Sind Landtagswahlen ohne Schulstreit schon der ersehnte Schulfrieden?
Juni 2012
Zur einzigen für 2012 terminierten Landtagswahl in Schleswig-Hostein, die auch schon wegen eines Gerichtsentscheid vorgezogen werden musste, sind überraschend zwei weitere gekommen. Im Saarland hat die CDU die erste Jamaika-Koalition auf Landesebene aufgekündigt, weil sie die FDP nicht mehr für regierungsfähig hielt und in Nordrhein-Westfalen endete das rot-grüne Experiment einer Minderheitsregierung vorzeitig, weil die Opposition geschlossen den Haushalt ablehnte.
Gemeinsam war den drei Bundesländern vor der Wahl, dass ihre Reform der Schulstruktur auf der Basis eines lagerübergreifenden Kompromisses zustande kam. Hielten diese Kompromisse im Wahlkampf? Und welche Modifikationen erfuhren sie jeweils in einer neuen Regierung?
Schleswig-Holstein
Gymnasium – Gemeinschaftsschule – Regionalschule
Schleswig-Holstein war unter einer rot-grünen Regierung das erste Bundesland, das nach PISA 2000 das KMK-Tabu einer neuen Schulstrukturdebatte brach. Die SPD zog 2004/05 in den Wahlkampf mit einem Strukturkonzept auf der Basis eines Gutachtens des Bildungsforschers Ernst Rösner, mit der Kernaussage: Auf Grund detaillierter demografischer Daten soll es in der Sekundarstufe I nur noch eine Schulform geben, die Gemeinschaftsschule, zu der sich innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren alle weiterführenden Schulen, das Gymnasium eingeschlossen, hin entwickeln.
Die SPD hat mit den Grünen zusammen, trotz dieses kühnen, von der Opposition heftig attackierten Plans, zwar nicht die Wahl verloren, scheiterte aber bekanntlich bei der Wahl der Ministerpräsidenten Heide Simonis. Es gab seitdem in keinem Bundesland mehr den Versuch, eine gemeinsame Sekundarstufe I unter Einschluss des Gymnasiums in einer Landtagswahl zur Entscheidung zu stellen oder gar nach einer Wahl im Landtag zu beschließen.
Die Große Koalition zwang die Kontrahenten des Wahlkampfes, sich 2005 auf folgenden Schulkompromiss zu einigen: Neben dem Gymnasium gibt es eine integrativ arbeitende Gemeinschaftsschule, die bei ausreichender Größe mit einer Oberstufe bis zum Abitur führen kann, und eine aus Haupt- und Realschule gebildete Regionalschule, die in Klasse 5 und 6 integriert unterrichtet und danach abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bildet.
Nach einer weiteren Landtagswahl 2009 vereinbarte die neue Koalition aus CDU und FDP zunächst, dass es keine Veränderungen am Schulkompromiss geben wird. Das Ziel aber sollte eine Fusion der beiden Schulformen Gemeinschaftsschule und Regionalschule sein, also ein zweigliedriges System.Dem neuen FDP-Kultusminister war diese Fusion bei einer weiterhin boomenden Gemeinschaftsschule ein besonderes Anliegen. Das neue Schulgesetz von 2011 sollte dafür die Weichen stellen, mit einer gravierenden Änderung am Kompromiss der Großen Koalition: Nach der Leitlinie „Vorrang für Eigenverantwortung“ können nach dem Gesetz Gemeinschaftsschulen weiterhin binnendifferenziert unterrichten, aber auch abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bilden. Auch die Regionalschulen haben die Möglichkeit, über die Klasse 5 und 6 hinaus binnendifferenziert zu arbeiten. Die einzige Differenz der beiden Schulformen: Die Gemeinschaftsschule kann bei entsprechender Größe eine Oberstufe genehmigt bekommen. (http://bildungsklick.de/ 26.1.2011 und 21.3.2012)
Im Wahlprogramm der FDP wird dann auch konsequent diese Differenz zwischen Gemeinschaftsschule und Regionalschule beseitigt. Da gibt es nach der Grundschule nur noch die beiden Möglichkeiten: „Den Weg über die Gemeinschafts-/Regionalschulen mit dem Haupt- und Realschulabschluss oder das Gymnasium mit dem Abitur, der Fachhochschulreife oder dem Realschulabschluss.“ (Landesparteitag der FDP, 10.3.2012)
