Die Strukturfrage ist längst gestellt
Schulpolitische Perspektiven der Ländervergleichsstudie PISA 2003Dezember 2005
Eine "Vorinformation" im Wahlkampf
Die vorzeitige PISA-Veröffentlichung "Zentraler Ergebnisse des zweiten Vergleichs der Länder in Deutschland" am 14.Juli 05, also mitten im Bundestagswahlkampf, war kein Akt besonderer Standfestigkeit der Wissenschaft gegenüber den Pressionen der Politik. Das PISA-Konsortium musste wissen, dass seine "Vorinformation" zu Wahlkampfzwecken genutzt würde, um erneut und wählerwirksam die Bildungspolitik der Union zu preisen und die der Sozialdemokraten an den Pranger zu stellen.
Eine regelrechte Steilverlage war dabei die "Vorinformation" zum zentralen Schwachpunkt des deutschen Schulsystems: die nach wie vor enge Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg. Da registriert das PISA-Konsortium in den Bundesländern Brandenburg, Bayern, Thüringen und Sachsen "relativ schwache Zusammenhänge" zwischen sozialer Herkunft und mathematischer Kompetenz, in anderen Ländern dagegen "relativ starke". Als "relativ günstig" für die Schulentwicklung unter dem Aspekt soziale Gerechtigkeit sei "die Kombination von einem hohen Kompetenzniveau bei niedriger Koppelung mit sozialer Herkunft" wie in Bayern, Sachsen und Thüringen, relativ ungünstig hingegen "eine Kombination von niedrigem Kompetenzniveau mit enger Koppelung" wie in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bremen.
Bayern also, Hort konservativer Schulpolitik, wo ein Kind aus der Oberschicht eine 6,7mal höhere Chance hat, aufs Gymnasium zu kommen als das Kind aus einer Facharbeiterfamilie und in dieser Hinsicht trauriger Spitzenreiter unter den Bundesländern zugleich ein Leuchtturm für Bildungsgerechtigkeit? Demgegenüber die drei einstigen Hochburgen sozialdemokratischer Bildungspolitik, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bremen die Versager auf diesem Feld? Wenn das keine "Vorinformation" war, mit der man Wahlkampf machen konnte!
Gegen eine solche undifferenzierte und plakative Vorveröffentlichung half dann auch wenig, dass die GEW am 8.Juli bereits in Berlin eine Studie vorstellte von Rainer Block und Klaus Klemm zum Thema: "Gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet?’ Demografische, ökonomische, institutionelle und familiale Bedingungen des Lernens im Bundesländervergleich" (PISA-Info der GEW 15/05).
Die beiden Bildungsforscher beschreiben für die knappe, interpretationsoffene "Vorinformation" die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen die Ergebnisse der PISA-Tests in den einzelnen Bundesländern erzielt wurden, was die Verfasser der "Vorinformation" nach der Bundestagswahl nachzuliefern versprachen. Unter den verwendeten Indikatoren für günstige oder eher ungünstige Bedingungen für die Leistungsfähigkeit des Schulsystems eines Landes finden sich in der Studie: der Anteil der 15jährigen mit Migrationshintergrund, die Arbeitslosenquote, Wirtschafts- und Haushaltsdaten, öffentliche Ausgaben für öffentliche Schulen, verfügbare Kindergartenplätze, Schüler/Lehrer-Relation, erteilte Unterrichtsstunden, familialer Hintergrund.
