Schulkampf oder Chancen für einen Konsens in Nordrhein-Westfalen?
Oktober 2010
Im Koalitionsvertrag von Rot-Grün heißt es am Ende einer Präambel zur „Schule der Zukunft“: „Die Diskussion darüber, wie das Schulsystem ausgestaltet werden soll, ist in Nordrhein-Westfalen sehr kontrovers und polarisiert geführt worden. Wir wollen versuchen, mit allen Fraktionen und allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren einen Konsens in der Schulpolitik zu erzielen.“ (Koalitionsvertrag zwischen der NRWSPD und Bündnis 90/Die Grünen NRW, Juli 2010, S.7) Wie stehen die Chancen für einen solchen Konsens?
Die Schulstrukturpläne von SPD und Grünen vor der Wahl
Die SPD hat am 25.August 2007 eine Schule beschlossen, die Gemeinschaftsschule heißen soll, mit folgenden Eckpunkten:
- Die Gemeinschaftsschule nimmt die Kinder nach der Grundschule auf und ist bis zur zehnten Klasse für deren Bildungserfolg verantwortlich.
- Am Ende der Klasse 10 können alle Bildungsabschlüsse der Sekundarstufe I erreicht werden.
- In den Klassen 5 und 6 findet für alle Kinder ein gemeinsamer Unterricht statt.
- Ab Klasse 7 oder später wird nach gemeinsamer Entscheidung der Schule, des Schulträgers und der Eltern entweder ein vollständig integrierter Unterricht weitergeführt oder eine Differenzierung in Hauptschul-, Realschul- oder Gymnasialklassen vorgenommen.
- In der Gemeinschaftsschule wird es kein Abschulen mehr geben und Klassenwiederholungen sollen unnötig werden.
- Für ein wohnortnahes Bildungsangebot, auch angesichts rückläufiger Schülerzahlen, sollen in der Sekundarstufe I auch kleinere Jahrgangsbreiten möglich sein und durch „Verknüpfung“ oder „Kooperation“ mehrerer Oberstufen starke Jahrgangsbreiten für ein differenziertes Kursangebot gewährleistet werden.
- Statt der Schulzeitverkürzung in der Sekundarstufe I kann die Oberstufe zwei oder drei Jahre dauern.
- Gesamtschulen werden als Gemeinschaftsschulen in der integrierten Form weitergeführt.
- Die Gemeinschaftsschule soll, der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen entsprechend, eine inklusive Schule werden. (www.nrwspd.de/bildungsparteitag 2 007, S.10-13)
Bei der Einführung der Gemeinschaftsschule setzt die SPD „auf pragmatische, orts- und stadtteilgenaue Lösungen“. Schulen, Schulträger und Eltern müssen „gemeinsam die Entscheidung über die innere Organisation der einzelnen Gemeinschaftsschule treffen können“. (S.13)
Die Grünen beschließen am 26.Januar 2009 „eine Schule für alle Kinder“ und schließen auch Kinder mit Behinderung im Sinne der UN-Konvention mit ein. Auch für die Grünen kann eine solche Schule „nur von unten und mit einer größâ„¢öglichen Einbindung der Beteiligten vor Ort wachsen“. Die Initiative müsse von den Kommunen ausgehen, von denen viele ohne „ein Aufbrechen des starren gegliederten Schulsystems“ „vor der Schließung ihrer letzten weiterführenden Schule“ stünden. Nur so könne „NRW die Schule im Dorf lassen und gewährleisten, dass vor Ort ein vollständiges wohnortnahes Schulangebot mit allen Bildungsabschlüssen erhalten bleibt“.
Wie die Grundschulen sind die Gesamtschulen für die Grünen „Vorreiter bei der Umsetzung und Erprobung von Unterrichtsformen, die integratives Unterrichten und eine gezielte Leistungsförderung von Kindern mit unterschiedlichen Begabungen ermöglichen“. Darum dürften, wie unter Schwarz-Gelb, „der Neugründung von Gesamtschulen keine weiteren Steine in den Weg gelegt und müsste eine Situation beendet werden, in der in den vergangenen Jahren fast ein Drittel aller an Gesamtschulen angemeldeten Kinder dort keinen Platz fanden.
