Gemeinsames Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen
Juni 2009
Eine UN-Konvention, die Folgen haben wird
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschloss 2006 eine „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Im Artikel 24 heißt es zum Thema Bildung:
Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht behinderter Menschen auf Bildung. Um die Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu erreichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslange Fortbildung, mit dem Ziel,
a)die menschlichen Möglichkeiten und das Gefühl der Würde und des eigenen Werts voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;
b)die Persönlichkeit, die Begabungen und die Kreativität sowie die geistigen und körperlichen Fähigkeiten von behinderten Menschen voll zur Entfaltung zu bringen;
c)behinderten Menschen die wirksame Teilnahme an einer freien Gesellschaft zu ermöglichen. (Erziehung & Wissenschaft 3/09, S.14)
Die Forderung nach einem „inklusiven Bildungssystem“ war wohl ein entscheidender Grund dafür, dass die Bundesregierung Zeit brauchte, um die Konvention nach der Unterzeichnung am 30.3.2007 im Dezember 2008 endlich zu ratifizieren. Eine Voraussetzung für eine Zustimmung war offensichtlich, dass das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit der Kultusministerkonferenz die englische Formulierung „inclusive education system“ mit „integratives Bildungssystem“ übersetzte und damit die Konvention an einem zentralen Punkt falsch wiedergab.
Für die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann versuchen Bund und Länder mit diesem „Übersetzungsfehler“ die Konvention „an die deutschen Schulverhältnisse anzupassen“, wo gerade einmal 15 Prozent der Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ in der Regelschule mit nicht behinderten Kindern lernen, während dies in skandinavischen Ländern bis zu 90 Prozent der Fall ist. (Erziehung & Wissenschaft, 3/09, S.15 f.; dazu auch: Schumann 2009)
Marianne Demmer, Leiterin des Organisationsbereichs Schule in der GEW, sieht das Hauptproblem für die späte Ratifizierung auch in der „Philosophie der Konvention“, die „auf der Idee einer inklusiven Gesellschaft“ beruhe und damit im Widerspruch stehe „zur deutschen Tradition und Praxis des Aussonderns“. Nicht um „Integration“ von Behinderten gehe es, „um Wiedereingliederung, nachdem man sie zuvor in Schule und Ausbildung ausgesondert hat“. Es gehe „um nicht mehr und nicht weniger als ein anderes Verständnis von Gesellschaft“.
Inklusive Gemeinschaften sondern nicht aus. Alle Menschen gehören ihr an, ob behindert oder nicht, ob Migrant oder Einheimischer, ob Jung oder Alt, ob Mann oder Frau, gleich- oder andersgeschlechtlich orientiert. Die Weltgemeinschaft – die macht die UN-Konvention unmissverständlich klar – will Inklusion, will Dazugehörigkeit. (Erziehung & Wissenschaft 3/09, S.16)
Keine Frage: Mit dieser völkerrechtsverbindlichen Konvention wird die Schulpolitik des Bundes, aber mehr noch die der Länder ihre Probleme bekommen. Denn neben der von Eltern immer weniger akzeptierten Hauptschule als „Entlastungsschule“ für Realschule und Gymnasium steht nun auch die vielgestaltige deutsche Sonderschule zur Disposition und mit ihr generell die Möglichkeit und Legitimation einer „begabungsgerechten“ Zuweisung von Kindern und Jugendlichen zu unterschiedlich anspruchsvollen Schulformen.
Das Interesse der Wissenschaft an der Sonderschule
Während die Probleme der Hauptschule seit Jahren den öffentlichen Bildungsdiskurs bestimmen und diese Schulform nur noch von einigen konservativen Landesregierung gegen das Votum der Eltern zäh verteidigt wird, erlangten die Probleme der Sonderschule und die Frage nach ihrer Legitimation bislang nur wenig Aufmerksamkeit, zumal diese Schule mehr noch als die Hauptschule Kinder aus sozial und kulturell unterprivilegierten Familien unterrichtet, darunter eine wachsende Zahl aus Zuwandererfamilien.
Schwach entwickelt wie das Interesse der Öffentlichkeit war bislang auch das der Wissenschaft an der Sonderschule. Das scheint sich mit der Debatte über die alarmierenden Ergebnisse der PISA-Studien zu ändern, mit einem ihrer zentralen Ergebnisse, dass die frühe deutsche Auslese der Kinder nach Leistung zugleich in hohem Maße eine soziale Auslese darstellt. In der großen Gruppe der besonders leistungsschwachen Schüler/innen („Risikogruppe“) sind allerdings nur bei PISA 2000 die fünfzehnjährigen Sonderschüler/innen in geringem Umfange einbezogen. PISA als internationale Vergleichsstudie kann offensichtlich mit der typisch deutschen Sonderschule nichts Rechtes anfangen.
Doch gerade dieses Desinteresse einer so aufwendigen Studie und ihre breite öffentliche Wahrnehmung hat wohl die Bildungsforschung provoziert, auch dem Ende der Abwärtsspirale unseres aussondernden Systems mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Dass die Sonderschule inzwischen offiziell Förderschule heißt ist irreführend und beschönigend; denn Fördern ist schließlich die zentrale Aufgabe auch der anderen Schulformen. Die Frage, die sich einer distanziert beobachtenden Wissenschaft stellt, lautet: Mit welcher Perspektive und mit welchem Erfolg fördert diese Förderschule?
In der ZEIT erschien am 23.8.08 (S.59) ein längerer Beitrag zur Sonderschule von Reiner Scholz mit der Aufmachung: „Gefangen im Schonraum. Sonderschüler dürfen nur selten Regelschulen besuchen – angeblich zum Schutz der Kinder. Die pädagogischen Folgen sind erschreckend“. Scholz nennt für das „erschreckend“ einige Fakten:
- Mehr als die Hälfte aller Sonderschüler/innen gehen in Schulen für „Lernbehinderte“. „Hier sitzen die Kinder der Armen und der Migranten – und überproportional viele Jungen“.
- In der Hierarchie der Sonderschulen stehen diese Schulen ganz unten, während die Schulen für Blinde, Hör- und Sehschwache, aber auch für Körperbehinderte „unter anderem durch Spenden gut ausgestattet sind“.