Zum Anteil von 15jährigen mit Migrationshintergrund z.B. stellen Block und Klemm fest, dass hohe Anteile sich senkend auf die Schulleistungen der Gesamtheit der Fünfzehnjährigen auswirken und es darum zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Schulsystem wichtig sei, immer die Leistungen von Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund gesondert auszuweisen. (S.25)
In der Gesamtkonstellation der Indikatoren zeigen sich für die Autoren der Studie Länder mit "durchgängig eher günstigen Rahmenbedingungen für schulisches Lernen" – wie Hessen, Baden-Württemberg, Bayern und, mit Einschränkung, auch Rheinland-Pfalz – und Länder mit weniger günstigen Rahmenbedingungen wie Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland. Differenziert zu betrachten sei die Gruppe der Stadtstaaten. Die fünf neuen Bundesländer bilden für Block und Klemm insgesamt trotz geringer Migrationsanteile eine Gruppe mit "eher ungünstigen Voraussetzungen beim leistungsmäßigen Wettbewerb ihrer Schülerinnen und Schüler", wobei sich allerdings Sachsen und Thüringen deutlich von den anderen Ländern dieser Gruppe "abzusetzen" beginnen. (S.26)
Wenn "die ausgewählten Indikatoren für die Entwicklung der Leistungsfähigkeit der Schulen der einzelnen Länder bedeutsam" seien, wenn also "Schulentwicklung nicht nur von der Qualität des Unterrichts, von den Modalitäten der Steuerung des Schulsystems und von seiner Struktur" abhänge, "sondern auch von demografischen Voraussetzungen, von regionalen Arbeitsmärkten, von wirtschaftlichen Rahmendaten und deren Niederschlag in der Ausstattung der Schulen sowie vom familialen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler", dann tut sich für Block und Klemm "zwischen den günstiger und eher ungünstig ausgestatteten Ländern Deutschlands heute schon eine breite Lücke auf, die angesichts der Unterschiede bei den wirtschaftlichen Rahmendaten zwischen den Spitzenländern und den ihnen folgenden Ländern größer zu werden droht". Dabei werde "das Anwachsen dieser klaffenden Lücke noch dadurch beschleunigt, dass der jetzt schon bestehende Rückstand der zurückliegenden Länder vergrößert wird, weil diese ihre Jugendlichen aufgrund ihrer im Ländervergleich schwächeren Wirtschaft nicht so wie die führenden Länder bilden und ausbilden können". So werde "die Schulentwicklung das Auseinanderdriften der Bundesländer intergenerativ verstärken und beschleunigen." (S.26 f.)
Die differenzierte Analyse der Rahmenbedingungen für Schulleistungen in den einzelnen Bundesländern hatte im Wahlkampf nicht den Hauch einer Chance wahrgenommen zu werden, wo es für die politischen Akteure darum ging, auf jeden Fall "auf einem guten Weg" zu sein, selbst wenn es die Ergebnisse der "Vorinformation" im Vergleich mit PISA 2000 E gar nicht hergaben. Es wurde zu einem vom PISA-Konsortium letztlich zu verantwortenden unseriösen Ranking-Spiel, das allerdings insoweit folgenlos blieb, als das schlechte Ergebnis der Union und der SPD ohne die "Vorinformation" wohl für die eine nicht viel schlechter und für die andere nicht viel besser ausgefallen wäre. Das "Megathema" Bildung spielte in der heißesten Phase des Wahlkampfes keine Rolle mehr. Da ging es um andere Themen.
Die strukturelle Vielfalt der Bundesländer
Seit dem 3.November 05 ist nun neben der 18seitigen "Vorinformation" das 415 Seiten starke Werk zu besichtigen: "PISA 2003. Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland – Was wissen und können Jugendliche?" (Waxmann, Münster 2005). Sowenig die Medien nun noch Lust verspüren, auf die umfangreiche Studie näher einzugehen, - es lohnt sich, auch vor dem Hintergrund der Studie von Block und Klemm. Das trifft besonders für Kapitel 8 zu: "Der Blick in die Länder", dessen Veröffentlichung schon im Vorfeld umstritten war. Nachdem die Mittelwerte der Länder auf der internationalen Ranking-Liste bereits in der "Vorinformation" veröffentlicht waren, ging es um die Frage, ob in dieser internationalen PISA-Metrik ein Ranking auch für die einzelnen Schularten erstellt werden sollte, also nicht nur für das noch am ehesten länderübergreifend zu vergleichende Gymnasium, sondern z.B. auch für die Hauptschule, die es gar nicht in allen Ländern mehr gibt und dort, wo es sie noch gibt, extrem unterschiedlich ausgelesen und frequentiert ist und darum fairer Weise nicht von den Mittelwerten eines Landes auf die Qualität der Schulen und des Unterrichts geschlossen werden kann.
