einer Sackgasse herauszuführen, werden wir ihn beschreiten müssen.
Klaus Klemms Schluss aus der richtigen Analyse, dass ein zweigliedriges System, das die Hierarchie der Schulformen nicht beseitigt, sondern nachdrücklich stabilisiert, im Interesse der Hauptschüler/innen vielleicht doch "der zweibeste Weg" sein könnte, ist vor dem Hintergrund der dargestellten neuen Strukturmodelle schwer nachvollziehbar – aus zwei Gründen. Der erste soll noch einmal zusammenfassend genannt werden:
Eine fusionierte Haupt- und Realschule, deren Schülerschaft am Ende von Klasse 4 von den leistungsstärkeren Kindern separiert worden ist und die in einer "Orientierungsstufe" auslotet, wer ab Klasse 7 dann doch nur für den Hauptschulabschluss taugt, ändert ja nichts an der Tatsache, dass wir diese Schüler/innen weiterhin "in den anspruchslosesten Teil des gegliederten Schulsystems abschieben". Die angebliche Zweigliedrigkeit ist ab Klasse 7 wieder das alte dreigliedrige System, das durch die zweifache Auslese nach Klasse 4 und 6 sich noch intensiver als zuvor bemüht, "begabungsgerecht" auszusortieren. Warum sollen Länder, die noch an der Hauptschule ab Klasse 5 festhalten, nicht in absehbarer Zeit diese neue Variante des dreigliedrigen Systems einführen, zumal ja noch die vierte Schulform, die Sonderschule, als "Entlastungsschule" erhalten bleibt? Diese Form der Zweigliedrigkeit stabilisiert nicht nur das Gymnasium und die Hauptschule, sondern hält die Durchreiche vom Gymnasium bis in die Sonderschule aufrecht.
Nicht nachvollziehbar ist Klaus Klemms resignatives Sich-Abfinden mit diesem "zweitbesten Weg" noch aus einem anderen, nach vorne weisenden Grund. Seit PISA 2000 werden die Stimmen aus unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft lauter, die eine integrative Schule von 1 bis 9/10 fordern. Inzwischen gibt es in fast allen Bundesländern Elterninitiativen und Bündnisse, die sich für längeres gemeinsames Lernen engagieren, womit sie keineswegs die selektive "Orientierungsstufe" einer fusionierten Haupt- und Realschule meinen oder gar die "berufsorientierte" Hamburger Stadtteilschule.
"Schluss mit dem Streit!"
Exakt für diese "berufsorientierte" Schule des Hamburger CDU-Plans aus Haupt-, Real- und Gesamtschule votieren namhafte Wissenschaftler/innen und Politiker/innen aus den drei Parteien SPD, FDP und CDU in einem "Aufruf": "Schluss mit dem Streit!" (ZEIT, 22.11.07, S.89). Keine Skrupel mehr, die Klaus Klemm noch umtreiben, wenn er sich erst einmal von seiner festen Überzeugung glaubt verabschieden zu müssen, "dass wir eine Schule für alle brauchen und nicht eine für viele und eine für das obere Drittel", weil das mit "Bildungsgerechtigkeit" nicht zu tun habe. Nichts mehr in dem "Aufruf" von einem "zweitbesten Weg", der ja die Frage nach einem "erstbesten" wach hält.
Die neue Schule neben dem Gymnasium ist nach Auffassung der Unterzeichner/innen notwendig, weil das alte System nach allen vorliegenden Studien "die Grundprinzipien der Bildungsgerechtigkeit" verletze, "da es zu sozialer und ethnischer Abgrenzung" führe, "problematische Lernmilieus" schaffe und "schwierige Ausbildungs- und Berufschancen zur Folge" habe. Das sei vor allem an Hauptschulen zu beobachten. (Von expandierenden Sonderschulen ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede.) Ziel der neuen Schule soll es sein, "möglichst alle Schülerinnen und Schüler zu einem ersten Bildungsabschluss" zu führen, d.h. zum Hauptschulabschluss, und "möglichst viele zu einem mittleren Abschluss oder zur Hochschulreife". Dazu brauche "die neue Schulform eine eigene Oberstufe, die sich aus der engen Kooperation mit Fachoberschulen, Fachgymnasien, Berufskollegs und weiteren Einrichtungen neben der gymnasialen Oberstufe bilden" lassen.
