Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Schulstreit in Niedersachsen

April 2011

Der Amtsantritt der CDU/FDP-Regierung in Niedersachsen im Jahre 2003 war verbunden mit dem klaren Bekenntnis zum dreigliedrigen Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium und einer Kampfansage an die bestehenden Gesamtschulen im Lande. Sie sollten fortan nur noch als Auslaufmodell geduldet und Neugründungen nicht mehr genehmig werden.

 

Kampf gegen die Gesamtschule

 

Wie ernst diese Ankündigungen gemeint waren, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 2006. Da wurde von der Robert-Bosch-Stiftung und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung ein Projekt „Reformzeit“ aus der Taufe gehoben. Es ging dabei um die Integration lernschwacher Kinder und gesucht wurden Schulen in Brandenburg, Berlin und Niedersachsen, die sich bei der Förderung und Integration lernschwacher Kinder bereits profiliert hatten. Sie sollten „Partnerschulen“ in ihrem jeweiligen Bundesland helfen und beraten.

 

Auf der Suche nach solchen Beraterschulen wurden die Initiatoren des Projekts fündig bei der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig und der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen-Geismar. Doch diese Auswahl war für das Kultusministerium in Hannover eine ziemliche Provokation. Es erklärte, Niedersachsen könne an dem Projekt nur mitwirken unter der Voraussetzung, „dass die aus Niedersachsen teilnehmenden Schulen die Dreigliedrigkeit des niedersächsischen Schulsystems abbilden“. Als die Projektleitung an ihrer Auswahl festhielt („Uns ist die pädagogische Qualität wichtiger als die Schulform“), stieg Niedersachsen aus dem Projekt aus. (Frankfurter Rundschau, 25.1.2006, S.4)

 

Mit dem Verbot, neue Gesamtschulen zu gründen, wuchs rapide der Bedarf an Gesamtschulplätzen, verstärkt durch die auch in Niedersachsen schwindende Akzeptanz der Hauptschule, sodass die Landesregierung im Wahlkampf 2007 darauf reagieren musste. Der zuständige Minister, Bernd Busemann, stellte für die nächste Legislaturperiode eine Lockerung des Verbots von Gesamtschulneugründungen in Aussicht. Nicht zur Diskussion stehe allerdings, „ganz Niedersachsen zu einem Gesamtschulland zu machen“. (http://bildungsklick.de/ 21.11.2007)

 

Nach der Wahl und der Bestätigung der schwarz-gelben Regierungskoalition wurden 16 weitere Gesamtschulen für das Schuljahr 2009/10 genehmigt, allerdings nicht mehr als „gebundene“ Ganztagsschulen mit verbindlichem Nachmittagsunterricht, sondern als „offene“, die an drei Nachmittagen der Woche freiwillige Angebote machen. Damit werde, so der Landesvorsitzende der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule, Gerd Hildebrandt, „die pädagogische Grundidee ad absurdum geführt“. Das Konzept einer Integrierten Gesamtschule gründe auf einem Schultag, der von 8 bis 15:30 dauere und festen Nachmittagsunterricht einschließe. Anders sei die Förderung der schwächeren Schüler/innen gar nicht möglich. Für das Ministerium handelte es sich dabei um die „Gleichbehandlung“ aller Schulen. (Göttinger Tageblatt, 9.12.2008, S.27)

 

Der nächste Schritt zur „Gleichbehandlung“ erfolgte Anfang 2009 mit der Ankündigung der Landesregierung, auch an Gesamtschulen die Schulzeit auf 12 Jahre zu verkürzen und diese Änderung schon für das Schuljahr 2010/11 ins Schulgesetz zu schreiben.