Die Schulzeitverkürzung in der Sekundarstufe I lehnen auch die Grünen ab, wobei der zwölfjährige Weg zum Abitur durchaus der Regelfall sein könne. Es müsse aber weiterhin möglich sein, auch nach 13 Schuljahren das Abitur zu machen.
Die Grünen wollen Schulen, die integrativ und förderorientiert arbeiten, unterstützen und besonders ausstatten. Das können Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, Verbundschulen oder auch Gymnasien sein. Sie wollen es den Schulträgern, im Einvernehmen mit den Schulen und den Eltern, überlassen, eine solche für alle Kinder offene, inklusive Schule einzurichten. („Bildungsoffensive NRW: Ein starkes Land braucht alle Talente“. Beschluss des Landesvorstandes der Grünen am 26.1.2009)
Neben den Übereinstimmungen der Schulstrukturpläne von SPD und Grünen vor der Wahl gibt es eine gravierende Differenz. Während die Grünen „integrativ und förderorientiert“ arbeitende Schulen unabhängig von der Schulform unterstützen wollen, will die SPD alle Schulen, auch die Gymnasien, zu Gemeinschaftsschulen machen und Schule, Schulträger und Eltern erst nach gemeinsamem Unterricht im 5. und 6.Schuljahr entscheiden lassen, ob es danach integriert oder nach Bildungsgängen getrennt weitergehen soll. Das bedeutet, dass, ähnlich wie in den Modellen der Förder- oder Orientierungsstufe, in den beiden Schuljahren die Lehrer/innen darauf hinarbeiten müssen, die Kinder wieder den drei Bildungsgängen Hauptschule, Realschule und Gymnasium begründet und verbindlich zuweisen zu können.
(V. Merkelbach: Die Schulstrukturpläne der Parteien im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf: http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Februar 2010)
Der Schulplan der rot-grünen Minderheitsregierung
Trotz einer landesweiten Kampagne der CDU gegen den SPD-Plan („SPD plant Abschaffung des Gymnasium“; „SPD-Einheitsschule führt ins Chaos“) hat Schwarz-Gelb die Wahl deutlich verloren, Rot-Grün zwar gewonnen, aber durch den Einzug der Linkspartei in den Landtag die absolute Mehrheit knapp verfehlt. Unter dieser Prämisse ist der Koalitionsvertrag und darin der schulpolitische Teil der rot-grünen Minderheitsregierung formuliert worden. Die Frage ist, wie das eher offene Konzept der Grünen mit dem in einem entscheidenden Punkt divergierenden Plan der SPD zu einem Koalitionskompromiss zusammengebracht werden konnte.
Im Kapitel „Bildung“ steht vor den zentralen Aussagen des gemeinsamen Schulplans ein Satz, der den eingeschränkten Spielraum der Minderheitsregierung signalisiert, die sich bei wichtigen Entscheidungen um Mehrheiten im Parlament bemühen muss: „Wir werden die im bestehenden Schulgesetz verankerte Möglichkeit, besondere Schulmodelle zu genehmigen, nutzen, um Gemeinschaftsschulkonzepte und innovative schulische Vorhaben, die das längere gemeinsame Lernen zum Ziel haben, ohne Verzögerung auf den Weg zu bringen.“ (Koalitionsvertrag, S.7)
Die strukturellen Eckpunkte des Plans, die sich ohne Gesetzesänderungen beschließen und umsetzen lassen, sind etwa folgende:
- „Die Aufgabe des gemeinsamen Lernens stellt sich allen Schulen. Jede Schule muss alle einmal aufgenommenen Schülerinnen und Schüler zu einem Abschluss führen. Ein Wechsel der Schulform ist nur noch auf Antrag der Eltern möglich.“ (S.8 f.)