Es ist exakt der Hamburger CDU-Plan, für den hier geworben wird und es ist im Kern das Zwei-Wege-Modell Klaus Hurrelmanns, das dem Hamburger Plan zugrund liegt (Merkelbach 2007 b. S.1 ff.). Nicht überraschend darum, dass Hurrelmann den "Aufruf" mitunterzeichnet hat. (Überraschend allerdings, dass in der Liste der Unterzeichner auch der ehemalige hessische SPD-Kultusminister Ludwig von Friedeburg und Eva Rühmkorf, ehemalige SPD-Kultusministerin von Schleswig-Holstein, stehen.)
Eine Abweichung vom CDU-Plan leistet sich der "Aufruf" allerdings, die wohl doch der Heterogenität der Unterzeichner/innen geschuldet ist. Während bei Hurrelmann neben dem Gymnasium als "einer wissenschafts- und fächerstrukturierten Lernschule" die übrigen Schulen "zu einer neuartigen berufs- und lebenspraxisorientierten Schulform" vereint werden sollen, "als pädagogischer Unterbau des dualen Ausbildungssystems und des Berufsschulsektors" (www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag4/ ) und der Hamburger Plan mit einem "berufsorientierten" Curriculum von Klasse 5 bis 13 dem entspricht, heißt es in dem "Aufruf": "Die neue Schulform soll die Chance haben, ein wissenschaftsorientiertes, an der Lebenswirklichkeit und der Berufswelt orientiertes Bildungskonzept zu entwickeln".
Wo liegt nach einer solchen Formulierung noch die Differenz zum ebenfalls "wissenschaftsorientierten" Gymnasium? Sie liegt in der Vorstellung der Unterzeichner/innen in "einem innovativen pädagogischen Profil" und der dafür notwendigen Ausstattung der neuen Schule; denn eine "nur mechanische Zusammenlegung von Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen" sei "wenig effektiv". Es geht um "fächerübergreifende und interdisziplinäre Projektarbeit", um die Zuweisung von "sozialpädagogischen und psychologischen Fachkräften", um ein "Nachmittagsangebot unter Mitwirkung vieler Träger, Kontakte zur lokalen Wirtschaft", um "Zusammenarbeit mit Jugendhilfe, Kultur- und Sporteinrichtungen" und mit "der Erziehungs- und Sozialberatung". "Ein herausragendes Merkmal der neuen Schule soll es sein, jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin durch individuelle Förderprogramme und gezielte Anregungen auf einen optimalen Leistungsstand zu bringen."
Ist dieses "innovative pädagogische Profil", das da skizziert wird, und ist die Ausstattung der neuen Schule nicht neiderregend für jedes normale Massengymnasium? Muss man nicht jedes Kind bedauern, das in Zukunft, wenn die Blütenträume der Unterzeichner/innen des "Aufrufs" reifen, von der Grundschule und seinen Eltern nicht auf die neue Schule, sondern aufs Gymnasium geschickt wird? Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Gymnasium, das wie ein stummer, aber mächtiger Gast in diesem "Aufruf" anwesend ist, und mit ihm seine gesellschaftliche Interessenvertretung mit dieser Planskizze einer neuen "berufsorientierten" Schule einverstanden sein wird.
Es ist aber auch davon auszugehen, dass diejenigen, die für eine Schule für alle Kinder eintreten, - und die sind in den letzten Jahren nicht weniger geworden -, dem "Aufruf" "Schluss mit dem Streit!" nicht werden folgen können. Zu offensichtlich ist, wer von dieser hierarchisch gegliederten Allgemeinbildung profitieren und wer dabei den Kürzeren ziehen wird. Von einem fairen Wettbewerb der allgemeinbildenden Schulen kann da wohl keine Rede mehr sein.