 

Dagegen und gegen die konfrontative Schulpolitik des Landes insgesamt protestierten am 9.Mai 2009 in Hannover über 10 000 Teilnehmer/innen an einer Demonstration, die von Vertretern von Kommunen, dem Landeselternrat, der organisierten Schülerschaft und der GEW veranstaltet wurde. Der gemeinsame Nenner des Bündnisses, so der GEW-Vorsitzende Eberhard Brandt, bestehe im „Anspruch an die Schulpolitik des Landes, Kommunen, Eltern und Schülerschaft“ nicht zu bevormunden. Sie wollten selbst entscheiden, „ob sie Schulen des gegliederten Schulwesens wünschen oder Gesamtschulen als Alternative“. (http://bildungsklick.de/ 10.5.2009)

 

Auch nach den 16 Gesamtschulneugründungen für das Schuljahr 2009/10 hielt der Run auf diese Schulform in Niedersachsen unvermindert an und im Schuljahr 2010/11 gingen weitere 17 Gesamtschulen an den Start. Dennoch wurde die Kritik lauter, dass die Landesregierung unter Christian Wulff das sechsjährige Gründungsverbot für Gesamtschulen nicht aufgehoben, sondern nur gelockert habe. Die Hürden für die Genehmigung einer Gesamtschule seien nach wie vor hoch. Das Kultusministerium fordere weiterhin mindestens 130 Anmeldungen, also fünfzügige Schulen, durch eine Neugründung dürfe der Betrieb vorhandener Schulen nicht gefährdet werden und gefordert werde eine Bestandsprognose von 14 Jahren.

 

Die massiven Proteste gegen die Schulpolitik des Landes zeigten zuletzt auch bei Christian Wulff Wirkung. Bei einer Kabinettsumbildung im April 2010 beauftragte er nach Bernd Busemann und Elisabeth Heister-Neumann mit Bernd Althusmann den dritten Kultusminister seiner Regierungszeit und bald nach seinem Abgang als Bundespräsident nach Berlin kommt das Göttinger Tageblatt mit der Schlagzeile heraus „CDU denkt über Gesamtschulen nach“. Die Zeitung berichtete von zahlreichen CDU-Politikern, die im Streit um die Mindestgröße für neue Gesamtschulen mehr Kompromissbereitschaft von der Landesregierung unter dem neuen Ministerpräsidenten David McAllister forderten. Statt fünf Klassen sollten künftig nur noch vier die Voraussetzung einer Neugründung sein. (Göttinger Tageblatt, 14.8.2010)

 

Am 19.8.2010 meldete NDR 1, das Niedersächsische Kultusministerium plane die Neugründung von Gesamtschulen zu erleichtern. Das Ministerium reagiere damit auf die zurückgehenden Schülerzahlen und komme auch den Wünschen der kommunalen Spitzenverbänden entgegen. Nach Informationen des Senders solle auch die Regelung im Schulgesetz fallen, dass, wer eine Gesamtschule gründen will, die Schulen des gegliederten Systems vorhalten muss. (http://bildungsklick.de/ 19.8.2010)

 

Oberschule statt Gesamtschule?

 

Am 25.10.2010 berichtet die Neue Osnabrücker Zeitung, dass die Würfel in der Schulstrukturfrage gefallen seien. Der dramatische Schülerrückgang, der vor allem die Hauptschule treffen wird, soll dazu führen, dass neben dem Gymnasium Haupt- und Realschule zu einer zweiten Säule verschmelzen. Begrenzt sollen auch weitere Gesamtschulen genehmigt werden. Der neue Freiraum der Kommunen als Schulträger bei der Gestaltung des Schulwesens vor Ort könne zum Beispiel bedeuten, dass die neue Oberschule eine eigene Oberstufe erhält und nach 12 oder 13 Schuljahren auch zum Abitur führt. Das hat nun auch dem Verband Niedersächsischer Lehrkräfte im Verband Deutscher Realschulen gefallen, der zuvor eine bloße Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen als nicht zukunftsfähig strikt ablehnte. (http://bildungsklick.de/ 25.10.2010)

 

In einer Presseerklärung teilt der Minister am 26.10. 2010 mit, dass die neue Schule Oberschule heißen wird, mit zwei Angebotsprofilen: „Ohne gymnasiales Angebot kann die neue Schule mindestens zweizügig, mit gymnasialem Angebot mindestens dreizügig geführt werden....Die Oberschule kann damit anstelle organisatorisch zusammengefasster Haupt- und Realschulen, sowie Kooperativer Gesamtschulen geführt werden. Die Schulträger sind berechtigt, aber nicht verpflichtet, eine Umwandlung vorzunehmen.“ (Niedersächsisches Kultusministerium, Presse: 26.10.2010, Nur 54)

 

In der Presskonferenz zur Schulstruktur machte der Minister zwei Ergänzungen zur schriftlichen Pressemitteilung:

 

Die Oberschule mit gymnasialem Angebot kann bei ausreichenden Schülerzahlen ein gymnasiale Oberstufe führen.