- Rot-Grün wird „die zahlreichen Initiativen zur Gründung von Gesamtschulen unterstützen und den in den letzten fünf Jahren neugegründeten Gesamtschulen den Ganztag und den Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen schnellstmöglich genehmigen.“ (S.9)
- Um dem Elternwillen wieder Vorrang zu geben, wird die neue Regierung „die Verbindlichkeit der Grundschulgutachten aufheben und den Prognoseunterricht abschaffen“. „Zukünftig sollen die Eltern beraten werden und dann selber entscheiden, welche Schule ihr Kind besuchen soll.“ (S.8)
- Um der UN-Konvention über das Recht behinderter Menschen Rechnung zu tragen, soll in einem ersten Schritt ein „Inklusionsplan“ entwickelt werden, „der den Eltern das Wahlrecht über den Förderort ihres Kindes ermöglicht und weitere Schritte und Maßnahmen beschreibt, die in den nächsten Jahren notwendig sind, um ein inklusives Bildungssystem zu schaffen“. (S.8)
Der heikelste Punkt in den Koalitionsvereinbarungen war wohl die Frage, wie mit dem im Wahlkampf von den Grünen als eher „zentralistischen“ SPD-Konzept der Gemeinschaftsschule umgegangen werden soll. Die Gemeinschaftsschule, die nach dem bestehenden Schulgesetz nur als „besonderes Schulmodell“ genehmigungsfähig ist, will die Koalition bei Gelegenheit , d.h. bei einer gesicherten Mehrheit im Landtag, auch „schulgesetzlich verankern“. In der Regel werde diese neue Schule dort gegründet, wo bestehende Schulen in ihr zusammengeführt werden. Dazu seien alle Schulformen „ausdrücklich eingeladen“. Nach dieser Vorbemerkung folgt das Konzept der Gemeinschaftsschule, wie es die SPD für alle Schulen der Sekundarstufe I vorsah, jetzt aber nur für „zusammengeführte Schulen“, also Schulverbünde, gelten soll:
Die Gemeinschaftsschule ist eine Ganztagsschule, die gymnasiale Standards mit einschließt. In den Klassen 5 und 6 findet für alle Schülerinnen und Schüler gemeinsamer Unterricht statt. Schule, Schulträger und Eltern entscheiden darüber, wie es ab Klasse 7 oder später weitergeht: Entweder werden integrierte Lernkonzepte weitergeführt oder es wird nach Bildungsgängen differenziert. Am Ende der Klasse 10 können alle Schulabschlüsse der Sekundarstufe I erreicht werden. Jede Gemeinschaftsschule ist mit einer SEK II verbunden. Das kann eine gymnasiale Oberstufe am Standort sein, ein Oberstufenzentrum oder eine Kooperation mit Gesamtschule, Gymnasium oder Berufskolleg. (S.9)
Am 17.9.2010 billigte die neue Regierung die von der Kultusministerin vorgelegten Eckpunkte zur Gründung von Gemeinschaftsschulen durch den Schulträger. Aus diesen erläuternden Vorgaben zum Text des Koalitionsvertrags geht hervor:
- Eine Gemeinschaftsschule kann auch mit einer Grundschule verbunden sein.
- Sie wird in der Regel als gebundene Ganztagsschule geführt.
- Wünschenswert sind vier Parallelklassen pro Jahrgang, erforderlich mindestens drei.
- Bei Errichtung einer Gemeinschaftsschule ist eine Mindestklassengröße von 23 Schüler/innen vorgesehen. Der Höchstwert beträgt für die integrative Form 25 und für die kooperative Form 29 Schüler/innen ab Klasse 7. (http://bildungsklick.de/ 20.9.2010)
Dass die Grünen, die schon vor der Wahl, stärker als die SPD, die Verdienste und Erfolge der Gesamtschulen in NRW anerkannten, keine große Mühe hatten, mit der alten, aber immer noch eher verzagten Gesamtschul-Partei SPD die Weiterexistenz der Integrierten Gesamtschulen zu sichern und Neugründungen zu erleichtern, davon ist auszugehen.