"Ein sinnvoller Zwischenschritt auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen gestuften Schulsystem?"
Ähnlich wie Klaus Klemm stellt ein anderer Erziehungswissenschaftler, Hans-Georg Herrlitz, die Frage, ob die zweigliedrige Sekundarstufe I nicht vielleicht doch "ein sinnvoller Zwischenschritt" sein könnte "auf dem Wege zu einem zukunftsfähigen gestuften Schulsystem". In einem Beitrag "Die Gliederung des Schulsystems – ein ungelöstes Dauerproblem der deutschen Schulgeschichte" verweist Herrlitz darauf, dass die üblich gewordene Warnung vor den Grabenkämpfen der 1970er Jahre unterstelle, "der damalige Streit um die Einführung von Gesamtschulen" sei "in erster Linie eine parteipolitische Machtprobe gewesen", "die ‚der Sache’ nur geschadet habe und daher in Zukunft unbedingt vermieden werden müsse".
In Wahrheit zeigt ein tieferer Blick in die deutsche Schulgeschichte, dass seit den Anfängen einer staatlichen Schulpolitik im 18.Jahrhundert immer schon heftig umstritten gewesen ist, noch welchen Prinzipien das künftige öffentliche Schulwesen organisiert werden solle: Horizontale oder vertikale Gliederung? Realisierung eines Stufen- oder Säulenmodells? Dies ist der harte Kern der Schulstrukturdebatte, die seit 200 Jahren die deutsche Schulgeschichte prägt und mit sachlicher Notwendigkeit zu immer neuen "Grabenkämpfen" führt. (Herrlitz 2007)
Es habe kräftige Grabenkämpfe gegeben im deutschen Vormärz, als es darum ging, die Schulpläne Wilhelm von Humboldts zu kassieren, in denen es gegen das "Prinzip der berufsständischen Bildungsbegrenzung" in getrennten Bauern- , Bürger- und Gelehrten- Schulen um eine "Allgemeine Menschenbildung" für alle ging. Herrlitz zitiert aus dem "Entwurf eines Allgemeinen Schulverfassungs-Gesetzes von 1819", in dem nur die Schulen als "öffentliche" und "allgemeine" anerkannt werden sollen, "welche die allgemeine Bildung des Menschen an sich und nicht seine unmittelbare Vorbereitung zu besonderen einzelnen Berufsarten bezwecken" und deren Aufgabe es ist, "die Erziehung der Jugend für ihre bürgerliche Bestimmung auf ihre möglichste allgemein-menschliche Ausbildung zu gründen".
Grabenkämpfe habe es dann auch gegeben in den schulpolitischen Auseinandersetzungen der bürgerlichen Revolution von 1848 und der Weimarer Republik. Für die aktuelle Debatte besonders folgenreich ist für Hans-Georg Herrlitz der "Strukturplan für das Bildungswesen", den der "Deutsche Bildungsrat" 1970 veröffentlichte, dessen Kernaussage zur Schulstruktur der Historiker Karl Dietrich Erdmann, Vorsitzender des Gremiums und Mitglied der CDU, in seiner Einleitung des Plans so zusammenfasst:
Kein Platz ist mehr für das unverbundene Nebeneinander von Schulen, die sich – volkstümlich für die einen, wissenschaftlich für die anderen – von verschiedenen Bildungsideen her legitimieren.
