Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Wie kommen wir zu einer guten Schule für alle?

Ein Vorschlag zum Verfahren

Juni 2005

Die deutsche Gesamtschule – ein Strukturkompromiss zwischen Sozialdemokraten und Konservativen

In allen internationalen Vergleichsstudien seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wird dem gegliederten deutschen Schulsystem Leistungsschwäche und Ineffektivität bescheinigt, ohne dass der zwischen Konservativen und Sozialdemokraten mühsam ausgehandelte Kompromiss bislang in Frage gestellt wurde: Das gegliedert Schulsystem der Klassen 5 bis 10 bleibt erhalten und Gesamtschulen gibt es über bereits bestehende hinaus nur dort, wo Eltern in genügend großer Zahl mit der Schulwahl für ihre Kinder am Ende der Grundschule dies wollen und auch nur solange sie eine solche Schule wollen.

Von den vor allem in sozialdemokratisch regierten Bundesländern bestehenden Gesamtschulen, kooperativen und integrierten, ist in den letzten drei Jahrzehnten auch die eine oder andere auf Wunsch der Eltern wieder aufgelöst und in das dreigliedrige System zurückverwandelt worden. Es wurden aber auch weitere, vor allem integrierte, Gesamtschulen neu gegründet, wo die Nachfrage wuchs und der Schulträger bereit war, dem Elternwillen zu entsprechen. Dies Letztere scheint, insbesondere in großen Städten, die aktuelle Tendenz zu sein, und das aus unterschiedlichen Motiven. Da sind einmal die überzeugten Gesamtschul-Eltern, deren Kinder von der Grundschule eine eindeutige Empfehlung für Gymnasium oder Realschule bekommen, aber davon aber keinen Gebrauch machen wollen. Dazu kommen Eltern ohne eine eindeutig Empfehlung für einen der begehrten Bildungsgänge, die auf eine Schule setzen, die von ihrem pädagogischen Konzept her verspricht, die Abschulung zu vermeiden, die Jahrgangswiederholung nur im Einvernehmen mit den Betroffenen vorzunehmen und alle Abschlüsse bis zum Ende der Schulpflicht wirklich offen zu halten.

Schließlich gibt es eine wachsende Zahl von Eltern, insbesondere in den Städten, die die Hauptschule vermeiden wollen, weil sie um die enormen Probleme dieser Schulform wissen und auch in der Gesamtschule die besser Lernperspektive für ihr Kind sehen. Eine besondere Form von Zynismus ist es dann, wenn auf kommunaler Ebene von konservativer Seite dieser Elternwunsch als illegitim zurückgewiesen wird mit der Begründung, diese Eltern wünschten ja gar nicht die Integrierte Gesamtschule, sondern wollten „nur“ die ihrem Kind zukommende Haupt- oder Sonderschule vermeiden.

Sozialdemokraten nach PISA

Das war die schulpolitische Situation vor PISA und hat nach der Veröffentlichung der Studie und nach den ersten Reflexen aller Parteien gegen eine neue Strukturdebatte doch bald dazu geführt, dass die Tabuisierung des Themas nicht mehr aufrecht zu halten war, zumal neue Akteure aus der Wirtschaft und der organisierten Elternschaft sich bessere deutsche Schulen ohne Reform des Systems zunehmend weniger vorstellen können (V.Merkelbach: Neue Akteure im alten Streit um ein anderes Schulsystem in Deutschland. (http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ 2003)

Inzwischen regt sich auch unter den allzu lange von den Konservativen eingeschüchterten Sozialdemokraten der Wunsch, mit den Ergebnissen von PISA im Rücken an die über hundertjährigen Bemühungen ihrer Partei um eine gute Schule für alle wieder anzuknüpfen, - über die 1920 beschlossene Grundschule für alle hinaus, die ja nur ein mit den Konservativen ausgehandelter Kompromiss war für die von der SPD damals geforderte gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht.

Der erste Landesverband der SPD, der sich nach PISA traute, wieder ein Konzept für eine Schule für alle zu entwickeln und damit in den Wahlkampf zu gehen, Schleswig-Holstein, hat wohl die Wahl nicht durch dieses bildungspolitische Thema verloren, zumal der Übergang vom gegliederten in ein integriertes System nach skandinavischem Vorbild nicht abrupt, sondern in einem Zeitraum von mindestens zehn Jahren erfolgen sollte und das pädagogische Argument gut unterfüttert wurde durch ein wirtschaftliches. Ähnlich wie in Finnland sollten durch eine solche Entwicklung bei rückläufigen Schülerzahlen Schulschließungen, insbesondere im ländlichen Raum, in größerem Umfang vermieden und ein Bildunsangebot wohnortnah und besser finanzierbar gesichert werden.