Das Gymnasium kommt als weiterhin eigenständige Schulform im rot-grünen Koalitionsvertrag an drei Stellen vor. Einmal werden alle Schulformen, also auch das Gymnasium, „ausdrücklich eingeladen“, sich mit anderen Schulen zu einer Gemeinschaftsschule zusammenzuschließen. Eine weitere Erwähnung betrifft das Problem der Schulzeitverkürzung in der Sekundarstufe I. Die Koalition will den Gymnasien ermöglichen, „in Absprache mit den Eltern, Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie den Schulträgern, sich bis zum Beginn des Anmeldetermins für das Schuljahr 2011/12 zu entscheiden, ob sie das Abitur zukünftig nach 12 oder 13 Jahren anbieten wollen“. (S.10)
Die erste Erwähnung des Gymnasiums ist die bei Weitem folgenreichste. Sie besagt, wie oben zitiert, dass gemeinsames Lernen sich allen Schulen als Aufgabe stellt, also auch den Gymnasien, die nicht mehr Kinder oder Jugendliche mit Lernproblemen an eine andere Schulform abgeben können, es sei denn, Eltern wollen es.
Rückmeldungen
Die Opposition im Landtag
Für die CDU, die so unerwartet schmerzlich in die Opposition geraten ist, stand fest, dass Rot-Grün bestehende Gymnasien und Realschulen durch Gemeinschaftsschulen ersetzen will. Die neue Kultusministerin tarne ihren Weg zur Gemeinschaftsschule als „sanfte Tour“. In Wahrheit werde die Gemeinschaftsschule „mit der goldenen Brechstange“ durchgesetzt. „Wenn Löhrmann und Kraft ihre Pläne so wie angekündigt“ umsetzten, sei „das Hamburger Votum nur ein laues Lüftchen“ gewesen „gegen das, was in NRW losbrechen“ werde. (www.cdu-nrw.de/presse/ 19.7.2010)
Am 17.10.2010, drei Monate nach dieser Kampfansage, meldet dpa: „CDU löst sich von der Hauptschule“. Der schulpolitische Sprecher der Fraktion, Thomas Sternberg, räumte Fehler der Regierung Rüttgers ein. Die CDU habe den demografischen Problemen, vor allem der ländlichen Gemeinden, zu wenig Rechnung getragen. Die von Schwarz-Gelb 2006 ins Schulgesetz aufgenommene Möglichkeit von „Verbundschulen“ aus Haupt- und Realschulen sei „zu restriktiv“ genehmigt worden.
Der Fraktionsvorsitzende, Karl-Josef Laumann, stellte auf einem Bezirksparteitag fest, die CDU könne nicht auf dem dreigliedrigen Schulsystem bestehen, wenn immer weniger Schüler/innen an den Hauptschulen angemeldet würden. Laumann kann sich inzwischen ein Schulsystem „mit zwei tragenden Säulen“ vorstellen: Realschule und Gymnasium. Um diese Kerne herum könne es aber weiterhin gut funktionierende Haupt- und Gesamtschulen geben. (http://bildungsklick.de/ 17.10.2010)
Was Andreas Pinkwart, FDP-Landesvorsitzender und Wissenschaftsminister unter Schwarz-Gelb, besonders stört am Schulplan von Rot-Grün, ist, dass jede Schule künftig sicherzustellen habe, „dass sie die Schüler, die sie aufnehmen muss, auch zum Abschluss führt“. Das sei „das Ende des Gymnasiums“ und werde von der FDP abgelehnt: „Wir wollen nicht, dass die Gymnasien mit ihrer fachwissenschaftlichen Orientierung in den Gemeinschaftsschulen aufgehen. Damit würden wir eine enorme Stärke unseres Bildungssystems ohne Not aufgeben.“ (ZEIT, 29.7.2010, S.65)
Was das Konzept der Gemeinschaftsschule von Rot-Grün betrifft, warnt Pinkwart neuerdings nicht mehr vor einem „Schulkrieg“ in NRW, sondern wird mit der Äußerung zitiert: „Die Pläne der Landesregierung über die Errichtung von Gemeinschaftsschulen Kommunen und Schulen zu überlassen, entsprechen liberalem Gedankengut und sollten deshalb auch von der FDP mitgetragen werden können.“ (http://bildungsklick.de/ 31.8.2010)