- Die 85 Prozent der deutschen Sonderschüler/innen, die in eigenen Schulen unterrichtet werden, werden nur noch von der Schweiz und dem flämischen Teil Belgiens übertroffen.
- 80 Prozent aller Sonderschüler/innen bleiben, „trotz oftmals deutlich verlängerter Schulzeit wegen Sitzenbleibens“, ohne Hauptschulabschluss.
Für Scholz ist das Interesse für das, „was hinter den Türen der Sonderschule passiert“, in der Gesellschaft nur gering ausgeprägt. So zeige sich der Göttinger Bildungssoziologe Justin Powell überrascht, dass er am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung innerhalb von 40 Jahren erst der Zweite gewesen ist, der sich mit dem Thema Sonderschule beschäftigt hat. Scholz zitiert abschließend aus zwei weiteren Studien von Brigitte Schumann und Hans Wocken.
Einstellungen von Lehrer/innen und Eltern zur Sonderschule
Brigitte Schumann ist 2003/04 in einer Studie über die Sonderschule für Lernbehinderte der Frage nachgegangen, welche Akzeptanz die Schule bei Lehrer/innen und Eltern besitzt. In dem Beitrag „Wie unser Schulsystem Eltern beschämt“ (Frankfurter Rundschau, 30.3.04, S.9) referiert sie Ergebnisse ihrer Studie, die auf der Befragung von 193 Eltern an zwei Sonderschulen und 73 Lehrer/innen an fünf Sonderschulen in Nordrhein-Westfalen basiert.
In PISA 2000 waren, wie oben erwähnt, nur in geringem Umfange Sonderschulen einbezogen. Die „deprimierenden Leistungsergebnisse“ dieser Schulen seien von den Forschern „mit der lapidaren Bemerkung kommentiert“ worden: Die Sonderschule habe „eine schwierige Klientel“, ohne jeden Hinweis auf „die praktischen Erfahrungen aus der Integrationspädagogik über die Vorteile des Lernens in leistungsgemischten Gruppen“. Besonders bedrückend nach PISA sind für Brigitte Schumann „die ungebrochen steigenden Überweisungsquoten zu den Sonderschulen für Lernbehinderte und der nachweisliche Anstieg der Überrepräsentation von Kindern mit Migrationshintergrund“. Die Entwicklung verweise darauf, „wie bei zunehmenden gesellschaftlichen Problemlagen die Regelschule sich durch Sonderschulüberweisung von den Kindern entlastet, die es besonders schwer haben“.
Die Frage, ob die PISA-Ergebnisse an der Einstellung der Sonderschullehrer/innen etwas geändert haben, muss Brigitte Schumann „ganz klar verneinen“. Die Sonderschule gelte den Befragten „mehrheitlich nach wie vor als unverzichtbarer Förderort“. Nur etwa 10 Prozent sehen „in der Verpflichtung zum Sonderschulbesuch eine wenig förderliche Selektionsmaßnahme, die durch gemeinsames Lernen in einem integrativen und individuell fördernden Regelschulsystem überwunden werden sollte“. Das Ergebnis findet Brigitte Schumann durch eine Befragung von Sonderschullehrer/innen im Verband Bildung und Erziehung (VBE) im Jahr 2003 bestätigt. Auch da forderten lediglich 10,2 Prozent „die Ersetzung der eigenständigen Sonderschule durch den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderungen“.
Im Unterschied zu den Lehrer/innen bejahen in der Befragung von Brigitte Schumann 58,7 Prozent der Eltern die Frage: „Sollten nach Ihrer Erfahrung in Zukunft alle Schüler, die jetzt noch in den Sonderschulen für Lernbehinderte unterrichtet werden, in den allgemeinen Schulen lernen und dort individuell gefördert werden?“ 22,8 Prozent verneinten die Frage und 18,5 Prozent wussten keine Antwort.
Eine Mehrheit von 61,5 Prozent stimmte der Aussage zu: „Wer zur Sonderschule geht, ist gesellschaftlich nicht gut angesehen und hat später Nachteile in Ausbildung und Beruf.“ Stärker noch als die deutschen Eltern sehen „Migranteneltern“ die Sonderschule als Stigmatisierung. Das deutsche Schulsystem konfrontiere sie „mit einer Situation, die sie als Katastrophe erleben“. Nach ihrem kulturellen Verständnis gehöre der Behindertenbegriff in eine Kategorie, „die in ihren Heimatländern gesellschaftliche Ächtung erfährt“. Darum sei die Scham vor den eigenen Landsleuten groß, so dass türkische Eltern sogar versuchten, „ihr Kind in die Türkei zu schicken, um es vor der deutschen Sonderschule zu bewahren“.
Wenn Lehrer/innen in der Befragung angeben, mit dem Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zufrieden zu sein, so wäre es allerdings absurd, dies den Lehrer/innen als „persönliches Fehlverhalten“ anzulasten. Das Schulsystem selbst sorge dafür, „dass Lehrern der Regelschule wie denen der Sonderschule bei der Überweisung eines Schülers von einem Teilsystem in das andere die Verletzung, die Demütigung und die Beschädigung von Eltern und Kindern nicht deutlich werden muss“. Das System suggeriere, „dass es für diejenigen Kinder, die von der Regelschule nicht hinreichend gefördert werden können, in der Sonderschule einen besseren Förderort gibt“.( die Studie als Buch: Schumann 2007)
Der „Förderort“ Sonderschule
Ob und in welchem Maße die Auffassung zutrifft, dass die Sonderschule für Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf der bessere Lernort ist, untersucht seit geraumer Zeit Hans Wocken, Professor für Lernbehindertenpädagogik in Hamburg. Im Mai 2005 erschien von ihm ein umfangreicher Forschungsbericht „Andere Länder, andere Schüler?“, mit dem Untertitel „Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen“. 2004 erhielt Wocken den Forschungsauftrag, der sich speziell auf die Schulen für Lernbehinderte bezog, vom Kultusministerium des Landes Brandenburg. Es ist in der Studie, wie Wocken ankündigt, „nicht von irgendwelchen Subkulturen und Unterwelten“ die Rede, „sondern von der untersten Stufe des hierarchisch gegliederten Schulwesens“.(Wocken 2005, S.6)
Trotz der Debatte über TIMMS, PISA, IGLU und andere internationale und nationale Studien könne sich die Sonderschule, so Wocken 2005, „derzeit ungerührt im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit einrichten“. Sie werde weder „zur Rechenschaftslegung aufgefordert“ noch fordere „sie diese selbst ein“. Vor seiner Studie habe kein Kultusministerium ein Forschungsprojekt über die Sonderschule in Auftrag gegeben, so dass der vorgelegte Bericht „ein erster Schritt sei, diesem Desiderat ein Stück weit abzuhelfen“. (S.l6)
Wocken recherchierte vorab über Gemeinsamkeiten und Differenzen im Sozialstatus der Sonderschüler/innen in den drei Bundesländern und im Vergleich mit Schüler/innen in den übrigen Schulformen, mit dem Ergebnis: „Die Förderschüler bilden das Schlusslicht und sind die ärmsten Schüler aller Schulen“. (S.32 f.)