Dass die schleswig-holsteinische SPD sich für dieses neue Konzept von der Bezeichnung „Gesamtschule“ verabschiedet hat und von „Gemeinschaftsschule“ spricht, hat mit der schmerzlichen Erfahrung zu tun, dass die deutsche Gesamtschule, von zahlreichen Ausnahmen abgesehen, in der erbitterten Konkurrenz zu Gymnasium und Realschule nie eine wirkliche „Gesamtschule“ war, in der sich der repräsentative Leistungsquerschnitt eines Schülerjahrgangs versammelte. „Gesamtschule“ wurde zum Kampfbegriff auf beiden Seiten der Barrikade und ist als solcher wohl auf absehbare Zeit als Bezeichnung für ein integriertes System in der Fläche verbraucht.

Schon bevor die SPD in Schleswig-Holstein ihr neues Schulkonzept der Koalition mit der CDU hat weitgehend opfern müssen, gab es ähnliche Überlegungen in Hessen, NRW und Mecklenburg-Vorpommern, am Weitesten gediehen in Hessen, wo man mit einem Parteitagsbeschluss „eine gemeinsame Schule für alle“ nach finnischem Vorbild plant und bei der nächsten Wahl damit antreten will.

Der Wahlkampf in Schleswig-Holstein und die Auseinandersetzung um die Bildung einer neuen Regierung haben gezeigt, dass es auf der Ebene der Parteien immer noch zwei bildungspolitische Lager gibt, denen es schwer fällt, sich auf substanzielle, d.h. inhaltliche und strukturelle, Reformen zu einigen. Sozialdemokraten werden dem Widerstand der Konservativen nur begegnen können, wenn es gelingt, auch für Teile der Mittelschicht eine Schule populär zu machen, die mit gemeinsamem Lernen und individueller Förderung sowohl der Leistungsschwachen als auch der Leistungsstarken gerade keine „Einheitsschule“ werden soll, die im Gleichschritt marschiert und diejenigen aussondert, die nicht Schritt halten können. Diese Schule soll vielmehr alle Ressourcen an Zeit und Energie, die im jetzigen System noch für das Aussondern gebraucht werden, dann für den Aufbau einer stabilen Lern- und Leistungsbereitschaft verwenden - nach dem Vermögen jedes Einzelnen. Es gilt mit den Erfahrungen anderer Länder, aber auch der erfolgreichen Reformschulen bei uns, die ja auf dem Weg zu einer guten Schule für alle schon weit fortgeschritten sind, das Argument zu stärken, dass nur eine solche inhaltliche und strukturelle Reform unser im internationalen Vergleich so leistungsschwaches System aus der Dauerkrise führen wird.

Es geht in dieser Auseinandersetzung zentral um die Frage, wie man Eltern, die vom gegliederten und auslesenden System insoweit profitieren, als sie – mit oder ohne Nachhilfe – hohe Abschlüsse für ihre Kinder erreichen, die Angst nehmen kann, dass eine gute Schule für alle vielleicht keine gute Schule für ihre Kinder sein könnte. Unstrittig ist immerhin, dass unsere Gesellschaft im Vergleich mit anderen Industrienationen dringend eine höhere Quote von qualifizierten Abschlüssen an Schule und Hochschule braucht. Zum andern soll eine gute Schule für alle die kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsniveaus, die sich bereits in der Vorschulzeit hergestellt haben, ja gerade nicht im nach wie vor dominanten Frontalunterricht nivellieren, sondern individuell fördern, und zwar in der Arbeit in der Gruppe und in der Einzelarbeit. D.h. die gute Schule für alle ist in ihrem Anspruch gut für die hohe „Risikogruppe“ in unserem System, aber auch gut für die Leistungsstarken, die, wie PISA gezeigt hat, z.Zt. gar nicht adäquat gefördert werden, so dass wir auch in der Leistungsspitze im internationalen Vergleich nicht zu glänzen vermögen.