Der Koalitionspartner CDU will auch, dass „Regional- und Gemeinschaftsschule zu einer Schulart zusammenwachsen, mit dem Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler die Chance haben, alle Schulartabschlüsse zu erreichen“. Für eine Oberstufe an Gemeinschaftsschulen muss nach den Vorstellungen der CDU allerdings „mindestens eine Zweizügigkeit dauerhaft“ gewährleistet sein und sie kann überhaupt nur dann genehmigt werden, wenn „bereits bestehende Oberstufen an Gymnasien und berufsbildenden Schulen keine ausreichende Kapazität haben“, um Schüler/innen der Gemeinschaftsschule aufzunehmen. (Entwurf eines Wahlprogramms der CDU Schleswig-Holstein zur Landtagswahl 2012, Stand: 24.11.2011)
Die SPD will sich einsetzen „für ein möglichst flächendeckendes Angebot an G9-Bilungsgängen an Gemeinschaftsschulen neben dem Abitur nach acht Jahren an Gymnasien“ Die Regionalschulen will die Partei „schrittweise zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickeln“. Nach dem Willen der SPD übernimmt jede Schule „langfristige Verantwortung für die Erziehung und Bildung der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen“. „Durch individuelle Förderung soll sichergestellt werden, dass ein Schulartwechsel im Sekundarbereich bis zum Ende des Ausbildungsgangs vermieden wird.“ Langfristiges Ziel bleibt für die SPD wie im Plan 2004 „eine Schule für alle“. (Beschluss über das Regierungsprogramm 2012-2017. Stand: 10.2.2012)
Für die Grünen kann gemeinsames Lernen „an Gemeinschaftsschulen am besten gewährleistet werden“. Die Umwandlung der Regionalschulen könne allerdings nicht „auf Knopfdruck“ geschehen. Schulträger und Kollegien brauchten „Zeit zur Umwandlung und Unterstützung“. Auf lange Sicht streben auch die Grünen „durch gemeinsames Lernen geprägte Gemeinschaftsschulen an“. (Das grüne Arbeitsprogramm für Schleswig-Holstein, S.27 f.)
Was SPD und Grüne langfristig nicht aus den Augen verlieren wollen, eine Schule für alle Kinder, unter Einschluss des Gymnasiums und von Kindern mit Behinderungen, will Die Linke jetzt: eine Schule „von der ersten bis zur zehnten Klasse“. (Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012)
Von der Linkspartei abgesehen planen die anderen Parteien mittelfristig ein zweigliedriges System: CDU und FDP mehr nach sächsischem Modell einer eindeutig hierarchischen Gliederung der beiden Schulformen; SPD und Grüne ein Zwei-Wege-Modell: beide Schulformen führen gleichberechtigt zum Abitur, wie es in den drei Stadtstaaten und im Saarland bereits gesetzlich verankert ist.
Im Koalitionsvertrag 2012-2017 von SPD, Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) werden von der neuen Regierung für die Zeit nach den Sommerferien 2012 „Akteure aus Schule, Gesellschaft, Kommunen und Fraktionen“ zu einer „Bildungskonferenz Schule“ eingeladen, mit dem Ziel, „Lösungen zu erarbeiten, die parteiübergreifend und über einen Zeitraum von zehn Jahren Planungssicherheit für die Schulen bieten“. (Koalitionsvertrag, S.16)
Die Koalition geht „offen, aber nicht ohne Position“ in diese Konferenz:
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Sie steht „zu dem Zweigliedrigkeitskonzept von Gemeinschaftsschule und Gymnasium“.
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Gymnasien führen künftig wieder generell in acht Jahren zum Abitur; die von Schwarz-Gelb genehmigten G9-Gymnasien erhalten „Bestandsschutz“ und die Y-Gymnasien“ müssen sich zwischen G8 und G9 entscheiden. (S.16)
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Das G9-Angebot an Gemeinschaftsschulen soll es „flächendeckend“ geben. Gemeinschaftsschulen bekommen ein Oberstufe, „wenn der Schulträger dies mit Zustimmung der Schulkonferenz beantragt und wenn nach der Schulentwicklungsplanung ein Bedarf besteht“. „Im Rahmen der Planung ist auch über Kooperationsmöglichkeiten zu Oberstufen an anderen weiterführenden Schulen, wie den beruflichen Gymnasien, zu entscheiden.“ „Abschlussbezogene Klassen an Gemeinschaftsschulen sollen künftig nicht mehr möglich sein.“ (S.16 f.)