Verbände in NRW
Verband Bildung und Erziehung (VBE):
Der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann begrüßt den Versuch der neuen Landesregierung, zu einem parteiübergreifenden Konsens für die Schulreform in NRW zu kommen. Neueste Daten machten wieder deutlich, dass der Rückgang der Schülerzahlen vor allem zu Lasten der Hauptschule geht. Mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule gebe Rot-Grün den Kommunen die gewünschten Gestaltungsoptionen, um trotz rückläufiger Schülerzahlen ein wohnortnahes und vollständiges Schulangebot sichern zu können. Beckmann begrüßt ausdrücklich, dass die Landesregierung auf die Prinzipien der Freiwilligkeit und Eigenverantwortung setze und damit das begünstige, was für eine wirkliche Schulentwicklung nötig sei: die Akzeptanz der Gemeinschaftsschule vor Ort. (http://bildungsklick.de/, 27.8. und 20.9.2010)
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW):
Für die GEW ist mit dem Startschuss für die Gemeinschaftsschule ein weiterer Schritt zum längeren gemeinsamen Lernen getan. Die von der Kultusministerin vorgelegten Eckpunkte zeigten, dass zusätzliche Ressourcen notwendig sind, um heterogene Gruppen erfolgreich zu unterrichten. Die GEW halte allerdings auch daran fest, die Gründung von weiteren Gesamtschulen zu unterstützen.
Bedauerlich ist für die Gewerkschaft allerdings, dass mit der Entscheidung für den Modellversuch „Abitur nach 12 oder 13 Jahren“ Fakten geschaffen worden seien, ohne den Konsens mit den Verbänden zu suchen. Unbeachtet blieben Empfehlungen der Schulexperten der GEW für die Wiederherstellung der 6-jährigen Sekundarstufe I und für eine individuelle Entscheidung der Schüler/innen, sich in der Oberstufe nach zwei oder drei Jahren zum Abitur zu melden. Die Verkürzung der Schulzeit, fordert die GEW, soll sich an der Leistungsentwicklung der Schüler/innen orientieren. Dies sei mit einer 6-jährigen Sekundarstufe I besser gewährleistet. Außerdem könne so die Abkoppelung des Gymnasiums von den anderen Schulformen wieder aufgehoben werden. Der Modellversuch führe zu einer Spaltung der Gymnasien. (http://bildungsklick.de/, 20.9. und 22.9.2010)
Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG):
Zusammen mit dem Landeselternrat und der Schulleitungskonferenz der Gesamtschulen von NRW begrüßt die GGG „ausdrücklich die schulpolitische Neuorientierung“ von Rot-Grün und nennt dafür die Abschaffung der Kopfnoten, die Möglichkeit der Kommunen, Schuleinzugsbereiche für alle Schulformen einzurichten, die Abschaffung verbindlicher Grundschulempfehlungen und das geplante „Abschulungsverbot“ für alle weiterführenden Schulformen.
Mit „großer Zufriedenheit“ nimmt die GGG zur Kenntnis, dass der Wert der Arbeit der Gesamtschulen „durch die neue Landesregierung genauso anerkannt wird wie von den vielen Eltern, die einen Gesamtschulplatz für ihre Kinder suchen (und viel zu oft noch nicht finden)“.Es gibt, nach Recherchen der GGG, inzwischen vierzig Initiativen für die Gründung neuer Gesamtschulen, denen durch die Vorgängerregierung „zahllose Steine in den Weg gelegt“ wurden. Diese Schikanen sollten „durch eine Genehmigungspraxis ersetzt werden, die dem Elternwillen und den planerischen Vorgaben der Kommunen entspricht“.