Der Anspruch dieser Schule für alle muss sein, bei den Leistungsstarken in ihrer Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Leistungsschwächeren neben ihrer intellektuellen Kompetenz, die sich bei jeder Art von Lernhilfe für andere entwickelt, auch ihre soziale Kompetenz zu fördern. In einer guten Schule für alle geht es auch um Elite, nicht aber um elitäres Bewusstsein, das dort leicht entsteht, wo Leistungsstarke separiert werden, ob in der öffentlichen Schule, in Privatschulen oder in erklärten Hochbegabteneinrichtungen. Von einer Elite mit sozialen Defiziten hat unsere Gesellschaft wahrlich genug, nicht nur im Bereich der Wirtschaft, wo dies in jüngster Zeit besonders augenfällig geworden ist.

Eckpunkte für den Übergang vom gegliederten in ein integriertes System

Sozialdemokraten müssen, wie das die schleswig-holsteinische SPD mit großer Umsicht getan hat, vor einer Landtagswahl einer interessierten Öffentlichkeit, besonders den Eltern bald schulpflichtiger oder gerade schulpflichtig gewordener Kinder, erklären, wie der Einstieg ins neue System aussehen soll und was sich konkret ändern wird.

Von der Vorschule zur Grundschule

Der skandinavische Slogan „Auf den Anfang kommt es an“ hat nach dem Erfolg dieser Länder in der PISA-Studie bei uns auch die Diskussion über vorschulische Bildungseinrichtungen angeregt. Die Defizite in diesem Bereich werden erhebliche Investitionen erforderlich machen, für die im Augenblick kaum Mittel verfügbar sind. Unter sozialdemokratischen Bildungspolitikern gibt es immerhin den Plan für ein verpflichtendes und gebührenfreies Vorschuljahr, für das sich auch die Konservativen zu erwärmen scheinen. Auch das Konzept einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsstufe, wonach Kinder unterschiedlich lange Zeit haben, ehe sie die dritte Grundschulklasse besuchen, scheint Eltern und einer dafür interessierten Öffentlichkeit gut vermittelbar zu sein.

Längerfristig muss es auch bei uns wie in den skandinavischen Ländern ein attraktives, gebührenfreies Angebot von vorschulischen Ganztagseinrichtungen geben, die sich durch eine Höherqualifizierung der Erzieherinnen immer mehr von Betreuungs- zu Bildungseinrichtungen entwickeln und als solche die große Differenz in der kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklung unserer Kinder bis zum Schuleintritt vermindern werden.

Von der Grundschule zur Sekundarstufe I

Die Grundschule gibt Eltern für die Anmeldung ihres Kindes an einer Schule der Sekundarstufe I keine Empfehlung mehr, sondern erstellt ein Zeugnis, das, möglichst ohne Ziffernnoten, für die aufnehmende Schule ein Leistungsprofil des Kindes beschreibt, das vor allem auf die Stärken, die besonders entwickelten Kompetenzen, des Kindes hinweist.

Wie bisher veranstalten Grundschulen für Eltern von Viertklässlern Informationsabende, in denen die benachbarten Schulen der Sekundarstufe I ihr pädagogisches Konzept präsentieren. Diese Veranstaltungen werden im neuen Schulmodell einen anderen Charakter haben, vor allem dort, wo angesehene Schulen miteinander um Schüler/innen konkurrieren und man sich nicht mehr allein auf den guten Ruf der Schule, was immer ein solcher Ruf pädagogisch bedeutet, verlassen kann. Mit dem Zeugnis können Eltern ihr Kind an jeder Schule der Sekundarstufe I anmelden.

Alle Schulen der Sekundarstufe I, die für eine Mindestgröße noch genügend Schüler/innen haben, bleiben bestehen und sind im neuen System gleichrangig. Sie alle haben den Auftrag, ihren Schüler/innen, die sie von der Grundschule übernehmen, eine Grundbildung zu vermitteln und sie zum Mittleren Schulabschluss zu führen. Jahrgangswiederholung geht nur noch mit Einwilligung der Betroffenen; z.B. nach längerer Krankheit. Ein Schulwechsel braucht neben der Zustimmung der Betroffenen auch das Einverständnis der aufnehmenden Schule. D.h. es gibt an den Schulen der Sekundarstufe I keine „richtigen“ und „falschen“ Schüler/innen mehr, sondern nur noch Kollegien, die mit der Heterogenität ihrer Lerngruppen erfolgreich oder weniger erfolgreich umgehen. Das wird im neuen System das Ansehen einer Schule bestimmen.