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„Die Regionalschulen sollen sich zu Gemeinschaftsschulen entwickeln.“ (S.17)
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Auf „Abschulungen“ soll ebenso verzichtet werden, wie auf „Schulartempfehlungen“ der Grundschule. (S.17)
Die Koalition macht in ihrem Vertrag zum einen Änderungen rückgängig, die die schwarz-gelbe Landesregierung am Schulkompromiss der Großen Koalition vorgenommen hat, und sie orientiert sich andererseits gegenüber FDP und CDU klar am Zwei-Wege-Modell der Stadtstaaten und des Saarlandes: zwei Schulformen, die beide, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, zum Abitur führen.
Es ist schwer vorstellbar, dass dieses für Eltern und Kommunen attraktive Modell bei einem Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb wieder geändert wird, indem die Gemeinschaftsschule etwa auf den Status einer fusionierten Haupt- und Realschule zurückgestuft wird und ihren gymnasialen Standard verliert.
Saarland
Das Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule
In der 2009 im Saarland gebildeten Koalition aus CDU, FDP und Grünen waren die Grünen zwar die kleinste Fraktion, wurden aber von der arg gebeutelten CDU so dringend für den Machterhalt gebraucht, dass sie den widerstrebenden Partnern CDU und FDP ein Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und einer aus Erweiterter Realschule und Gesamtschule zu bildenden Gemeinschaftsschule abringen konnten. Beide Schulen sollten, wie in den Stadtstaaten, „gleichberechtigt“ zum Abitur führen.
Dieser Strukturplan steht seit dem 15.6.2011 in der saarländischen Verfassung. Die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit kam kurioser Weise nicht mit der SPD zustande, die seit Jahren exakt dieses Zwei-Wege-Modell propagierte, sondern mit der Linkspartei, die kurz vor dem Scheitern des Vorhabens als Mehrheitsbeschafferin einsprang. Die Weigerung der SPD war „keine Entscheidung gegen die Gemeinschaftsschule“, sondern gegen ein nach Auffassung der Partei „wenig durchdachtes und unterfinanziertes“ Konzept. (V.Merkelbach: Ein Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule im Saarland: http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ September 2011)
Im Gegensatz zu Schleswig-Holstein war im Saarland also schon vor dem Wahlkampf 2012 auch Die Linke im Boot für das Zwei-Wege-Modell der drei Stadtstaaten. Die beiden großen Parteien bekannten sich nun auch im Wahlkampf zu diesem Modell. Die SPD begründete noch einmal, warum sie der Verfassungsänderung seinerzeit nicht zugestimmt hatte (Wahlprogramm: Ein Saarland mit Zukunft 2012). Die CDU betonte für die konservative Gymnasiallobby „das Festhalten an der verfassungsrechtlich geschützten Schulform des Gymnasiums“, das nicht zur „Pflichtschule“ werden dürfe. Sie verspricht außerdem, dass es mit ihr „keine generelle Abschaffung des ‚Abschulens’ über die Klassenstufen 5 und 6 hinaus geben“ wird, - ohne allerdings zu erklären, wie „Abschulen“ unter zwei „gleichberechtigten“ Schulformen überhaupt noch möglich sein soll. (CDU: Regierungsprogramm 2012-2017)
Im Koalitionsvertrag von CDU und SPD wird das Zwei-Wege-Modell bestätigt:
Ab dem Schuljahr 2012/13 wird mit dem Start der Gemeinschaftsschule flächendeckend ein Zwei-Säulen-System im Bereich der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen eingeführt. Dieses System bietet die Chance, Strukturdebatten zu beenden und die Qualität der Bildung in den Mittelpunkt zu stellen. Die neuen Gemeinschaftsschulen bieten alle Bildungsabschlüsse an – inklusive dem Abitur nach neun Jahren; sie sind somit eine Alternative zum grundständigen achtjährigen Gymnasium. Die beiden Schulformen Gymnasium und Gemeinschaftsschule sehen wir als gleichwertig an. Deswegen wollen wir alle Parameter mit dem Ziel überprüfen, diese Gleichwertigkeit im Rahmen eines Stufenplans umzusetzen. (Koalitionsvertrag, S.25)
Die „Betreuungsrelation“ zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen soll in den nächsten Jahren, wie von der SPD versprochen, kontinuierlich verbessert werden, allerdings an beiden Schulformen im gleichen Umfang. In den Klassenstufen 5 und 6 soll die Klassengröße Schritt für Schritt auf 25, in 7 bis 9 (Gymnasium) bzw. 7 bis 10 (Gemeinschaftsschule) auf 27 Schüler/innen reduziert werden. Den Gemeinschaftsschulen werden zur „Entwicklung ihres pädagogischen Konzepts“ während der Einführungsphase bis 2014/15 lediglich sechs Deputatstunden pro Schule zugewiesen.