Im Zentrum der Studie stehen Stichproben zu den „Leistungsständen“ in der Rechtschreibung und der Intelligenz. Dabei war für Wocken die größte Überraschung „die Variable Sonderschulbesuchsjahre“. Die „optimistische Erwartung“ sei gewesen, „dass die Förderschule einen förderlichen Einfluss ausübt und folglich alle Schüler, die schon frühzeitig in die Förderschule aufgenommen worden sind und eine mehrjährige Förderschulzeit genießen konnten, jenen Schülern mit weniger Förderschuljahren in ihren schulischen Leistungen überlegen sind“. Diese Erwartung sei durchaus nachvollziehbar. Sie gehe „wohlmeinend von einer segensreichen Wirkung einer speziellen Förderung in kleinen Lerngruppen und durch qualifizierte Sonderpädagogen aus“.
Es sollte allerdings alles ganz anders kommen. Der einschlägige Untersuchungsbefund bestätigt zwar durchaus die Erwartung einer bedeutsamen Effektivität der Förderschule, jedoch diametral entgegengesetzt zur angenommenen und erhofften Lernentwicklung. Je länger ein Schüler in der Förderschule zugebracht hat, desto schlechter sind sowohl seine Rechtschreibleistungen als auch seine Intelligenzwerte“. (S.58)
Wocken versucht eine Erklärung dieses überraschenden Befunds: Man könne „wohl mit Fug und Recht annehmen, dass intelligenzschwächere Schüler in der Grundschule auch früher leistungsauffällig werden“. Wenn darum „ein schwerwiegendes Leistungsversagen eingetreten“ sei oder „in Kürze wahrscheinlich“ werde, würden „Schüler mit Lernbehinderungen baldmöglichst zu einer Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gemeldet“. D.h.: „Von frühen Überweisungen zur Förderschule sind wohl zuerst die schwächsten Schüler, die mit gravierenden Lernbehinderungen betroffen“. Erklärungsbedarf gibt es für Wocken allerdings noch, warum diese schwächeren Schüler auch über Jahre hinweg „weiterhin die schwächsten Schüler“ bleiben, „trotz intensiver, spezieller Förderung“. Das nötige zu „unbequemen Überlegungen“.
Die sehr stabile Position der schwachen Schüler, ihr Verharren auf dem unteren Leistungsniveau kann nicht allein ihnen selbstangelastet und mit ihrer niedrigen Intelligenz erklärt werden. Wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass auch die Förderschule daran beteiligt ist.
Der bedeutsame negative Zusammenhang zwischen den kognitiven Merkmalen Rechtschreiben und Intelligenz sowie der Anzahl der Förderschuljahre ist auch als Indiz einer unzureichenden und unbefriedigenden Effizienz der Förderschule selbst zu werten. (S.59 f.)
Für Wocken haben empirische Studien nachweisen können, dass neben der Familie und dem sozialen Umfeld die Schule „das wichtigste Entwicklungsmilieu von Heranwachsenden“ darstellt. So habe die pädagogisch-psychologische Forschung „in jüngster Zeit den nachhaltigen Einfluss der Schule auf die Intelligenzentwicklung von Kindern nachweisen können“. Schule vermittle „nicht nur Wissen und Fertigkeiten“, Schule beeinflusse „auch unmittelbar die Intelligenz selbst“. Untersuchungen, die speziell dem Zusammenhang zwischen der Dauer des Schulbesuchs und der Intelligenzentwicklung nachgingen, hätten „einen intelligenzsteigernden Effekt der Schule verifizieren können“.
Neben der Abhängigkeit der Intelligenzhöhe von der Anzahl der Schulbesuchsjahre verweist Wocken auf Studien, die „auf eine unterschiedliche Anregungsqualität von schulischen Milieus“ hinweisen. Für Wocken lassen die Untersuchungsbefunde seiner eigenen Studie „berechtigte Zweifel aufkommen, ob der Förderschule eine entwicklungsoptimierende Wirkung zugesprochen werden kann“. Die „Positionsstabilität“ der schwachen Schüler/innen spreche „unzweifelhaft gegen eine kompensatorische, rehabilitative Wirkung der Förderschule“. Eine Erklärung für die eingeschränkte Wirksamkeit der Förderschule sieht Wocken auch in der Reduktion ihres Anspruchs. Sie passe sich dem Leistungsvermögen der Schüler/innen an. Das geschehe „vor allem durch eine Senkung der Anforderungen sowie durch eine Intensivierung der Hilfen“. „Weniger fordern und mehr behüten“ könne dann „weniger fördern bedeuten“.(S.61)
In den Lerngruppen befinden sich alle Schüler mehr oder minder auf einem niedrigen Sockelniveau, da gibt es wenige, die schon in der Zone der nächsten Entwicklung sind oder die als „Zugpferde“ den unterrichtlichen Alltag mit Schwung beleben könnten. Ein anregungsintensives Entwicklungsmilieu ist durch eine spannungsvolle, lebendige Vielfalt gekennzeichnet, und zwar sowohl in kognitiver wie in sozialer Hinsicht. In der Förderschule ist diese Vielfalt auf ein einfaches Level zusammengeschmolzen, und zwar auf ein niedriges Level wie auf eine eingeschränkte Variabilität. Entstanden ist ein niveaureduziertes, monotones Milieu, das die Entwicklung nicht mehr bestmöglich stimuliert, sondern eher Stagnation oder Retardation zur Folge hat. (S.62)
In einem Interview wird Hans Wocken vier Jahre nach der Veröffentlichung seines Forschungsberichts gefragt, was die UN-Behindertenkonvention mit der Forderung nach inklusiver Bildung als Menschenrecht für unser Schulsystem bedeutet. Für Wocken hat die Forderung gravierende Folgen, auch für die Rechtsprechung. Wenn das gemeinsame Lernen ein Menschenrecht sei „wie etwa das Recht auf Leben und Freiheit“, so dürfe man es nicht länger an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen binden. Man könne nicht länger sagen: „Ihr Kind kann die allgemeine Schule nicht besuchen, weil wir zu wenig Förderstunden haben.“ Der sogenannte „Ressourcenvorbehalt“, den Gerichte immer wieder anführen, müsse nun „vom Tisch“. (Frankfurter Rundschau, 8.5.09, S.14 f.)