Gesamtschulen werden als Integrierte Gesamtschulen fünfzügig geführt. Schulträger können diese ausnahmsweise auch vierzügig führen.

(Pressekonferenz zur Schulstruktur am 26.10.2010 um 16:30)

 

Gegen diese Ankündigungen des Ministers gab es Widerstand in den Regierungsfraktionen, vor allem bei der FDP, berichtet das Göttinger Tageblatt am 27.10.2010 und der Philologenverband warf dem Kultusminister vor, vor der „Gesamtschullobby“ kapituliert zu haben.(Göttinger Tageblatt, 29.10.2010) In einer Regierungserklärung am 9.11.2010 stellte der Minister dann auch fest, dass die Senkung der Hürden für die Neueinrichtung von Gesamtschulen „mit Blick auf die langfristige Entwicklung in Niedersachsen nicht zwingend notwendig“ sei. Nur die „14-Jahre Prognose für die Schülerzahlen“ könne auf 10 Jahre reduziert werden.

 

Zur weiteren Beruhigung des Philologenverbandes versicherte der Minister, nur das Gymnasium erhalte „eine gesetzlich verbriefte Bestandsgarantie“ und nach wie vor sei die Neugründung eines Gymnasiums auch schon zweizügig in der Sekundarstufe I und dreizügig in der Sekundarstufe II möglich. Unter dieser Bedingung seien von 2003 bis 2011 immerhin 21 neue Gymnasien genehmigt worden. Im Übrigen soll sichergestellt werden, „dass ein gymnasiales Angebot an einer Oberschule nur unter Sicherung des bestehenden Gymnasiums eingerichtet“ werde; denn einen „Schülerklau“ dürfe es nicht geben.

(http://bildungsklick.de/ 9.11.2010)

 

Zur Ankündigung des Ministers vom 26.10.2010, die Oberschule könne bei ausreichender Schülerzahl eine gymnasiale Oberstufe führen, erklärte der Minister am 1.3.2011, wenige Tage vor der Verabschiedung des neuen Schulgesetzes: Die Oberschule führt nach 10 Schuljahren zum Mittleren Abschluss. Danach können Schüler/innen, die nicht die allgemeinbildende Schule verlassen, an den vorhandenen G8-Gymnasien weiter machen oder an Beruflichen Gymnasien nach 13 Schuljahren die Hochschulreife erlangen; denn eine Oberstufe mit mindestens drei Zügen an einer Oberschule wäre „nur in den wenigsten Fällen außerhalb der bestehenden Gymnasien umsetzbar“; Ziel sei es von Anfang an gewesen, „bestehende Gymnasien nicht zu gefährden“. (http://bildungsklick.de/ 9.11.2010)

 

Zweigliedrigkeit - ein Kompromiss?

 

Am 26.2.2011 resümiert das Göttinger Tageblatt die Auseinandersetzung in der Regierungskoalition unter der Überschrift „Koalition bremst Althusmann aus“ und stellt fest, dass der Minister, der mit dem neuen Ministerpräsidenten „das Ziel eines partei- und verbandsübergreifenden Konsenses in der Schulpolitik verkündete“, „eine empfindliche Schlappe“ habe einstecken müssen. Der Minister habe sich auf die Forderung von GEW, Landeselternrat und den Kommunalverbänden, die Gründung von Gesamtschulen zu erleichtern, eingelassen, starke Kräfte in CDU und FDP sähen jedoch die neue Oberschule durch eine erleichterte Zulassung neuer Gesamtschulen in Gefahr. (Göttinger Tageblatt, 26.2.2011, S.24)

 