Diese Gleichbehandlung von Gymnasium und Gemeinschaftsschule nach 2014/15 steht nun allerdings im Widerspruch zur massiven Kritik der SPD in der Opposition am „wenig durchdachten und unterfinanzierten Hau-Ruck-Verfahren“ der Jamaika-Koalition bei der Einführung der Gemeinschaftsschule. Da hieß es noch :
Der Charakter der Gemeinschaftsschule als Pflichtschule, die alle SchülerInnen aufnehmen und behalten muss, mit der Folge einer sehr viel größeren Heterogenität, stellt aber auch sehr viel höhere Anforderungen an die Lehr- und Lernkultur sowie die Pädagogik der Lehrkräfte ggü. dem Gymnasium als reiner Angebotsschule. (http://bildungsklick.de / 27.1.2011)
Unerwähnt bleibt im Koalitionsvertrag nicht nur die SPD-Anküngung einer grundlegenden Strukturreform der Lehrerbildung im Hinblich auf die „Gleichwertigkeit“ von Gymnasium und Gemeinschaftsschule, sondern auch die kurzfristig zu realisierende Regelung, dass, um „die Gleichwertigkeit der Gemeinschaftsschule zu sichern und die Unterrichtung an den dazugehörigen Oberstufen vorzubereiten“, „an allen Gemeinschaftsschulen auch Lehrkräfte mit der Fakultas für die Oberstufe unterrichten“ werden. (SPD-Wahlprogramm, Kap.3: „Zwei gleichwertige Wege zum Schulerfolg“)
Zu dem Versprechen an die Gymnasiallobby, dass es mit der CDU „keine generelle Abschaffung des ‚Abschulens’ über die Klassenstufen 5 und 6 hinaus geben“ wird, heißt es im Koalitionsvertrag eher kryptisch als klar:
Der Modellversuch „Fördern statt Sitzenbleiben“, durch den das Wiederholen und Abschulen in den Klassen 5 und 6 ausgesetzt wurde, werden wir auswerten. Es ist unser gemeinsames Ziel, die Gymnasien in ihrem Bemühen zu unterstützen, die Erfolgschancen ihrer Schülerinnen und Schüler zu verbessern. (Koalitionsvertrag, S.26)
Das Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule, das von der Jamaika-Koalition auf den Weg gebracht und in der Verfassung verankert wurde, ist von der Großen Koalition zwar bestätigt worden, völlig offen bleibt allerdings die Frage, ob die proklamierte Gleichwertigkeit der beiden Schulformen bei der von der Koalition vereinbarten Ausstattung der Gemeinschaftsschule mehr sein wird als frommes Wunschdenken der SPD, die in der Opposition deren unzureichende Ausstattung so massiv kritisiert hatte.
Nordrhein-Westfalen
Die Schulreform der rot-grünen Minderheitsregierung
Mit Hessen und Niedersachsen gehört Nordrhein-Westfalen zu den großen Flächenländern, in denen unter sozialdemokratisch geführten Landesregierungen seit den 1970er Jahren Gesamtschulen gegründet wurden, die zum Dauerstreit führten zwischen CDU und FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der andern Seite. Dieser Streit hat die SPD in NRW – vor allem nach dem erfolgreichen Volksbegehren gegen die generelle Einführung der Kooperativen Gesamtschule 1978 – so zermürbt, dass sie es weder mit absoluter Mehrheit noch in einer Koalition mit den Grünen kaum noch wagte, die Integrierte Gesamtschule offensiv zu vertreten und ihre Weiterentwicklung zu fördern. Erst die besonders massive Verteidigung des gegliederten Schulsystems der schwarz-gelben Regierung seit 2005, gepaart mit Schikanen gegenüber den bestehenden Gesamtschulen und Neugründungsinitiativen, vermochte SPD und Grüne zu neuer Streitlust über die Schulstruktur und für mehr gemeinsames Lernen über die Grundschule hinaus herauszufordern.