Erdmann ging fest davon aus, "dass die Empfehlungen zur Struktur des Bildungswesens mit weitgehender Zustimmung rechnen können bei Parteien, Verbänden, Parlamenten und Regierungen" und für Herrlitz wären "die Einsichten und Empfehlungen" des Plans auch "eine solide Grundlage für eine Schulreform" gewesen, "die den Reformanstrengungen der europäischen Nachbarstaaten, die heute als Sieger der PISA-Konkurrenz gelten, ebenbürtig gewesen wären". Dass der Konsens der verschiedenen bildungspolitischen Lager, von dem Karl Dietrich Erdmann ausging, zerbrach und der "Deutsche Bildungsrat" 1975 sein Ende fand, führt Herrlitz auf die Bundestagswahl 1969 und den Beginn der sozial-liberalen Regierung zurück, was "die Kompromissbereitschaft der konservativen Seite mehr und mehr in eine Fundamentalopposition" verwandelt habe.
Vor diesem Hintergrund immer neuer Grabenkämpfe kann Herrlitz in dem Zwei-Wege-Modell keinen "sinnvollen Zwischenschritt" sehen "auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen gestuften Schulsystem"; denn die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule ändere "kaum etwas an dem Grundübel des gegliederten Schulwesens, dass in einem viel zu frühen Lernentwicklungsalter eine Schullaufbahnentscheidung gefällt werden muss, die zwar keine endgültige, aber doch eine vorentscheidende Bedeutung mit erheblichen Folgewirkungen" habe. Herrlitz kann darum auch nicht sehen, "was die um sich greifende Installation von ‚Zwei-Wege-Modellen’" an dem "skandalösen Zustand" der sozialen Auslese "prinzipiell ändern könnte". Und ein weiterer Einwand:
In begabungs- und bildungstheoretischer Hinsicht gehen alle mir bekannten "Zwei-Wege"-Optionen von der Vorstellung aus, dass es ein pädagogischer Fortschritt sei, die Sekundarstufe I in eine "berufs- und praxisorientierte" Schulform einerseits und eine "wissenschafts- und fächerstrukturierte" Schulform, nämlich das Gymnasium anderseits, aufzuteilen. Hier wiederholt sich das altbekannte, fatale Schisma "allgemeiner" versus "beruflicher" Schulbildung mit all seinen Konnotationen gymnasialer Privilegierung, während doch die erfolgreiche Praxis zahlreicher Reformschulen längst gezeigt hat, dass Wissenschafts- und Berufsorientierung zwei Seiten einer Medaille und integrale Bestandteile einer "Allgemeinbildung" sind, die diesen Namen wirklich verdient.
Aus diesen Gründen kann für Herrlitz "eine zukunftsfähige Strukturreform unseres Schulwesens nur gelingen, wenn das Gymnasium mit seinen Verkrustungen und Vorzügen von vorneherein in den pädagogischen Erneuerungsprozess einbezogen wird". Das werde "nach Lage der politischen Dinge" nicht ohne neue ‚Grabenkämpfe’ möglich sein". Wie diese "konstruktiv und konsensorientiert eingeleitet werden können", lasse sich neuerdings "an dem Reformkompromiss in Schleswig-Holstein überzeugend studieren". (Herrlitz 2007)
Zum Thema "neue Grabenkämpfe" berichtet der SPD-Abgeordnete im Kieler Landtag, Henning Höppner, dass beide Koalitionspartner, CDU und SPD, sich darauf verständigt haben, das Schulgesetz mit seiner neuen Schulstruktur, unabhängig vom Ausgang der nächsten Landtagswahl im Mai 2010, nicht zu ändern. "Gegenüber Eltern, Schülern und Lehrerkollegien wäre eine erneute Veränderung unvertretbar." Bildung werde also, hofft Höppner, "in den kommenden Wahlkämpfen eine große Rolle mehr spielen" in Schleswig-Holstein. (Höppner 2007, S.78)
Worauf es jetzt ankommt
Es gibt in den vier Bundesländern mit den neuen Schulstrukturmodellen seit Jahrzehnten auch Integrierte Gesamtschulen. In Schleswig-Holstein sollen sie sich unter der neuen Bezeichnung "Gemeinschaftsschule" weiterentwickeln. In Rheinland-Pfalz will die zuständige Ministerin die starke Nachfrage nach zusätzlichen Gesamtschulplätzen dadurch befriedigen, dass endlich Neugründungen im Schulgesetz erleichtert werden sollen. In Hessen hält nicht nur die oppositionelle SPD mit ihrem Konzept "einer gemeinsamen Sekundarstufe I" an einer Schule für alle Kinder fest, auch das oben zitierte CDU-Gutachten von Schulexperten stellt die Existenz von Integrierten Gesamtschulen nicht in Frage. Wenn die Hamburger CDU als einzige Partei versucht, mit der Stadtteilschule nicht nur die Hauptschulen, sondern auch die zahlreichen Gesamtschulen aufzulösen und damit eine strikte Zweigliedrigkeit herzustellen, so stößt sie damit bei SPD und Grünen auf Widerstand und sie muss mit einer "Volksinitiative": "Hamburg braucht eine Schule für alle" rechnen, einem Bündnis aus Schüler/innen, Lehrer/innen, Gewerkschaften und Parteien, das ein Volksbegehren und zur Europawahl 2009 einen Volksentscheid über die künftige Schulform in Hamburg anstrebt.