Wenn die Schulen der Sekundarstufe I neben ihrem individuellen Namen (Gutenbergschule) sich mit der üblichen Stufenbezeichnung „Sekundarstufe I“ zufrieden geben könnten, wäre das eine Lösung, die den unvermeidlichen Streit über andere, historisch meist belastete Stufenbezeichnungen für eine gemeinsame Mittelstufe vermeiden könnte.

In einer gemeinsamen Sekundarstufe I für alle wird das Gymnasium nur noch auf der Sekundarstufe II seinen Namen behalten. Darum scheint es wichtig, über die Stufung in den Klassen 5 bis 12 nachzudenken. Diese Schulform besitzt, besonders mit der für das Abitur entscheidenden Oberstufe, eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, auch bei den Eltern, die in der Sekundarstufe I die Realschule oder die Integrierte Gesamtschule wählen. Da sich andererseits das Abitur nach 12 Schuljahren weitgehend durchgesetzt hat, scheint ein Mittlerer Schulabschluss nach 9 Jahren die bessere Alternative zur Aufteilung 5 bis 10 und 11 bis 12, also einer nur zweijährigen Oberstufe. Das dreijährige Gymnasium hätte dann als wissenschaftliches Propädeutikum (Kollegstufe) unter dem Zeitaspekt eine ähnliche Bedeutung wie das Bachelor-Studium.

Die Stufung 5 bis 9 und 10 bis 12 entspricht auch den Vorschlägen, die bislang aus der Wirtschaft und der organisierten Elternschaft kommen und von skandinavischen Systemen inspiriert sind.

Das Argument für eine Sekundarstufe I von 5 bis10, dass man gerade für leistungsschwache Schüler/innen und für die schwierige Phase der Pubertät eine sechsjährige Sekundarstufe I brauche, ist ernst zu nehmen. Zu bedenken ist aber, dass eine Schule, die nicht mehr auslesen muss und aussortieren kann, deren Kerngeschäft das gemeinsame Lernen in heterogenen Lerngruppen und das individuelle Fördern ist, in fünf Jahren auch mehr erreichen wird für eine solide Grundbildung bis zum Ende der Sekundarstufe I. Die Skandinavier zeigen das sehr eindrucksvoll. Alle internen und externen Tests in diesen Jahren, von der zentralen Abschlussprüfung abgesehen, dienen vor allem dazu, einer Schule, einer Lehrperson oder einer Schülerin/einem Schüler Stärken und Schwächen zu zeigen für den weiteren Lehr- und Lernplan.

Überall, wo es im Bereich der Sekundarstufe I in nicht allzu weiter Entfernung konkurrierende Schulen gibt, wird es, wie im jetzigen System auch schon, solche geben, die mehr Anmeldungen bekommen, als sie Kinder aufnehmen können, und die sich ihre Schüler/innen auswählen können. Doch dabei steht nun der seither unangefochten gute Ruf einer Schule unter zwei Aspekten zur Disposition:

  • Erfolgt die Auswahl der angemeldeten Schüler/innen nach nachvollziehbaren Kriterien wie Wohnortnähe, besonderes Schulprofil, ältere Geschwister an der Schule o.ä. oder doch eher nach traditionellen Leistungskriterien, die erfahrungsgemäß zu sozialer Auslese führen?
  • Lässt die Schule sich ernsthaft auf Heterogenität im Leistungsvermögen und in der sozialen Zusammensetzung ein und welche Auswirkungen hat das auf ihr pädagogisches Programm?

Neben den bislang anerkannten Schulen, die sich um genügend Anmeldungen zunächst keine Sorgen machen müssen, wird es bei der Einführung des neuen Modells Schulen geben, die von Eltern nicht hinreichend angewählt werden und an die der Schulträger Schüler/innen überweisen muss. Es werden mit Sicherheit Schulen an Standorten mit einem bislang hohen Anteil von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern und mit Migrationshintergrund sein (Hauptschulen, Haupt- und Realschulen, Gesamtschulen). Das ist natürlich auch in Ländern wie Finnland oder Schweden mit einer integrierten Sekundarstufe I nicht anders und lässt sich in einer demokratischen Gesellschaft auch nur durch Maßnahmen verhindern, die diese Gesellschaft in Frage stellen würden.