Von Integrationsklassen in der Regelschule
In einem Bericht über Forschungsergebnisse zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schüler/innen weist der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eingangs darauf hin, dass mit „behindert“ Kinder mit sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen in den Bereichen Sehen, Hören, körperliche Entwicklung, geistige Entwicklung, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung und Lernen gemeint sind und dass die Kultusministerkonferenz sich 1994 darauf geeinigt hat, sie alle „Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ zu nennen und sie verschiedenen Sonderschulen zuzuweisen. (Preuss-Lausitz 2003, S.75)
Preuss-Lausitz geht es nicht um die Arbeit in diesen Schulen, in denen das spezifisch deutsche Bedürfnis nach möglichst leistungshomogenen Lerngruppen an ein Ende gelangt. Es geht ihm um die Gegenbewegung in Schulen und einzelnen Klassen, die sich öffnen für „eine bewusst gewollte Heterogenität“. Welche Antworten geben Studien zu diesem gemeinsamen Unterricht auf Fragen: Führt diese verstärkte Heterogenität „zur sozialen Isolation leistungsschwächerer und körperlich behinderter Kinder“? Senken sie „das allgemeine Leistungsniveau“? Wie steht es um die Akzeptanz der Eltern der behinderten und der nichtbehinderten Kinder? Beim Durchforsten einer Reihe von Studien seit den 1980er Jahren kommt Preuss-Lausitz zu dem Ergenis:
- Was PISA generell für den Unterricht in Regelklassen feststellt, bestätigt sich auch im gemeinsamen Unterricht: Leistungsschwächere profitieren „vom Anregungsgehalt heterogener Klassen“. (S.76)
- Die Befürchtung, dass durch die Integration behinderter Kinder Nachteile für anderer Kinder entstehen könnten, wird in den Studien nicht bestätigt. (S.77)
- Das gilt auch für die Befürchtung, dass geistig behinderte Kinder scheitern könnten.
- Was die soziale Integration betrifft, gehören die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zwar selten zu den „Stars“ der Klasse, sind aber gut integriert. (S.77 f.)
- Dass Integrationsklassen meist von Eltern behinderter Kinder initiiert werden, alle Eltern aber schriftlich ihre Zustimmung geben müssen, gewährleistet „eine hohe Akzeptanz der vorhandenen Heterogenität“. (S.78)
Am Ende seines Forschungsberichts zieht Preuss-Lausitz ein Resümee: Gemeinsamer Unterricht zeige, „wie Vielfalt fruchtbar gemacht werden kann“, wie dieser Unterricht, pädagogisch sinnvoll organisiert, auch bei unterschiedlich beeinträchtigten Kindern „zu besseren Schulleistungen und zu günstigeren sozialen Entwicklungen“ führt. Aber auch die anderen Kinder lernten, „was sie lernen sollen – und mehr“: „Sie machen soziale Erfahrungen, die zu mehr Toleranz führen“. Er empfiehlt darum, „für die allgemeinen Heterogenitätsfragen und –diskussionen in Grundschule und Sekundarstufe“ auf die Erfahrungen mit der verstärkten Heterogenität zurückzugreifen, die in Integrationsklassen und –schulen bislang gemacht wurden. (S.80)
(Vgl. dazu einen weiteren Forschungsbericht: Podlesch 2003)
Erste Reaktionen der Bundesländer auf die UN-Konvention
Die Forderung der UN-Konvention, Kinder mit Behinderungen mit anderen Kindern zusammen zu unterrichten, und zwar von Anfang an, ist für das aussondernde deutsche Schulsystem eine große Herausforderung, die sich allerdings für die einzelnen Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Anteilen an Sonderschüler/innen ganz unterschiedlich stellt. Aus einer aktuellen Statistik, die der Konstanzer Erziehungswissenschaftler Georg Lind aus PISA-Berichten und Berichten des Statistischen Bundesamtes erstellt hat, schwankt der Anteil an Sonderschüler/innen zwischen 4,8 Prozent in Schleswig-Holstein und 12,33 Prozent in Sachsen-Anhalt. (Lind 2008)
Eine klare Kampfansage kam prompt aus Bayern, das nach Linds Statistik mit 6,11 Prozent zusammen mit Baden-Württemberg mit 6,63 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 6,92 Prozent die meisten Sonderschüler/innen unter den alten Bundesländern hat. In einer Pressemeldung vom 21.2.09 kündigt der Bayerische Kultusminister an, er werde sich „mit aller Kraft gegen eine Aufgabe der Förderschule zugunsten eines inklusiven Bildungssystems stemmen“ und bezeichnete die Forderung nach gemeinsamem Unterricht für alle Kinder als „doktrinär“. (http://bildungsklick.de/ 25.2.09)
Baden-Württemberg, das nach einem Gerichtsurteil gerade den Antrag auf eine „Integrative Schule“ genehmigen musste (Frankfurter Rundschau, 28./29.3.09, S.15) und wo gerade einmal 0,27 Prozent der Sonderschüler/innen in Integrationsklassen unterrichtet werden, reagiert auf die UN-Konvention mit der Ankündigung, die Sonderschulpflicht abzuschaffen. Das bedeutet nicht, dass die Eltern jetzt wählen können zwischen Sonderschule und Regelschule. Ein Fachgremium soll den Eltern vorschlagen, welche Schule geeignet ist, wobei noch unklar bleibt, ob Eltern sich darüber hinwegsetzen können. (Frankfurter Rundschau, 6.5.09, S.12)
In einer Pressemeldung vom 2.4.09 kündigt das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen an, die „Integrationsquote“ im laufenden Schuljahr von 11 auf 13,8 Prozent zu steigern.