Zur Gründung von Gemeinschaftsschulen heißt es: „Wir begrüßen, dass solchen Gemeinschaftsschulen die Möglichkeit eröffnet wird, auch nach Klasse 6 ihre Schülerinnen und Schüler integriert zu unterrichten und bieten als Gesamtschulen dazu unser Knowhow über die erfolgreiche Beschulung heterogener Lerngruppen an.“
Die Gesamtschulen selbst wollen ihre „innere Schulreform insbesondere auch hinsichtlich der Beschulung heterogener Lerngruppen und der damit verbundenen Fachleistungsdifferenzierung unter Verzicht auf eine äußere Differenzierung in Grund- und Erweiterungskurse weiter“ voran treiben. Aus langjähriger eigener Erfahrung wie aus der internationalen Diskussion habe man gelernt, „dass auch innerhalb unserer Schulen längeres gemeinsames Lernen leistungsstärkerer und leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler allen Beteiligten Nutzen bringt“.
(GGG NRW, Landespressekonferenz am 2.9.2010, S.1-3)
lehrer nrw:
lehrer nrw, ein Verband, der aus dem Realschullehrerverband NRW hervorging und vor allem Haupt- und Realschulinteressen vertritt, sah es zunächst positiv, dass Rot-Grün keine sofortigen „radikalen Umbrüche“ plane und so ein drohender „Schulkrieg“ vorerst abgewendet scheine (http://bildungsklick.de/, 6.7.2010).
Zwei Monate später erklärte die Vorsitzende des Verbandes, Brigitte Bambach, die von der Regierung propagierte Gemeinschaftsschule sei „nichts anderes als die Umsetzung linker Bildungsideologie“. Die integrative Form der Gemeinschaftsschule soll „durch eklatante Bevorzugung gegenüber allen anderen Schulformen zum Standard erhoben werden“ und so sei der Boden für die „Einheitsschule“ bereitet. Kooperative Lösungen, ob an Gemeinschaftsschulen oder an eigenständigen Schulen der gegliederten Systems, würden „mit Methode benachteiligt und damit de facto unattraktiv gemacht“. (http://bildungsklick.de/, 20.9.2010)
Philologenverband:
Der Philologenverband sieht in der Schulpolitik der neuen Regierung „einen Kahlschlag in der Schullandschaft“, an dessen Ende alle Schulen in Gemeinschaftsschulen überführt sein werden. Während seither selbst kleine Schulen gestützt worden seien und ihnen Existenzsicherung zugesagt worden sei, so der NRW-Vorsitzende Peter Silbernagel, dürfte nun das „Gespenst der Angst“ in den Schulen umgehen; denn keine Schule könne sicher sein, nicht von der Auflösung bzw. Zusammenlegung mit anderen Schulformen betroffen zu sein. Die Sorge sei umso größer, da den Kommunen „Anreize“ für die neue Schulform versprochen würden. (http://bildungsklick.de/, 6.7.2010)
In dem, was in Hamburg und im Saarland und nun auch in Nordrhein-Westfalen geschieht, sieht der Bundesvorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, „einen zerstörerischen Kulturkampf gegen das Gymnasium“. Jenseits aller „Beruhigungsrhetorik“ sei in den entsprechenden Koalitionsverträgen der politische Wille ganz klar erkennbar: „Das Gymnasium als Störfaktor Nr.1 auf dem Weg zu einer Einheitsschule von außen und von innen heraus so zu schwächen, dass es seinen Leistungs- und Qualitätsanspruch nicht mehr erfüllen kann.“ Meidinger kritisiert dabei vor allem, dass in allen betroffenen Bundesländern dem Gymnasium höhere Klassenstärken zugemutet und geringere Ressourcen zugestanden werden sollen als anderen Schularten. Das betreffe in NRW insbesondere die geplante Gemeinschaftsschule und sei „der erklärte Kulturkampf von oben, bei dem man in der Wahl der Mittel nicht zimperlich sei“. (http://bildungsklick.de/, 12.7.2010)
Städtetag:
Der Städtetag NRW hat die Absicht der Landesregierung begrüßt, einen fraktionsübergreifenden Konsens in der Schulpolitik herbeizuführen. Es sei wichtig, „dass die Landesregierung alle relevanten Akteure beteiligen will, um eine gemeinsame Grundlinie in der Schulpolitik zu erreichen“, so der Vorsitzende des Städtetages NRW, Oberbürgermeister Peter Jung aus Wuppertal, nach einer Sitzung des Vorstandes. Mit dem „schulpolitischen Sofortprogramm“ von Rot-Grün würden aus Sicht der Städte die richtigen Weichen gestellt, um die kommunalen Handlungsspielräume bei der örtlichen Schulorganisation zu erweitern.