Das PISA-Konsortium hat sich entschieden, für die landesinternen Vergleiche der einzelnen Schularten die internationale PISA-Metrik anzuwenden und "zugleich die Grenzen der Vergleichbarkeit zu unterstreichen" ("Zur Darstellung der Ergebnisse von PISA 2003 auf Länderebene". In: PISA-Info der GEW 30/05).
Die am stärksten von der Politik und den Medien wahrgenommenen und in der "Vorinformation" bereits veröffentlichten Abbildungen der Studie sind die internationalen Gesamtskalen der Mittelwerte der an PISA-International beteiligten Länder für die drei schon von PISA 2000 her bekannten Kompetenzbereiche Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften sowie für die neu aufgenommene Problemlösekompetenz Fünfzehnjähriger. In diese Abbildungen sind nun die Mittelwerte der einzelnen Bundesländer eingeordnet. Da zeigt die 2003 im Zentrum des Forschungsinteresses stehende mathematische Kompetenz vier Bundesländer in der internationalen Spitzengruppe (Bayern, Sachsen, Baden-Württemberg, Thüringen), ein breites Mittelfeld von Sachsen-Anhalt bis Brandenburg und vier Länder am Ende der Skala: Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen. Vier CDU-dominierte Länder also an der Spitze und vier, deren Bildungspolitik über viele Jahre von Sozialdemokraten geprägt wurde, am Tabellenende. Dieses Bild ändert sich in den Ranglisten der anderen Kompetenzbereiche nur unwesentlich, vor allem an der Spitze bleiben die erfolgreichen Vier weitgehend unter sich (Kap.2-5, S.51 ff.).
Vor diesem Hintergrund lohnt sich nun allerdings der detaillierte "Blick in die Länder". In dem Kapitel 8 der Studie werden Land für Land Antworten auf drei Fragen gegeben und die Ergebnisse in Grafiken veranschaulicht:
(1) Wie verteilen sich im jeweiligen Land die fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler auf Schularten und Klassenstufen?
Aus dem Schaubild zu der Frage erfahren wir in Prozentanteilen, wie viele der Fünfzehnjährigen in den einzelnen Schularten eines Landes noch in der 8.Klasse sich befinden oder wie hoch der Prozentanteil der Schüler/innen ist mit einer "verzögerten Schullaufbahn" (Klassenwiederholungen in Grundschule und Sekundarstufe I, Zurückstellungen vor der Schulzeit) oder wieviel Prozent der Schüler/innen die Schule gewechselt haben.
(2)Wie wird die Ressource Zeit genutzt?
Aus dem Schaubild erfahren wir die Unterrichtszeit für einen Kompetenzbereich pro Woche in den einzelnen Schularten, die Zeit für Hausaufgaben, wie viel Prozent der Schüler/innen häusliche Nachhilfe, wie viel Prozent Ergänzungsunterricht erhalten und wie viel Prozent in den letzten beiden Wochen vor den Tests mindestens einmal zu spät zum Unterricht gekommen sind.
(3) Wie unterscheiden sich die Schularten in den bei PISA untersuchten Kompetenzen?
Das Schaubild zeigt wieder für jedes Land gesondert die Mittelwerte und Prozentanteile der Schüler/innen jeder Schulart und auf den sogenannten Perzentilbändern ist zu ersehen, wie viel Prozent der Schüler/innen jeweils welche Kompetenzstufe des sechsstufigen Kompetenzmodells erreichen, wie groß die Überlappungen der einzelnen Schularten sind und wie stark die Leistungen in einer Schulart auseinandergehen (Spreizung).
Was an den Schaubildern zu den vier Kompetenzbereichen der Länder deutlicher sich zeigt als an PISA 2000 E ist, dass die vor allem von Konservativen so hartnäckig verweigerte Strukturfrage ja längst gestellt ist und vielfältig beantwortet wurde und sich insbesondere in den neuen Bundesländern eine Strukturvariante etabliert hat, die, was ihrer Leistungsfähigkeit anlangt, aufhorchen lässt.