Der Weg zu einer guten Schule für alle Kinder in der Sekundarstufe I, unter Einschluss des Gymnasiums und der Sonderschule, mag noch weit sein. Worauf es jetzt, in einer entscheidenden Phase des Strukturwandels, jedoch ankommt, ist zum einen, die Schulen, die bereits auf diesem Weg sind, ob Integrierte Gesamtschulen oder neugegründete Gemeinschaftsschulen, zu erhalten und zu stärken, zugleich aber auch durch entsprechende Rahmenbedingungen alle übrigen Schulen auf dem Weg zu einer anderen Lernkultur zu ermutigen und angemessen zu unterstützen.
Mit der nominellen Abschaffung der Hauptschule jedenfalls ist es nicht getan, wenn mit ihr nicht auch die diskriminierende Auslese nach Klasse 4 und Klasse 6 ein Ende findet. Erst wenn mit dem Ende der Hauptschule auch der in der Berufswelt kaum noch nachgefragte Hauptschulabschluss nicht mehr angeboten wird, werden die Schulen der Sekundarstufe I formal gleichrangig sein, unabhängig von ihren traditionellen Bezeichnungen und von ihrer sozialen Zusammensetzung, die in der Ressourcenzuteilung angemessene Berücksichtigung finden muss. Alle Schulen der Sekundarstufe I bereiten dann ihre Schüler/innen auf einen Mittleren Schulabschluss vor, der, auch nach gründlicher interner und externer Beratung, Jugendlichen die freie Wahl lässt zum Besuch einer beruflichen Schule oder der gymnasialen Oberstufe.
Ob diese gleichrangigen Schulen der Sekundarstufe I auch Kinder mit Behinderungen integrieren, wie in den skandinavischen Ländern und in zahlreichen deutschen Reformschulen der Primar- und Sekundarstufe, oder ob diese Kinder weiterhin in Sonderschulen überwiesen werden, ist vom innovativen Potenzial einer Schule abhängig und muss wohl einem längerfristigen Reformprozess überlassen werden. Erst wenn die Integration dieser Kinder den Ruf einer Schule positiv prägt, wird mit der Hauptschule auch die Sonderschule ihre Funktion als "Entlastungsschule" am Ende der Abwärtsspirale verlieren. Eine solche Entwicklung wäre ganz im Sinne der KMK-Empfehlung von 1994, wonach die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht an Sonderschulen gebunden, sondern als gemeinsame Aufgabe aller Schulen anzustreben sei. Diese Empfehlung, stellt der Bildungsforscher Horst Weishaupt fest, werde bisher jedoch kaum verwirklicht. Statt dessen seien die "Sonderschulbesuchsquoten" eher angestiegen, was überproportional Kinder aus Migrantenfamilien trifft. (Weishaupt 2007, S.34)
Eine inklusive Schule muss die längerfristige Zielvorgabe für alle Schulen der Sekundarstufe I sein, ob Regionalschule, Integrierte Gesamtschule, Gemeinschaftsschule oder Gymnasium; denn ihre gemeinsame Aufgabe ist uneingeschränkt – in der Formulierung Humboldts, "die Erziehung der Jugend für ihre bürgerliche Bestimmung auf ihre möglichste allgemein-menschliche Ausbildung zu gründen". Mit der Hauptschule auch den Hauptschulabschluss abzuschaffen und alle Energie darauf verwenden zu können, dass möglichst alle Schüler/innen die Mindeststandards eines Mittleren Abschlusses schaffen, verbessert zweifellos die Chancen für einen erfolgreichen Einstieg in den Beruf und bedient damit auch das Interesse der Wirtschaft an besseren Grundqualifikationen. Das ist ja wohl auch ein wichtiges Motiv von Eltern, ihre Kinder freiwillig nicht mehr an Hauptschulen anzumelden.