Der Städtetag NRW habe, so der Vorsitzende, auch ein starkes Interesse daran, dass die UN-Behindertenkonvention bestmöglich umgesetzt werde und erwarte, dass der vom Land vorgesehene „Inklusionsplan“ die erforderlichen Grundlagen vorsieht, mit den notwendigen Personal- und Finanzmittel ausgestattet wird und die Kommunen als Schul-, Jugend- und Sozialhilfeträger an der Entwicklung des Plans beteiligt werden. (http://bildungsklick.de/, 29.9.2010)
Presse
Wie reagieren überregionale Zeitungen auf den schulpolitischen Weg, den Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen gehen will?
Für die Frankfurter Rundschau wird es den von der Opposition im Landtag beschworenen „Bildungskampf“ gegen die Gemeinschaftsschule wohl nicht geben, weil Schulen, Eltern und Schulträger „gemeinsam entscheiden“, ob sie den Weg der Landesregierung gehen wollen. (Frankfurter Rundschau, 6.7.2010, S.5)
„Während sich viele in Deutschland Gedanken machen“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung, „ob es nicht besser wäre, föderales Durcheinander zu beenden“, gehe die neue Regierung in NRW den umgekehrten Weg: Sie überlasse es „Eltern, Lehrern und Kommunen zu entscheiden, wie ihre Schule aussehen soll“. Das sei einerseits „ein guter Schritt, weil es jenen engagierten Eltern und Lehrern“ helfe, sich „aus örtlichen Gegebenheiten ihre Schule maßschneidern“ zu können, soweit es die Mittel erlauben. Andererseits aber drohe „ein Flickenteppich an Modellen zu entstehen, in dem man die Übersicht“ verliere. (Süddeutsche Zeitung, 7.7.2010, S.4)
Für den SPIEGEL ist klar: SPD und Grüne wollen in NRW keinen „Großkonflikt“ mit den anderen Parteien riskieren und den Umbau aller Schulen zu Gemeinschaftsschulen erzwingen. Sie verzichteten auch auf das längere gemeinsame Lernen aller Schüler/innen bis Ende 5 wie im Saarland oder bis Ende 6 wie in Hamburg vor dem Volksentscheid. Die neue Regierung gehe „einen anderen, einen schonenderen und flexibleren Weg“ und überlasse „die Wahl und Art der Schulen den Städten und Gemeinden“. Diese Taktik wurzele „nicht allein in der Überzeugung, dass vor Ort am besten entschieden werden könne, welche Schulen man braucht“. Dahinter stecke „viel Kalkül“. Es sei „ein evolutionärer, keine revolutionärer Ansatz“ und habe „viel mit der demografischen Entwicklung im bevölkerungsreichsten Bundesland zu tun“. Bei in den nächsten Jahren rapide sinkenden Schülerzahlen würden in vielen Regionen Schulen zusammengelegt werden müssen, wenn man den Kindern und Jugendlichen „nicht schier endlose Schulwege“ zumuten wolle. „Ein jeweils eigenständiges Gymnasium, eine Real- und Hauptschule werden in etlichen Kommunen nicht überlebensfähig sein – eine Gemeinschaftsschule schon“. (SPIEGEL online, 8.7.2010)
„Keine große Reform: Die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen macht behutsam Bildungspolitik – und könnte damit zum Vorbild werden“. Unter diesem Titel schreibt Jan-Martin Wiarda einen Beitrag in der ZEIT zur Schulpolitik der neuen Regierung. Für Wiarda ist es nicht „die Not unklarer Mehrheitsverhältnisse“, „die Rot-Grün von radikaleren Reformen abhält“; denn dafür stünde die Linkspartei sofort bereit.