Trotz einer landesweiten Kampagne der CDU gegen den SPD-Plan einer Gemeinschaftsschule gewann Rot-Grün 2010 deutlich die Wahl vor Schwarz-Gelb, verfehlte aber durch den Einzug der Linkspartei in den Landtag die absolute Mehrheit um eine Stimme.
Die rot-grüne Minderheitsregierung einigte sich im Koalitionsvertrag darauf, dass es neben dem Gymnasium, neben Haupt-, Real- und Gesamtschule eine weitere Schulform geben sollte, die Gemeinschaftsschule. Den Kommunen wurden damit zwei Möglichkeiten eröffnet: entweder endlich bedarfsgerecht neue Gesamtschulen zu gründen oder aber Gemeinschaftsschulen mit „gymnasialen Standards“, die in 5/6 integrativ arbeiten, danach nach Bildungsgängen differenzieren oder aber integrativ weiterarbeiten und so quasi zu Gesamtschulen werden. Die Gemeinschaftsschule sollte immer eine Ganztagsschule sein, mit eigener Oberstufe oder einem Oberstufenzentrum zugeordnet oder in Kooperation mit Gesamtschule, Gymnasium oder Berufskolleg. (V.Merkelbach: Schulkampf oder Chancen für einen Konsens in Nordrhein-Westfalen? http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Oktober 2010)
Es gab also bei diesem Kompromiss der beiden Koalitionspartner neben der Gesamtschule eine weitere Reformschule, die allerdings eine Änderung des Schulgesetzes erforderlich gemacht hätte. Dafür kam im Landtag keine Mehrheit zustande, sodass Rot-Grün die Gemeinschaftsschule als Modellversuch deklarierte, was sie aber de facto gar nicht sein sollte. Das Interesse der Kommunen an der neuen Schulform war so groß, dass die neue Schulform wohl auf Dauer nicht mehr als Schulversuch laufen konnte. Am 8.4.2011 verbot das Verwaltungsgericht Arnsberg der Gemeinde Finnentrop nach einem Eilantrag zweier Nachbargemeinden „vorläufig“ die Errichtung einer Gemeinschaftsschule, da es sich offensichtlich nicht um einen „ergebnisoffenen Schulversuch“ handle. Als dann auch das Oberverwaltungsgericht in Münster im Juni 2011 das Arnsberger Urteil bestätigte, war der Regierung klar, dass sie eine hieb- und stichfeste gesetzliche Regelung für die Gemeinschaftsschule brauchte.
„Schulkonsens NRW“
Inzwischen gab es bei über 100 Kommunen das Interesse an der Errichtung einer Gemeinschaftsschule, darunter auch viele CDU-regierte. In dieser Situation war die CDU bereit, ihre bisherige Totalopposition gegen die rot-grüne Strukturreform aufzugeben und bot der Regierung Gespräche an, mit der Maßgabe, dass neben der Gemeinschaftsschule das gegliederte System aus Realschule und Gymnasium bestehen bleiben müsse. Lediglich zur Aufgabe der Hauptschule war man bereit (http://bildungsklick.de /16.6.2011). Nach langen und zähen Verhandlungen der Regierung mit der CDU wird am 20.10.2011 ein „Schulkonsens NRW“ in einem neuen Schulgesetz beschlossen und die Verfassung entsprechend geändert:
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Die Verfassungsgarantie für die Hauptschule wird gestrichen und ersetzt durch den Passus: „Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen umfasst.“
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Im neuen Schulgesetz können alle bisherigen Schulformen, je nach Elternverhalten und den Ergebnissen kommunaler Entscheidungsprozesse, weiter angeboten werden.
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Statt der Gemeinschaftsschule gibt es eine Sekundarschule, die auch gymnasiale Standards besitzt, die nach Klasse 6 entscheidet, ob sie integriert weiterarbeitet oder abschlussbezogen differenziert. Bei entsprechender Größe wird die integrative Variante der Sekundarschule zu einer Integrierten Gesamtschule mit eigener Oberstufe. Die Sekundarschule endet mit Klasse 10, ist aber verpflichtet, mit der Oberstufe eines Gymnasiums, einer Gesamtschule oder eines Berufskollegs zu kooperieren.