Da diese schwierigen Schulen aber im Konzept einer guten Schule für alle auch den Auftrag haben, ihren Schüler/innen eine solide Grundbildung für einen Mittleren Schulabschluss zu vermitteln, müssen sie nach einem transparenten Sozialschlüssel besondere materielle und personelle Zuwendungen erfahren, um ihre besonders anspruchsvolle pädagogische Arbeit leisten zu können und dabei auch mittelfristig das Ansehen der Schule in ihrem Umfeld zu verbessern. Unterstützung erfahren diese Schulen allerdings auch schon dadurch, dass sie nicht mehr wie bisher gezwungen sind, immer wieder von anderen Schulen „querversetzte“ Schüler/innen aufzunehmen und zu integrieren.

Schulen, die im Wettbewerb um eine genügend große Anzahl von Schüler/innen absehbar nicht werden bestehen können und für die auch keine Möglichkeit besteht, mit einer benachbarten Schule zu fusionieren und gemeinsam mit einem fünften integrierten Schuljahr zu beginnen, werden nur noch die Jahrgänge von 6 bis 9 zu einem Abschluss führen. Das dürfte wohl in erster Linie auf Hauptschulen im städtischen Raum zutreffen. In ländlichen Regionen jedenfalls bietet die gemeinsame Schule für alle die Chance, auch bei sinkenden Schülerzahlen ein wohnortnahes Angebot zu halten und Schulschließungen in größerem Umfang zu vermeiden.

Das Modell einer guten Schule für alle, erfolgreich praktiziert in der Grundschule, nun auch für die Sekundarstufe I geplant, schränkt das Recht auf freie Schulwahl gerade für die Eltern nicht ein, die seither vor allem davon Gebrauch machten, indem sie, selbst gegen die Empfehlung der Grundschule, die anspruchsvollen Schulformen für ihr Kind wählten und diese Entscheidung notfalls auch mit erheblichen Investitionen in Nachhilfe erfolgreich verteidigten. Gerade diese Eltern können im neuen Modell erfahren, dass im Wettbewerb der bislang angesehenen Schulen sich ganz neue Qualitätsmerkmale entwickeln, die sich positiv auf die Lernbereitschaft von Schüler/innen auswirken können und die zu Leistungen und Qualifikationen motivieren, die auch für den Erfolg im Beruf wichtiger sind als vieles, was unter Notendruck und Selektionsangst erreichbar ist.

An der neuen Sekundarstufe I werden für eine Übergangszeit zwei Lehrämter zuständig bleiben: das Lehramt an Haupt- und Realschulen und das gymnasiale Lehramt. Über eine Reform der Lehrerbildung ist in den meisten Bundesländern vor und nach PISA diskutiert, geplant und zum Teil auch schon beschlossen worden, angeregt durch den nach wie vor als mangelhaft kritisierten Praxisbezug und durch EU-Bemühungen nach Vereinheitlichung der Studienstruktur der Mitgliedsländer in einem Bachelor-Master-Studium, auch für das Lehramt. Dabei handelt es sich bei Konservativen und Sozialdemokraten zwar um Versuche, inhaltliche und strukturelle Reformen zu verbinden, nicht aber auch die für Deutschland typische Hierarchisierung der Lehrämter zu beseitigen.

Für eine solche Enthierarchisierung hat die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft für Bildungsfragen (AfB) 1997 ein Modell ausgearbeitet und nach PISA aktualisiert, das eine gemeinsame Grundbildung für alle Lehrämter und deren prinzipielle Gleichwertigkeit vorsieht – mit drei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen: Lehramt an Sekundarstufe I und Grundschule, Lehramt an Sekundarstufe I und II, Lehramt an Sekundarstufe I und Berufsschule. In das wohl unvermeidliche Bachelor/Master-Schema eingepasst bedeutet dieses Strukturmodell für alle Lehramtsstudierende: 6 Semester BA und 4 Semester MA.