Wenn man versucht, für die Bundesrepublik vor und nach der deutschen Einheit eine Strukturlinie zu ziehen, so verläuft sie von der traditionellen Dreigliedrigkeit, wie sie seit dem 19.Jahrhundert das deutsche Schulsystem prägt, über ein viergliedriges System der Reformphase der 1970er Jahre mit der Gesamtschule als vierter Schulart, bis hin zum zweigliedrigen System in den drei neuen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Neben diesen drei Prototypen des bunten gesamtdeutschen Schulsystems gibt es noch eine dreigliedrige Sonderform ohne eigenständige Hauptschule. Neben dem Gymnasium und der Realschule ist das in Brandenburg die Integrierte Gesamtschule, die immerhin 50,1 % der Schüler/innen besuchen, in Mecklenburg-Vorpommern die "Regionale Schule/Verbundene Haupt- und Realschule" mit einem Schüler/innen-Anteil von 53,2 % und im Saarland gibt es neben Gymnasium und Integrierter Gesamtschule eine "Erweiterte Realschule" mit 45,7 % der Schüler/innen.
Um die bunte Landkarte der Systeme zu komplettieren: In Rheinland-Pfalz gibt es neben der traditionellen Dreigliedrigkeit und den wenigen bei PISA nicht berücksichtigten Integrierten Gesamtschulen eine Schulart "Regionale Schule/Duale Oberschule", in die 12,8 % der Schüler/innen gehen. Den Gipfel der Gliederungsfreudigkeit erklimmt Hamburg mit Gymnasium, Realschule, Integrierter Gesamtschule, Hauptschule und einer Integrierten Haupt- und Realschule.
Die Leistungsfähigkeit der Systeme bei der Förderung der "Risikogruppe"
Spätestens seit PISA 2003 sind sich Wissenschaft und Politik einig, dass wir in Deutschland im internationalen Leistungsvergleich aus dem Mittelmaß nur herauskommen, wenn es über den beobachtbaren Fortschritt im oberen Kompetenzbereich gelingt, die viel zu große "Risikogruppe" erfolgreich zu fördern und leistungsfähiger zu machen. Diese Gruppe ist in den traditionell dreigliedrigen System nur in der Hauptschule versammelt, in den viergliedrigen in allen nichtgymnasialen Schularten, am stärksten aber auch da in der Hauptschule, danach in der Integrierten Gesamtschule, die ja, anders als die Realschule und in der Tendenz steigend, Schülerinnen und Schüler aufnimmt, die von der Grundschule für die Hauptschule empfohlen werden.
Der "Blick in die Länder" kann für die beiden Systeme einigen Aufschluss darüber geben, wo die Gruppe der "Risikoschüler/innen" in den zuständigen Schularten der Länder noch am besten gefördert wird, ohne dass damit Substanzielles über Qualität von Unterricht und das pädagogische Engagement der Lehrpersonen ausgesagt wird, wohl aber über die Effektivität des Unterrichts, was die Vermittlung der von PISA getesteten "Grundqualifikationen" betrifft. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf den in PISA 2003 im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden mathematischen Kompetenzbereich.
Mit Blick auf die Testergebnisse an Hauptschulen fällt auf, dass offensichtlich ein Zusammenhang besteht zwischen dem Grad der Gliederung in Schularten, dem Kompetenzniveau, dem Schüler/innen-Anteil der Hauptschule und dem Prozentanteil derer, die in dem Land insgesamt nicht mehr als die erste Kompetenzstufe erreichen ("Risikogrupe"). Während die Hauptschule im traditionell dreigliedrigen System Bayerns, wo die Integrierte Gesamtschule nie eine Chance hatte, mit 462 Punkten den höchsten Mittelwert im Ländervergleich erzielt, mit 32,2 % am stärksten von allen Ländern mit Hauptschule frequentiert wird und eine "Risikogruppe" von "nur" 13,1 % hat, erreicht das viergliedrige Hessen einen Mittelwert von 394, mit einem Schüler/innen-Anteil von nur 15,6 % in der Hauptschule und einer "Risikogruppe" insgesamt, die mit 24,4 % fast doppelt so hoch ist wie in Bayern. Beide Länder bilden in der Studie von Block und Klemm mit Baden-Württemberg zusammen eine Gruppe, "die durchgängig eher günstige Rahmenbedingungen für schulisches Lernen aufweist". (PISA-Info der GEW 15/05, S.25)
In den beiden Stadtstaaten Hamburg und Berlin, mit fünf bzw. vier Schularten und mit den am stärksten ausgelesenen Hauptschulen stellt sich der Zusammenhang: Grad der Gliederung in Schularten, Kompetenzniveau, Schüler/innen-Anteil in der Hauptschule und "Risikogruppe" insgesamt so dar: Hamburg: Mittlwert 379, Schüler/innen-Anteil 10,6 %, "Risikogruppe" 29,1 % und Berlin: 374 / 11,2 % / 26,2 %.