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Der „Schulkonsens NRW“ soll bis 2023 gelten und solange nicht einseitig aufgekündigt werden.
(http://bildungsklick.de/ 19.7. und 20.10.2011)
Es bleibt nun ganz in der Entscheidung der Eltern, der Schulen und der Schulträger, wie sich die starke Nachfrage nach der Gemeinschaftsschule neu ausrichtet, wie sich etwa das Interesse an den beiden Sekundarschul-Varianten – abschlussbezogen oder integriert – verteilen wird. Wie wird sich die Gesamtschule in NRW weiterentwickeln, nachdem nun auch die CDU mit der so hartnäckig bekämpften Schulform ihren Frieden geschlossen hat und eine Neugründung statt mit 112 schon mit 100 Schüler/innen starten kann?
Das Thema „Schulstruktur“ spielte im Wahlkampf nach dem gerade erst ein paar Monate alten „Schulkonsens NRW“ nur insofern eine Rolle, als die drei Konsens-Parteien, SPD, Grüne und CDU, ihre jeweilige Einschätzung der Vereinbarung und ihren Anteil an deren Zustandekommen herausstellten:
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Die SPD ist überzeugt, „dass längeres gemeinsames Lernen Voraussetzung für ein ebenso gerechtes wie förderndes Bildungssystem ist“. Für sie bieten dafür die „eingeführten Regelungen in Verfassung und Schulgesetz“ „die notwendige Flexibilität, ein modernes Schulangebot zu schaffen“, das „das Wahlrecht der Eltern vor Ort“ gewährleistet. (Regierungsprogramm der NRWSPD 2012 – 2017, S.5)
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Bei den Grünen heißt es: „Wir haben den jahrzehntelangen Schulkrieg in NRW beendet und einen Schulkonsens geschaffen, der längeres gemeinsames Lernen fördert und die kommunale Schulentwicklung stärkt. Der enorme Zuspruch und die Gründung vieler neuer Gesamtschulen und Sekundarschulen sind eine Erfolgsbilanz.“ (Wahlaussage und Schwerpunkte, 25.3.2012)
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Statt längeres gemeinsames Lernen betont die CDU, dass sie im Schulkonsens „die Vielfalt und Differenziertheit der nordrhein-westfälischen Schullandschaft durch die Verfassungsänderung von 2011 abgesichert“ habe. „Neben dem gestärkten Gymnasium und den fortbestehenden Haupt-, Real- und Gesamtschulen“ werde „die CDU die neuen Sekundarschulen zu einer attraktiven Säule des Schulwesens entwickeln“. (Wahlaufruf an die Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens, S.14)
So unterschiedlich die Verdienste am Zustandekommen des Schulkonsenses von Rot-Grün und der CDU auch eingeschätzt werden und so unterschiedlich die Hoffnungen und Erwartungen sein mögen, - die drei Parteien akzeptieren, dass die Entwicklung des Schulsystems künftig wesentlich vor Ort von Eltern, Schulen und Schulträgern bestimmt wird.
Im Unterschied zu Schleswig-Holstein, wo eine schwarz-gelbe Regierung versuchte, den Kompromiss der Großen Koalition an einem entscheidenden Punkt (sächsisches Modell statt Zwei-Wege-Modell) wieder rückgängig zu machen, hatte die neue rot-grüne Regierung in NRW trotz ihrer komfortablen Mehrheit im Landtag gar keine andere Wahl, als den mit der CDU mühsam ausgehandelten Schulkonsens unangetastet zu lassen. In dem umfangreichen Kapitel „Bildung“ sind es nur wenige Zeilen, in denen beschrieben wird, wie sich die neue Regierung die weitere Entwicklung in NRW vorstellt:
Der zwischen CDU, SPD und GRÜNEN geschlossene Schulkonsens hat einen jahrzehntelangen ideologischen Streit beendet und eine neue Phase der Schulentwicklung in Nordrhein-Westfalen eingeläutet. Das neue Denken stellt die Kinder in den Mittelpunkt. Außerdem ist es parteiübergreifend gelungen, längeres gemeinsames Lernen zu stärken. Der Schulkonsens wird von SPD und GRÜNEN konsequent und Schritt für Schritt umgesetzt. Dazu gehören u.a. die Gründung von Sekundar- und Gesamtschulen, die Sicherung eines wohnungsnahen und qualitativ hochwertigen Grundschulangebots sowie die schrittweise Absenkung der Klassengrößen in den Grundschulen, Realschulen, Gymnasien und bestehenden Gesamtschulen (Koalitionsvertrag, S.19)
Worüber es weiterhin Streit geben wird
Die lagerübergreifenden Strukturkompromisse sind vor den Landtagswahlen der drei Bundesländer und auch in den Koalitionsverträgen der neuen Landesregierungen zwar verschieden interpretiert, aber doch weitgehend bestätigt worden. Vom Schulkampf vergangener Landtagswahlen jedenfalls konnte keine Rede mehr sein. Neben diesen drei Bundesländern und den drei Stadtstaaten gibt es inzwischen auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen lagerübergreifende Schulkompromisse mit der Aussicht, dass in anstehenden Landtagswahlen über Schulstrukturfragen nicht mehr gestritten werden wird. Bleiben die Länder Sachsen, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern, in denen es noch keine Einigung über Lagergrenzen hinweg gibt.