Die aktuellen, meist schulformbezogenen Lehrpläne gehen ein in einen knapp gehaltenen Rahmenlehrplan für alle Schulen der Sekundarstufe I (Vorbild Finnland), der ein nationales Kerncurriculum mit Standards, die auf Kompetenzmodellen basieren, formuliert. Deren Erreichen wird auf verschiedenen Jahrgangsstufen durch Diagnosetests kontrolliert und am Ende der Sekundarstufe I zentral überprüft. Ergänzt wird der Rahmenplan durch einen schuleigenen Lehrplan, in dem eine in die Autonomie entlassene Schule neben ihrem besonderen Profil darstellt, wie sie den Rahmenplan für ihre spezifische Schülerklientel erweitert und zu erfüllen gedenkt.

Von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II

Die Schulen der Sekundarstufe I erstellen für den Mittleren Schulabschluss („Grundbildung“) ein Zeugnis, das die Ergebnisse der Abschlussprüfung nach den von der KMK beschlossenen Standards für das Kerncurriculum enthält. Das Zeugnis enthält darüber hinaus, möglichst ohne Ziffernnoten, ein Leistungsprofil der Schülerin/des Schülers, das auf die besonderen Stärken (Kompetenzen) und die Lernergebnisse im Schullehrplan verweist.

Mit diesem Zeugnis - dazu einem Portfolio mit den besonderen Leistungen der Klassen 5 bis 9 und nach einem Beratungsgespräch der abgebenden Schule in Zusammenarbeit mit einer professionellen Berufsberatung - kann sich die Schülerin/der Schüler an jeder Schule der Sekundarstufe II bewerben. Dabei ist zu hoffen, dass im neuen Modell das Interesse an einer Schule wächst, die zur Hochschulereife führt, ob allgemeinbildend oder berufsbildend.

Wer an einer solchen Schule angenommen wird, hat das Recht, sie auch bis zum Abschluss (Hochschulreife) zu besuchen oder sich jederzeit mit seinem Mittleren Schulabschluss um einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Der Auftrag dieser Schulen besteht darin, möglichst viele Schüler/innen individuell so zu fördern, dass sie die Hochschulreife schaffen und dadurch ein für unsere Gesellschaft bedrohliches Qualifikationsdefizit vermindert wird.

Schüler/innen, die an diesen Vollzeitschulen der Sekundarstufe II nicht angenommen werden oder sich sofort um eine Lehrstelle bewerben, erlangen in der Sekundarstufe I ihre „Grundbildung“ in einem Lernmilieu, das in jedem Fall anregungsreicher sein wird als das der Hauptschule oder der Sonderschule. D.h. die gemeinsame Schule für alle in der Sekundarstufe I wird – unter einem rein ökonomischen Aspekt – die Zahl der Schüler/innen vermindern, die mit oder ohne Schulabschluss, nach Aussagen der Wirtschaft, nicht mehr ausbildungsfähig sind und die, ohne Ausbildung, zur Zeit einen hohen Prozentsatz der Arbeitslosen unter 25 und einen erheblichen Prozentsatz derer über 25 Jahren ausmachen, die auf dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar sind und die doch, nach Aussagen der Wirtschaft, in absehbarer Zeit als besser Qualifizierte gebraucht werden.

Fazit

Sozialdemokraten, die wie in Schleswig-Holstein wieder anknüpfen an die schulpolitische Tradition ihrer Partei, um mit einer guten Schule für alle auch bessere Bildungschancen für Kinder aus unteren Sozialschichten zu schaffen, werden es auch mit PISA und den Ergebnissen aller internationalen Vergleichsstudien der letzten Jahrzehnte auf absehbare Zeit nicht leicht haben, die deutschen Konservativen von einer solchen Reform zu überzeugen. Da gibt es starke Interessen und da gibt es Ängste um den Erhalt von Privilegien. Es gibt aber auch gute Argumente – pädagogische und ökonomische, um für Akzeptanz bei Eltern und einer interessierten Öffentlichkeit zu werben für eine Reform, bei der alle gewinnen, wenn es gelingt, die gemeinsame Schule von 5 bis 9 auch zu einer guten Schule zu machen. In der Tat: die Strukturreform, da haben die Konservativen Recht, ist nicht alles, aber ohne diese Reform stoßen alle Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung von Unterricht an enge Systemgrenzen.

Dass eine Strukturreform mit einer Reform des Unterrichts und der Lehrerbildung eng verbunden bleiben muss, zeigen die erheblichen Qualitätsunterschiede etwa zwischen französischen, englischen, schwedischen und finnischen Schulen, für die ja der Konsens der Sozialdemokraten mit den Konservativen gelang und integrierte Systeme von 1 bis 9 entstanden sind, wo jedoch die innere Schulreform nach allem, was wir aus internationalen Studien wissen, unterschiedlich weit gediehen ist.