Wie stark neben dem Grad der Gliederung eines Schulsystems und dem Schüler/innen-Anteil in der Hauptschule noch andere Faktoren die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems beeinflussen, zeigt ein Vergleich zweier Flächenstaaten, die beide eine stark frequentierte Hauptschule haben, traditionell dreigliedrig sind, aber nach Block und Klemm im einen Land durchweg günstigen Rahmenbedingungen (Bayern) und im andern eher ungünstige Rahmenbedingungen (Niedersachsen) für schulische Leistungsfähigkeit aufweisen: Bayern: Mittelwert 462, Schüler/innen-Anteil 32,2 %, "Risikogruppe" 13,1 %; Niedersachsen: 410 / 28,3 % / 23,1 %.
Aufschlussreich in unserem Zusammenhang ist schließlich noch ein Hauptschul-Vergleich Niedersachens (traditionell dreigliedrig) mit eher ungünstigen Rahmenbedingungen mit Hessen (viergliedrig) mit durchgängig eher günstigen Rahmenbedingungen und einer dennoch knapp höheren "Risikogruppe": Niedersachsen: Mittelwert 410, Schüler/innen-Anteil 28,3 %, "Risikogruppe" 23,1 %; Hessen: 394 / 15,6 % / 24,4 %.
Der Zusammenhang: Grad der Gliederung in Schularten, Kompetenzniveau an Hauptschulen, deren Frequentierung und "Risikogruppe" eines Landes lässt sich beim Vergleich des traditionell dreigliedrigen mit dem viergliedrigen Schulsystem etwa so formulieren:
- Das traditionell dreigliedrige Schulsystem erreicht, zusammen mit günstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen, hohe Mittelwerte, auch in der Hauptschule, bei einer vergleichsweise geringen "Risikogruppe".
- Das um die Integrierte Gesamtschule als vierte Schulart erweiterte System verringert den Schüler/innen-Anteil an Hauptschulen, vergrößert aber insgesamt die "Risikogruppe" eines Landes.
- Diese Tendenz zeigt selbst der Vergleich des viergliedrigen Systems in Hessen mit durchgängig eher günstigen Rahmenbedingungen für schulisches Lernen mit dem dreigliedrigen System in Niedersachsen mit eher ungünstigen Rahmenbedingungen.
Eine naheliegende Konsequenz aus den Erfahrungen der Länder, die die Integrierte Gesamtschule als vierte Schulform eingeführt haben, scheint, möglichst bald die Hauptschule aufzulösen und ihre Schüler/innen in die übrigen Schularten zu integrieren. Dafür gibt es bereits drei Modelle in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland, - Länder mit ganz unterschiedlich gefärbten Regierungen: mit einer Großen Koalition in Brandenburg, einer SPD/PDS-Regierung in Mecklenburg-Vorpommern und der mit absoluter Mehrheit regierenden CUD im Saarland. Auf die Frage, in welchem Umfange es in diesen Ländern ohne Hauptschule gelingt, Schüler/innen in den unteren Kompetenzbereichen zu fördern und diese "Risikogruppe" möglichst klein zu halten, fällt die Antwort im direkten Vergleich mit den viergliedrigen Systemen durchaus respektabel aus: Das Saarland folgt mit einer "Risikogruppe" von 19,4 % unmittelbar Baden-Württemberg (18,2 %), gefolgt von Brandenburg mit 21,5 % und Mecklenburg-Vorpommern mit 22 %, während am Tabellenende alle viergliedrigen Systeme sich finden, mit einer "Risikogruppe" zwischen 24,4 % und 32,2 %.