Sollte es auch in diesen Ländern zu Strukturkompromissen kommen und der Trend zu einem Schulsystem der zwei Wege zum Abitur anhalten, so stellt sich die Frage, ob dann der große Schulfrieden in Deutschland ausbrechen wird und der so quälend lange Schulstreit endlich ein Ende findet. Das ist, wie insbesondere der Koalitionsvertrag im Saarland zeigt, nicht zu erwarten. Es bleiben strittige Punkte genug, die dann vielleicht in einer weniger emotional aufgeladenen und machtbesetzten Auseinandersetzung behandelt werden können, z.B. diese:
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Selbst dort, wo es inzwischen das Zwei-Wege-Modell gibt oder geplant ist, wird zu streiten sein, wie die Schule neben dem Gymnasium personell und materiell ausgestattet sein muss im Vergleich zum Gymnasium, das sich wohl weiterhin seine Schüler/innen zu einem guten Teil wird auswählen können. Wird es zu einem fairen pädagogischen Wettbewerb der beiden Schulformen kommen oder wird es neue „Restschulen“ geben?
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Es wird zu streiten sein, wie die Lehrer/innen ausgebildet und für ihre Arbeit honoriert werden, die an einer der beiden Schulformen oder der Grundschule unterrichten. Wird es gelingen, die historische Spaltung der Lehrer/innen in solche für den „gehobenen“ oder den „höheren“ Dienst zu überwinden? Wird es zu einer gleich langen und gleich qualitativen Ausbildung aller Lehrämter kommen?
Das ist die mittelfristige Aufgabe der Politik in einem zweigliedrigen System mit dem Anspruch der Gleichwertigkeit der beiden Schulformen. Langfristig jedoch wird auf der schulpolitischen Agenda die Frage nicht zu verdrängen sein: Wie kann in einem nach wie vor gegliederten System mit einer Pflichtschule, die alle Kinder nehmen muss, und einer Angebotsschule, die auswählen kann, die anstehende Aufgabe der Inklusion gelöst werden, was doch den Verzicht auf jede Form der Exklusion erforderlich macht?
Gerade unter dem Aspekt der Inklusion sind die lagerübergreifenden Schulkompromisse aber noch lange kein Schulfrieden, sondern sie gleichen eher einem Waffenstillstand unter vom ewigen Schulstreit erschöpften Akteuren, denen die eigentlichen Friedensverhandlungen noch bevorstehen. In einem Friedensvertrag am Ende der Verhandlungen kann es auch in Deutschland, wie in allen demokratisch verfassten Gesellschaften, wohl nur eine Schule geben, die vom ersten Schultag an alle Kinder willkommen heißt, die behinderten und die nichtbehinderten, die schnellen und die langsamen, die hochbegabten und die zukurzgekommenen.
In dieser Schule wird es nicht mehr, wie noch im Zwei-Wege-Modell, zwei Lerngeschwindigkeiten geben, sondern so viele, wie es Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe gibt. „Nicht Konkurrenz und Einzelkämpfertum sind das Leitbild“, schreiben Rainer Domisch und Anne Klein mit Blick auf Finnland in ihrem leidenschaftlichen Plädoyer einer Schule für alle auch in Deutschland. „Als Orientierung“ diene „vielmehr das Ziel, ein Gemeinwesen zu schaffen, das die originelle und kreative Entwicklung aller Individuen befördert“. (R. Domisch / A. Klein: Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle. München: Hanser 2012, S. 116 f.)