Bremen ist bislang das einzige Bundesland, das den Eltern eine wirkliche Wahlfreiheit in Form eines Rechtsanspruchs einräumt. Dort gehen bereits 45 Prozent der Sonderschüler/innen in eine Regelschule.
Auch in Schleswig-Holstein mit dem geringsten Anteil an Sonderschüler/innen unter allen Bundesländern werden bereits 45 Prozent in Integrationsklassen unterrichtet. Die Kultusministerin des Landes, Ute Erdsiek-Rave, reagierte auf die Ratifizierung der UN-Konvention mit einem „Jahr der inklusiven Bildung“. Mit Informationstagen, Diskussionsrunden und vielen anderen Veranstaltungen und Veröffentlichungen soll das Konzept der „inklusiven Bildung“ in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und mögliche Vorbehalte abgebaut werden. Für die meisten Staaten, so die Ministerin, sei „Inklusion längst Kern aller Reformen“. Dass Deutschland da noch weit hinterherhinke, sei auch bei der letzten Weltbildungskonferenz in Genf 2008 deutlich geworden, wo die Ministerin die deutsche Delegation leitete.
Schleswig-Holstein will die vor mehr als zehn Jahren begonnene Integration von Sonderschüler/innen in die Regelschule Schritt für Schritt weiter vorantreiben mit „Förderzentren“. Es sind dies keine Sonderschulen im üblichen Sinne, sondern „Kompetenzzentren“, die Sonderpädagogen und andere Experten auch präventiv an Kindertagestätten und Schulen schicken, um Erzieher/innen und Lehrer/innen bei der Integration benachteiligter Kinder zu unterstützen.
(Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein: Medien-Information, 20.2.09)
Die sehr unterschiedlichen Reaktionen einzelner Kultusministerien auf die UN-Konvention stehen in einem Zusammenhang mit den seitherigen Bemühungen des jeweiligen Landes um gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen. Das betraf bislang in erster Linie Grundschulen, in geringem Umfange aber auch Sekundarschulen. Und da sind die Länder auf die Umsetzung der Konvention besser vorbereitet, in denen Integrierte Gesamtschulen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf von der Grundschule übernommen haben. Solche Grund- und Sekundarschulen sind, wenn möglich auch in Kooperation mit Kindertagesstätten, bereits Modelle inklusiver Bildung im Sinne der Konvention.
Eine Lobby für die inklusive Schule
Elterninitiativen und Behindertenorganisationen
Die harsche Absage des Bayerischen Kultusministers an die sukzessive Auflösung von Sonderschulen erfuhr massiven Widerspruch durch den Bayerischen Elternverband. „Wir sind empört“, erklärte dessen Stellvertretende Vorsitzende, Ulrike Stautner, „dass der Kultusminister die UN-Konvention mit Füßen tritt“. Er müsse sich von Elternverbänden und Behindertenorganisationen die Frage gefallen lassen, ob er als Minister mit einem solchen Rechtsverständnis nicht fehl am Platze sei. Mit seiner Blockade brüskiere er „Bildungsforscher, Menschenrechtler und alle Menschen weltweit, die an der Konvention mitgearbeitet haben und sie unterstützen“. „Die Leidtragenden aber werden die behinderten Kinder und ihre Eltern sein, die auf absehbare Zeit nicht auf ein Ende ihrer Aussonderung hoffen dürfen.“ (http://bildungsklick.de/ 25.2.09)
Zurecht berufen kann sich der Bayerische Elternverband auf andere Verbände und Organisationen, die sich durch die UN-Konvention bestätigt und bestärkt fühlen in ihrem Engagement für mehr Plätze an Regelschulen für behinderte Kinder und für das Recht, zwischen Sonder- und Regelschule frei wählen zu können. So veröffentlichte im Januar 2009 die von Eltern behinderter Kinder 1985 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ das Manifest „Inklusive Bildung – Jetzt!“. Mitunterzeichnet wurde es u.a. von der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer (SPD), vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Deutschen Behindertenrat, der Interessenvertretung „Selbstbestimmt leben“ und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Die Unterzeichner nehmen die Ratifizierung der UN-Konvention zum Anlass, „eine grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik in Deutschland zu fordern“. Wie bei der UN-Kinderrechtskonvention seien für die Umsetzung der neuen Konvention Bund, Länder und Gemeinden zuständig. Sie alle seien „an die völkerrechtlichen Vereinbarungen gebunden“. Der Bund habe „die Einhaltung der Konvention vor der Völkergemeinschaft zu vertreten“. Zulässig sei jetzt nicht mehr der übliche Verweis auf die Zuständigkeit des jeweils anderen.
An deutschen Schulen bestünden Zustände fort, „die den Konventionen eklatant widersprechen und deshalb vom Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, „angeprangert“ worden seien: So die frühe Trennung auf verschiedene Bildungswege, das Einweisen von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen, auch gegen den Willen ihrer Eltern, und die Feststellung, dass sich unter den Sonderschüler/innen „überproportional viele Kinder mit Migrations- und/oder Armutshindergrund“ befinden.
Auf diese Weise produziert und reproduziert unser Bildungssystem gesellschaftliche Ungleichheit und Armut. Immer größere Teile der Bevölkerung werden durch Bildungsarmut von Selbstbestimmung und Teilhabe ausgeschlossen.
Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und Benachteiligungen bedeutet die Ausgrenzung in Sonderschulen den Einstieg in lebenslange Sonderwege an den Rändern der Gesellschaft. Gleichzeitig wird allen Kindern die Vielfalt der Gesellschaft in der Schule vorenthalten. Sie können so nicht im Alltag lernen, respektvoll und konstruktiv mit Andersartigkeit umzugehen. Das ist der Ausgangspunkt von gesellschaftlicher Ausgrenzung und gibt für demokratische Kultur in diesem Land Anlass zur Besorgnis.