Dieses Argument hat wohl auch der Kultusminister akzeptieren müssen. Denn die nach der Aufhebung des Gründungsverbots auch unter den erschwerten Gründungsbedingungen boomende Gesamtschule hat, zusammen mit rückläufigen Schülerzahlen, die bislang so hartnäckig verteidigte Hauptschule in eine ausweglose Lage gebraucht. Dasselbe befürchtet jetzt allerdings der Verband Deutscher Realschullehrer auch für die arg gerupfte Oberschule des Ministers. In einer Pressemeldung des Verbandes unmittelbar nach Verabschiedung des neuen Schulgesetzes heißt es:

 

Die jetzt festgezurrte Zusammenlegung von Haupt- und Realschule unter einem neuen Namen und dem Feigenblättchen „gymnasiales Angebot“ wird von den Eltern nicht akzeptiert werden. Solange die Abituroption für „nichtgymnasiale“ Grundschüler fehlt, ist jede Reform zum Scheitern verurteilt. (http://bildungsklick.de/ 15.3.2011)

 

Wenn der Kultusminister versucht, die Attraktivität der neuen Schule zu verbessern mit einer Klassenobergrenze von 28 (Gesamtschule 30, Gymnasium 32), mit Ganztagsbetreuung, zusätzlichen Sozialpädagogen und einer verstärkten Berufsorientierung, - es sind letztlich ähnliche Maßnahmen, die man bislang der Hauptschule hat angedeihen lassen und die bei den Eltern nicht gefruchtet haben. Die Oberschule ist im Kern eine Realschule, die, wie die Gesamtschule immer schon, jetzt auch Kinder aufnehmen muss, die für die Hauptschule empfohlen werden, und sie muss spätestens nach Klasse 8 abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bilden. Wie soll diese Schule in Konkurrenz treten können mit der Gesamtschule, die, wie das Gymnasium, auf einem direkten Weg zum Abitur führt?

 

Wenn Bernd Althusmann trotzdem die Prognose wagt, dass es in absehbarer Zeit auch in Niedersachsen ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasium und Oberschule geben wird, so scheint mir eine andere Prognose näherliegend: Spätestens nach der nächsten Landtagswahl wird erneut ein „partei- und verbandsübergreifender“ Kompromiss in der Schulpolitik gesucht werden, der dann nicht, wie im neuen Schulgesetz, nur das Gymnasium und den Philologenverband zufrieden stellen darf. Ein solcher Kompromiss wird, wie sich die Interessenlage in der gegenwärtigen Auseinandersetzung darstellt, neben dem Gymnasium zu einer Schule führen, die, auf der Basis eines Sozial- und Leistungsindex bedarfsgerecht ausgestattet, alle Abschlüsse bis zum Abitur anbietet. Ob diese Schule dann Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Oberschule oder auch noch ganz anders heißen wird, dürfte für die Hauptbetroffenen, die Kinder und Jugendlichen und deren Eltern, von ganz und gar untergeordneter Bedeutung sein.

 

Dass ein solcher Kompromiss, der inzwischen in den vier Bundesländern Hamburg, Berlin, Bremen und dem Saarland bereits gesetzlich verankert und zu einem starken Trend geworden ist, auch die beiden in Niedersachsen aktuell so zerstrittenen schulpolitischen Lager befrieden kann, zeigt auch eine Erklärung zur Tagung der Bundesdirektorenkonferenz, die mehr als 2200 Gymnasien in Deutschland vertritt. Die zentrale Forderung in der Erklärung lautet: Es soll neben dem achtjährigen Gymnasium „ein gleichwertiger, einheitlicher Bildungsweg“ in allen Bundesländern geschaffen werden, „der differenzierte Schulabschlüsse bis hin zum Hochschulzugang nach neun Jahren ermöglicht“. (http://bildungsklick.de/ 21.3.2011)

 

Mit seinen erfolgreichen, beim Deutschen Schulpreis stark vertretenen Gesamtschulen hat Niedersachsen gute Voraussetzungen, einen solchen „gleichwertigen“ Bildungsgang, auf Augenhöhe und im pädagogischen Wettbewerb mit dem Gymnasium, zu schaffen.

 

Quelle: http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba

 

 

 

 

 

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Letzte Aktualisierung: 01.04.2011