Sosehr dieses Denken von den Abschlüssen her seine Berechtigung hat und ernst genommen werden muss, - die Schule der Sekundarstufe I ist noch ausschließlich zuständig für die "allgemeine Bildung des Menschen" und nicht "für seine unmittelbare Vorbereitung zu besonderen einzelnen Berufsarten". Dieser Zweck allein begründet die Forderung, Schulen der Sekundarstufe I endlich von jeder Art von Vorsortierung und Auslese für einen bestimmten Abschluss zu entlasten und ihnen so den Raum dafür zu schaffen, allen Heranwachsenden in ihrem Bemühen um ein hohes Niveau "Allgemeiner Menschenbildung" behilflich zu sein. Eine solche Bildung kann weder für die beruflichen Ziele eines Menschen, noch für die vielbeschworene Wettbewerbsfähigkeit unserer nationalen Volkwirtschaft, geschweige denn für Bestand und Entwicklung einer demokratischen Kultur von Nachteil sein.
Literatur
"Haus der Bildung. Chancen eröffnen – Perspektiven geben". SPD Hessen. www.wissenwollen.de. 2007.
Herrlitz, Hans-Georg: Die Gliederung des Schulsystems – ein ungelöstes Dauerproblem der deutschen Schulgeschichte. Unveröffentlichtes Manuskript, erscheint 2008 in der Zeitschrift "Lernende Schule".
Höppner, Henning: Längeres gemeinsames Lernen in Schleswig-Holstein. In: Länger gemeinsam Lernen! Fortschritte und Konzepte in der Schulpolitik aus sieben Bundesländern. Dokumentation einer Tagung des Landesbüros Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung am 8. und 9.Juni 2007, S.74-81. www.forum-kritische-paedagogik.de.November 2007.
Leistungsstarke Gesamtschulen. Gesamtschulen im Spiegel empirischer Schulleistungsvergleiche. Hrsg.: Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule: Die Blaue Reihe, H.57, 2007.
Merkelbach, Valentin: Neue Strukturmodelle in den Ländern und die Chancen für eine andere Lernkultur. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ 2007 a.
Merkelbach, Valentin: Das Recht auf Bildung in einem zweigliedrigen Schulsystem. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ 2007 b.
Merkelbach, Valentin: Hat die deutsche Gesamtschule eine Zukunft? http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ .2007 c.
Neue Schulstruktur in Rheinland-Pfalz. http://bildungsklick.de. 30.10.2007.
Schulstruktur in Hamburg: GEW Hamburg. www.forum-kritische-paedagogik.de, November 2007.
Weishaupt, Horst: Probleme des dreigliedrigen Schulsystems aus der Sicht der Bildungsforschung. In: Länger gemeinsam lernen! Fortschritte und Konzepte in der Schulpolitik aus sieben Bundesländern, Dokumentation einer Tagung des Landesbüros Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung am 8. und 9.Juni 2007, S.6-38. www.forum-kritische-paedagogik.de. November 2007.