Sozialdemokraten, die die innere Schulreform mit der strukturellen verbinden und mit einem solchen Konzept vor die Wähler treten wollen, müssen nicht ausscheren aus den Reformbemühungen und – vereinbarungen der KMK, die sie nach PISA mitbeschlossen haben. Sie werden sie nur ergänzen durch Maßnahmen, die die geplante Unterrichtsreform unterstützen bzw. überhaupt erst wirksam werden lassen. Für einen moderaten Übergang scheinen mir die folgenden Essentials notwendig:

  1. Die Grundschule wird entlastet von der Auslese und der Notwendigkeit, am Ende des vierten Schuljahres eine Empfehlung für eine bestimmte Schulform abzugeben. Die Kinder erhalten statt dessen ein Abgangszeugnis, aus dem differenziert der Leistungsstand eines Kindes zu ersehen ist. Mit dieser Entlastung von der Auslese kann die Grundschule weit bessere Ergebnisse erzielen, als sie ihr von der internationalen IGLU-Studie attestiert wurden.
  2. Auch die Schulen der Sekundarstufe I werden von der Auslese entlastet und übernehmen zugleich die Verantwortung für die Schüler/innen, die sie von der Grundschule angenommen haben. Jahrgangswiederholung geschieht nur noch, wenn die Betroffenen das beantragen, und bei einem Schulwechsel muss auch die aufnehmende Schule einverstanden sein. Mit der Verantwortung der Lehrenden wächst, wie das deutsche und ausländische Reformschulen eindrucksvoll demonstrieren, die Verantwortung der Lernenden für ihren individuellen Lernplan. D.h. der Verzicht auf Nichtversetzen und Abschulung bietet die Chance, eine andere Lernkultur mit mehr Selbstständigkeit der Schüler/innen zu entwickeln. (V.Merkelbach: Schule ohne Noten – wie soll das gehen? Dialogische Leistungsmessung als Element einer anderen Lernkultur. 2004. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/)
  3. Auch wenn alle Schulen der Sekundarstufe I offen sind für alle Kinder, die die Grundschule verlassen, wird es weiterhin an bestimmten Standorten Schulen geben mit einer großen Anzahl von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern. Für diese Schulen muss nach einem Sozialschlüssel ein Unterstützungssystem entwickelt werden mit besonderen materiellen und personellen Zuwendungen, mit Beratung und gezielter Lehrerfortbildung. Das ist notwendig und ein Gebot der Fairness, weil diese Schulen ja denselben Lehrauftrag haben (Mittlerer Schulabschluss) und weil sie auch attraktiv werden sollen gerade für pädagogisch und fachlich engagierte und qualifizierte Lehrer/innen.
  4. Der Verbindung von inhaltlicher und struktureller Reform der Schulen muss eine Reform der Lehrerbildung entsprechen, die nicht nur die wissenschaftliche Ausbildung stärker an die konkrete Erfahrung in schulpraktischen Studien bindet, sondern die die in der Sache ungerechtfertigte Hierarchisierung der Lehrämter und der Lehrerschaft beendet.

Wenn Sozialdemokraten das Thema Bildung wieder substanziell besetzen wollen, können sie das mit dem Konzept einer guten Schule für alle heute überzeugender tun als in den zurückliegenden vier Jahrzehnten, und zwar mit pädagogischen, demokratischen, aber auch mit wirtschaftlichen Argumenten. In dem Maße, wie dieses schulpolitische Konzept Akzeptanz gewinnt in der Bevölkerung, rückt auch bei uns der Konsens mit den Konservativen näher und damit der Zeitpunkt, wo bestimmte bildungspolitische Grundsatzfragen endlich aus der innenpolitischen Auseinandersetzung verschwinden, die zur Zeit noch bei unseren europäischen Nachbarn Verwunderung und Unverständnis hervorrufen.

Eine gute Schule für alle wird weder eine sozialdemokratische noch eine konservative Schule sein. Sie soll sich vielmehr in einem Reformprozess so entwickeln, dass niemand in ihr „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt“ wird. (Grundgesetz, Art.3,3)

Letzte Aktualisierung: 01.06.2005