Vier konkrete Forderungen werden in dem Manifest formuliert:
- Jedes Kind hat Anspruch auf Aufnahme in die zuständige allgemeine Schule.
- Die nötige individuelle Unterstützung muss jedem Kind an seiner Schule zur Verfügung gestellt werden.
- Für Schulen und Lehrkräfte müssen Fortbildung, Begleitung und Unterstützung zur Umsetzung des inklusiven Bildungsanspruchs zur Verfügung stehen.
Alle Lehramtsstudiengänge müssen an die Anforderungen inklusiver Bildung angepasst werden.
Das Manifest endet mit dem lapidaren Satz: „Vor diesem Hintergrund dürfen Schulstrukturfragen kein Tabuthema mehr sein.“
(In: PISA-Info/GEW, 5/09)
Ähnlich wie in dem Manifest fordern weitere Organisationen in Positionspapieren konkrete Schritte von der Politik auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem:
- Sozialverband Deutschland: „UN-Konvention umsetzen – inklusive Bildung verwirklichen“ (In: PISA-Info/GEW, 5/09)
- Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung: „Gemeinsames Leben braucht gemeinsames Lernen in der Schule“ (www.lebenshilfe.de/ Marburg, April 2009)
- Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe: „Von der Integration zu Bildungseinrichtungen, für die Inklusion selbstverständlich ist“ (In: PISA-Info/GEW, 5/09)
- Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen: „Keine Ausgrenzung behinderter Kinder in Deutschland“ (http://bildungsklick.de/ 19.5.09)
Lehrerverbände
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) unterstützen die Forderung der UN-Konvention nach einer inklusiven Schule.
Die GEW, die schon das Manifest „Inklusive Bildung – Jetzt!“ unterzeichnet hat, veröffentlichte am 14.1.09 ein eigenes Positionspapier. Sie begrüßt darin die Absicht der Kultusministerkonferenz, „die Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung aus dem Jahr 1994 zu überarbeiten als positives, aber auch überfälliges Signal, sich den Herausforderungen der UN-Konvention“ stellen zu wollen. Gegenüber der unzutreffenden deutschen Übersetzung von „inclusion“ erklärt die GEW:
Die integrative Pädagogik strebt die Eingliederung der aussortierten und etikettierten Schüler an. Inklusive Pädagogik hingegen sortiert erst gar nicht aus. Sie geht vielmehr davon aus, dass alle Schülerinnen und Schüler neben gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsbedürfnissen auch individuelle Bedürfnisse haben, und darunter auch solche besonderer Art, für deren Befriedigung die Bereitstellung spezieller Mittel und Methoden sinnvoll sein kann.
Es liege zwar auf der Hand, „dass ein selektives System wie das deutsche bestenfalls integrativ sein kann“. Die UN-Konvention gebe allerdings „ein institutionelles Ziel für die volle Verwirklichung des Rechts auf Bildung vor, dem sich die Unterzeichnerstaaten und damit auch Deutschland verpflichtet haben“. Und dieses Ziel heiße „Inklusion“.
Die GEW erwartet deshalb und drängt darauf, dass auch die KMK die gegenwärtige „integrative“ Phase als Übergangsphase zu einem vollständig inklusiven Bildungssystem des gemeinsamen Lebens und Lernens bis zum Ende der Pflichtschulzeit betrachtet. Die Zielsetzung – Umsetzung der UN-Konvention – muss in der Überarbeitung der Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung deshalb deutlich zum Ausdruck kommen, auch indem die bisherige defizitorientierte Perspektive durch eine könnens- und teilhabebezogene Betrachtung ersetzt wird.
(In: PISA-Info/GEW, 5/09)
Für den Bundesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, liegt die Umsetzung der UN-Konvention vor allem in der Verantwortung der Länder. Sie müssten endlich „ihre Hausaufgaben machen und die erforderlichen personellen, sächlichen und räumlichen Bedingungen an allgemeinen Schulen für eine gemeinsame Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern schaffen“. Man habe allerdings den Eindruck. „dass einige Länder eher bereit sind, die Auslesetechnik zu verschärfen, anstatt die Bedingungen für gemeinsames Lernen zu verbessern“.
Beckmann erinnert daran, dass die Kultusministerkonferenz bereits 1994 „ausdrücklich die sonderpädagogische Förderung an allgemeinen Schulen empfohlen“ hat. Das Ergebnis sei allerdings mit gerade einmal 15,7 Prozent der Schüler/innen in der Regelschule „mehr als traurig“. Es könne zwar jetzt nicht „Knall auf Fall um die Abschaffung aller Förderschulen gehen“, wohl aber dürfe es „keinen erzwungenen getrennten Unterricht“ mehr geben und Eltern müssten ein Wahlrecht bekommen. Am Ende seiner Presseerklärung stellt Beckmann fest und fordert:
Jährlich werden zehn Milliarden Euro Eingliederungshilfe für Abgänger aus Förderschulen ausgegeben. Es ist zielführender, mehr Geld in frühzeitige Präventionsmaßnahmen zu investieren und mehr Geld für gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler auszugeben.
(http://bildungsklick.de/ 4.5.09)
Erfahrungen an integrativen Schulen
Es gibt in integrationsfreundlichen Bundesländern wie Hamburg, Bremen oder Schleswig-Holstein schon viele Grundschulen mit Integrationsklassen bzw. solche, die sich im Kollegium für gemeinsamen Unterricht entschieden haben. Es gibt aber auch Integrierte Gesamtschulen, die bereit sind, die integrative Arbeit der Grundschule fortzuführen. Ergänzend zu dem oben referierten Forschungsbericht von Ulf Preuss-Lausitz zum gemeinsamen Unterricht sollen einige Protagonisten von Integrationsschulen zu Wort kommen, die einschlägige Erfahrungen mit diesem Unterricht haben machen können.