Was sich abzeichnet, ist vielmehr ein neues Politikverständnis, das sich bemerkenswert deutlich von der Vorgehensweise anderer Landesregierungen – links wie rechts – abhebt. Sylvia Löhrmann formuliert die neue Erkenntnis so: ‚Radikalmaßnahmen von oben verordnet funktionieren nicht.’ Man wolle innovative Schulentwicklung ermöglichen – und setze dabei auf regionalen Konsens. Das heißt: Veränderungen wird es nur geben, wenn sie auch gewünscht sind.
Je seltener sich in den Landesparlamenten eindeutige Koalitionsmehrheiten organisieren lassen, desto häufiger sind für Wiarda „Strategien gefragt, die über Grenzen der politischen Lager hinweg kompromissfähig sind und mögliche Regierungswechsel überstehen, ohne dass es zur Generalrevision kommt“. Man könne eine solche Bildungspolitik als „mutlos oder perspektivlos“ beklagen. „Oder aber als wohltuend bescheiden und zukunftsweisend pragmatisch begrüßen“. Die Zeiten „bildungspolitischer Hauruckaktionen von links wie von rechts zumindest“ seien „endgültig vorüber“. (ZEIT, 5.8.2010, S.57)
Ausblick
Die nordrhein-westfälische CDU brauchte nur wenige Monate, um zu akzeptieren, dass sie ihre empfindliche Wahlschlappe zu einem nicht geringen Teil ihrer starren Schulpolitik zu verdanken hat, gegen die zuletzt auch ihr Koalitionspartner mit dem Konzept einer „regionalen Mittelschule“ rebellierte.
Auch der Philologenverband wird wohl auf Dauer Eltern nicht davon überzeugen können, dass es an Gymnasien immer auch „fehlgeleitete“ Schüler/innen geben wird, die man bei aufkommenden Lernproblemen an andere Schulformen abschiebt, die meist mit viel größeren Problemen fertig werden müssen. Schließlich gibt es längst auch Gymnasien, die bei Eltern werben, dass sie keine Kind zurücklassen wollen und für alle die volle Verantwortung tragen bis zu einem qualifizierten Abschluss (Vgl. „Der deutsche Schulpreis“ und die Gymnasien im reformorientierten Schulverbund „Blick-über-den-Zaun“). Bei allem Vorläufigen, das auch dem rot-grünen Schulplan anhaften mag, - wer seiner Umsetzung einen „Kahlschlag in der Schullandschaft“ prophezeit und einen „Kulturkampf“ ausgerechnet gegen das Gymnasium wahrzunehmen meint, muss damit rechnen, in der öffentlichen Debatte bald nicht mehr ernst genommen zu werden.
Nach soviel Akzeptanz bei Verbänden und in überregionalen Zeitungen und einer bereits wahrnehmbaren „Abrüstung“ der Opposition im Landtag stehen die Chancen nicht schlecht, dass Eltern, die es wollen, in Nordrhein-Westfalen für ihr Kind auch eine Schule finden, die alle Abschlüsse bis zur Hochschulreife offen hält und dabei ein pädagogisches Konzept der individuellen Förderung entwickelt. Ob diese Schule dann Gesamtschule, Gemeinschaftsschule oder Gymnasium heißt, ist zumindest für Kinder und Jugendliche, die Hauptbetroffenen jeder Schulreform, gewiss ohne Belang.