„Integration ist bei uns Normalität“
Die Süd-West-Grundschule in Eschborn, einer Gemeinde mit einem großen Gewerbegebiet im Einzugsbereich von Frankfurt, steht in einem Stadtteil „mit 24 Nationen und einem im Main-Taunus-Kontext relativ schwierigen sozialen Gefüge“, wie der Schulleiter, Hajo Rother-Dey, in einem Interview berichtet (Frankfurter Rundschau, 23.11.06, S.36). Innere Differenzierung sei schon deshalb ein Anliegen der Schule gewesen und „gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung“ „dann nur noch ein kleiner weiterer Differenzierungsschritt“.
Auf die Frage nach positiven und negativen Erfahrungen erinnert sich der Schulleiter an zwei Kinder mit geistiger Behinderung, die auf Wunsch der Eltern in ein Heim kamen. Da sei bei ihm schon das Gefühl aufgekommen: „Wir haben es nicht geschafft.“ Glücklich mache es ihn hingegen, wenn er erlebe, wie ein Mädchen mit Down-Syndrom „freundlich und fröhlich durch die Schule läuft und bei ihm reinschaue mit: „Na, Rother-Dey, wie geht’s?“ Und wenn er dann noch von der Mutter erfahre, wie gut das Kind sich in der Schule aufgehoben fühle. Schwer werde es allerdings für diese Kinder, „wenn sie nach vier Jahren in eine Schule für praktisch Bildbare wechseln müssen“.
Nach seinen Wünschen für die Zukunft gefragt, antwortet der Schulleiter: Ein Wunsch sei die Zuweisung von Förderschullehrer/innen, ohne dass er „dafür Kindern den Stempel des sonderpädagogischen Förderbedarfs aufdrücken“ müsse.
„Integration als Normalität“
Die Didaktische Koordinatorin an der Gesamtschule Hamm/Sieg, Gabriele Lindemer, beschreibt die Stationen ihrer Schule hin zu einer „Schwerpunktschule“ für gemeinsames Lernen: die personelle Ausstattung der Schule, die Probleme für einen individualisierenden Unterricht, die auch an einer Integrierten Gesamtschule bestehen, solange sie gezwungen ist, ab Klasse 7 das dreigliedrige System abzubilden. Gelernt werden musste ein „entspanntes Verhältnis zur Leistungsbewertung“. Dafür hätten Hospitationen an der „Stammförderschule“ gezeigt, „dass es in erster Linie um die Individualnorm des Lernfortschritts geht“, dass Noten erst Gewicht bekommen, „wenn Abschlüsse anstehen“. (Lindemer 2006, S.36 f.)
Bei allen Problemen in dieser Entwicklung zur Integrationsschule überwiegen für Gabriele Lindemer die positiven Erfahrungen. Für die meisten im Kollegium sei Integration inzwischen selbstverständlich geworden: „Wir sehen, wie sie gelingt, arbeiten an den Schwachpunkten und versuchen, uns weiter zu entwickeln.“
Das ist die Grundidee von Schwerpunktschule – eine Schule für alle, nicht die Integration von Kindern, die anders sind, sondern Inklusion. Weiter gedacht bedeutet diese Idee die Aufhebung von äußerer Leistungsdifferenzierung zu Gunsten eines individualisierenden Unterrichts, der ohne Ziffernnoten auskommt. Und zu Ende gedacht negiert sie das gegliederte Schulsystem. (S.39)
„Auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule“
Ein Ergebnis der Koalitionsverhandlung 2006 zwischen SPD und Linkspartei in Berlin war die Einführung einer „Pilotphase Gemeinschaftsschule“, die von 2008/09 bis 2012/13 gehen soll und die alle Jahrgänge vom 1.Schuljahr bis zum Ende der Sekundarstufe II umfassen soll. Die Gemeinschaftsschule ist eine Ganztagsschule und sie ist offen für alle Kinder, auch für die mit sonderpädagogischem Förderbedarf. (Merkelbach 2008, S.9-13)
Unter den Schulen, die auf Grund ihres Bewerbungsantrags die Genehmigung erhielten, an der Pilotphase teilzunehmen, ist auch die Moses-Mendelsohn-Gesamtschule im Bezirk Berlin Mitte. Es ist eine Schule, in die nach der Grundschule vor allem Kinder mit einer Hauptschuleempfehlung gehen, in der 80 Prozent aller Schüler/innen türkischer, kurdischer oder arabischer Herkunft sind und überwiegend aus bildungsfernen Familien kommen.
Sabeth Schmidthals und Alain Sarlak, die an der Schule arbeiten, berichten, warum diese Gesamtschule sich entschlossen hat, an der Pilotphase Gemeinschaftsschule teilzunehmen. Die Schule habe bislang bereits eine entschieden integrative Pädagogik praktiziert, mit einem seit 1993/94 entwickelten Konzept für Schüler/innen mit besonderem Förderbedarf, auch für solche mit „Schwerstmehrfachbehinderungen“. Es ist nun der Wunsch des Kollegiums, mit der benachbarten James-Krüss-Grundschule zusammenzuarbeiten und die Schüler/innen, die nicht mit dem Ende der Pflichtschulzeit die Schule verlassen, in einer eigenen Oberstufe zur Hochschulreife zu führen.
„Verschiedenheit anerkennen, Gemeinschaft kultivieren“
In dem Filmprojekt von Reinhard Kahl „Treibhäuser der Zukunft“ (Kahl 2005) findet sich auch eine Episode über die Montessori-Gesamtschule in Potsdam, mit eindrucksvollen Bildern vom gemeinsamen Leben und Lernen. Im Textbuch zum Film erklärt Ulrike Kegler, die Leiterin der Schule, warum die Montessori-Gesamtschule sich auch für Kinder mit Behinderungen geöffnet hat:
Wir brauchen Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Weise gehandicapt sind, weil wir mit ihnen zusammen sehr viel lernen können. Die bringen in jede Gruppe die Notwendigkeit zu sehen, dass jeder Mensch wirklich anders ist und unterschiedliche Bedürfnisse hat. Sie machen es sozusagen ganz besonders deutlich.
Wir haben hier einige Schülerinnen und Schüler erlebt, die sozial sehr unterentwickelt waren, die in der Sekundarstufe hierher gekommen sind und die sich an ihren Mitschülern, die beispielsweise im Rollstuhl saßen oder geistig behindert waren, entwickelt haben. Da gab es richtige Prozesse zu beobachten, von Gemeinheiten, beispielsweise den Stecker aus der Wand rausziehen, damit ein Schüler nicht mehr an seinem notwendigen Computer arbeiten kann und nicht weiß, warum das denn nicht mehr geht, bis hin dazu, dass sie auf Klassenfahrt den Rollstuhl 3 Stunden durch den Sand geschoben haben. Diese Entwicklung haben wir hier erlebt. Wir haben einen Schüler, der nicht sprechen kann und dem auch immer die Spucke aus dem Mund läuft, was für seine Mitschüler oft eine Schwierigkeit ist. In der Klasse haben sich drei oder vier Jugendliche zu wunderbaren Helfern entwickelt.
(Kahl 2005, S.61)
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Die UN-Konvention für das Recht behinderter Menschen ist wohl mehr noch als die massive Kritik nationaler und internationaler Vergleichsstudien an der mangelnden Leistungsfähigkeit der deutschen Schule und ihrer sozialen Aussonderung eine Herausforderung von Politik, Wissenschaft und all denen, die in Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen arbeiten. Sie fordert nichts weniger als den Verzicht auf jede Form von Aussonderung und Separierung von Kindern und Jugendlichen mit Lernproblemen und Behinderungen.
Diese Zielperspektive kann in der augenblicklichen Situation nur dort ernsthaft angestrebt werden, wo Grundschulen zum gemeinsamen Unterricht bereit sind und von Anfang an auf die Überweisung in Sonderschulen verzichten; wo Integrierte Gesamtschulen bzw. Gemeinschaftsschulen die integrative Arbeit der Grundschule bis zum Ende der Pflichtschulzeit fortsetzen.
Entscheidend war und ist, dass diese Schulen der Sekundarstufe I gegen die Logik des Systems auf eine strikte defizitorientierte Leistungsmessung, mit Nichtversetzung und Abschulung, verzichten. Es sind dies Schulen, die von ihrem Anspruch her und gegen alle politischen Restriktionen das gegliederte, aussondernde System nicht ergänzen, sondern ersetzen wollen.
Wo solche integrativen Schulen der Sekundarstufe I zugunsten einer Zweitschule unterhalb des Gymnasiums verschwinden, wie in einigen Bundesländern geplant (Merkelbach 2009, S.2 ff.), wird die Umsetzung der UN-Konvention gar nicht möglich sein. Sollen diese Zweitschulen, in denen Haupt-, Real- und Gesamtschulen fusionieren, auch noch für die Integration der Sonderschule zuständig sein und eine eingeschränkte Inklusion anstreben, während das Gymnasium weiterhin und künftig wohl in verstärktem Maße die Leistungsstarken unterrichtet?
Wenn es die Integrierte Gesamtschule bzw. das, was neuerdings Gemeinschaftsschule heißt, nicht gäbe als eine für alle Kinder offene Schule, man müsste sie jetzt, nach der Ratifizierung der UN-Konvention, erfinden. Nur mit ihr, im Verbund mit der Grundschule und den vorschulischen Bildungseinrichtungen, können sich inklusive Modelle entwickeln, die dem aussondernden deutschen Schulsystem und seinen hartnäckigen Verfechtern zeigen, dass inklusive Bildung mehr ist als eine schöne Illusion, dass sie auch bei uns, wie in vielen anderen Ländern schon, ein zwar schwieriges, aber unter bestimmten personellen und materiellen Bedingungen mögliches Projekt ist.
Längerfristig kann Inklusion allerdings nur gelingen, wenn auch das Gymnasium der Sekundarstufe I in eine grundlegende Reform der deutschen Schule einbezogen wird und dafür eine Mehrheit in der Gesellschaft gewonnen werden kann. Das meinen wohl auch die Initiativen und Organisationen, die in ihren Positionspapieren fordern, dass auf dem Weg zur inklusiven Bildung die Schulstrukturfrage kein Tabu mehr sein darf.
Literatur
Kahl, Reinhard: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen. Archiv der Zukunft 2004, 2.Aufl. 2005.
Lind, Georg: Die wirklichen Ergebnisse von PISA-2006. PISA-Erfolge auf dem Rücken von Kindern: die Sonderschulquote. 7.12.2008. In: www.forum-kritische-paedagogik.de/ Dezember 2008.
Lindemer, Gabriele: Schwerpunktschule – Integration als Normalität. Stationen einer Schulentwicklung. In: Pädagogik 4/06, S.36-39.
Merkelbach, Valentin: Gesamtschule oder Gemeinschaftsschule? Zur Perspektive zweier Reformmodelle nach PISA 2006. Dezember 2008 (http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/)
Merkelbach, Valentin: Chancen einer Schule für alle in der aktuellen Auseinandersetzung. März 2009 (http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/).
Podlesch, Wolfgang: Miteinander und voneinander lernen: Gilt das auch für Kinder mit geistiger Behinderung und mit schwerer Mehrfachbehinderung? In: Peter Heyer/ Ulf Preuss-Lausitz/ Lothar Sack (Hrsg.). Länger gemeinsam lernen. Die Blaue Reihe 55/2003 (Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule), S.230-236.
Preuss-Lausitz, Ulf: Forschungergebnisse zur Heterogenitätserfahrung aus der gemeinsamen Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Schüler. In: Peter Heyer/ Ulf Preuss-Lausitz/ Lothar Sack (Hrsg.): Länger gemeinsam lernen. Die Blaue Reihe 55/2003 (Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule), S. 75-81.
Schmidthals, Sabeth/ Sarlak, Alain: Auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule. Neue Lernformen für einen gemeinsamen Bildungsgang entwickeln. In: Pädagogik 9/08, S.38-41.
Schumann, Brigitte: „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“. Bad Heilbrunn 2007.
Schumann, Brigitte: Inklusion statt Integration – Verpflichtung zum Systemwechsel. Deutsche Schulverhältnisse auf dem Prüfstand des Völkerrechts. In: Pädagogik 2/09, S.51-53.
Wocken, Hans: Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachen. (Forschungsbericht). Potsdam, Juni 2005.(http://bidok.uibk.ac.at/download/wocken-forschungsbericht.pdf)