Eindrucksvoller noch als die drei Länder ohne Hauptschule präsentieren sich in der Ländervergleichstudie die drei neuen Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, die neben dem Gymnasium nur noch eine Schulart anbieten, die in Sachsen Mittelschule heißt, in Sachsen-Anhalt Sekundarschule und in Thüringen Regelschule, mit Schüler/innen-Anteilen von 61,3, 60,9 und 57,6 %. Diese drei ostdeutschen Länder mit ihren zweigleidrigen Systemen haben ähnlich niedrige "Risikogruppen" oberhalb des OECD-Durchschnitts (21,4 %) wie die westdeutschen Spitzen Bayern (13,1 %), Baden-Württemberg (18,2 %) und das Saarland (19,4 %): Sachsen: 14,3 %, Thüringen: 17,2 % und Sachsen-Anhalt: 19,5 %.
Die drei Länder haben außerdem in den beiden mathematischen Kompetenzbereichen "Veränderungen und Beziehungen" und "Raum und Form" signifikante Zuwächse in den Mittelwerten seit PISA 2000. Im Kompetenz bereich "Veränderungen und Beziehungen" ist die Rangfolge in der Spitzengruppe: Sachsen-Anhalt, Sachsen, Bremen, Brandenburg, Thüringen, Bayern; im Kompetenzbereich "Raum und Form": Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen, Bayern. Das Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als in der Studie von Block und Klemm allen fünf neuen Bundesländern, von den geringen Anteilswerten beim Indikator Migrationshintergrund abgesehen, "eher ungünstige Voraussetzungen beim leistungsmäßigen Wettbewerb ihrer Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu den übrigen Flächenländern" bescheinigt werden.(PISA-Info 15/05, S.26)
Für die sechs Länder ohne Hauptschule: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen lässt sich der Zusammenhang Grad der Gliederung in Schularten, Kompetenzniveau und "Risikogruppe" etwa so formulieren:
- Die Integration der Hauptschule in die anderen Schularten hat dem Leistungsvermögen der Schulen in den betreffenden Ländern, soweit es PISA testet, nicht geschadet, sondern, bezogen auf die Schüler/innen in den unteren Kompetenzbereichen, offensichtlich genutzt. Diese Länder sind, von den sozioökonomisch privilegierten Ländern Bayern und Baden-Württemberg abgesehen, erfolgreicher in diesem Bereich als die Länder, die bislang an der Hauptschule festgehalten haben, von Niedersachsen bis Bremen.
- Noch mehr geholfen hat den Ländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt offensichtlich die Integration aller nichtgymnasialen Schularten.
Der Wettstreit der Systeme findet in den alten Bundesländern nach wie vor statt zwischen den traditionell dreigliedrigen Systemen mit denen, die unter sozialdemokratischen Regierungen um die Integrierte Gesamtschule erweitert wurden. Neu hinzugekommen ist seit der deutschen Einheit – das zeigt die Ländervergleichsstudie 2003 deutlicher als PISA 2000 E – der Wettstreit zwischen Ländern ohne Hauptschule mit denen, die, ob drei- oder viergliedrig, an dieser ungeliebten, weil problemüberfrachteten Schulart festhalten, in der sich ganz überwiegend die "Risikoschüler/innen" versammeln: Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien und Schulen mit einem hohen Prozentanteil an Schüler/innen mit Migrationshintergrund. Wettstreit wird es schließlich auch geben zwischen Ländern ohne Hauptschule mit denen, die neben dem Gymnasium nur noch eine integrierte "Mittelschule" anbieten und damit offensichtlich unter allen Ländern und Systemen zwischen PISA 2000 und 2003 in den getesteten Kompetenzbereichen am erfolgreichsten waren.
Dieser gesamtdeutsche Systemwettstreit – auch das zeigt PISA 2003 E deutlich – ist nicht mehr an parteipolitische Lager gebunden oder auf einer Nord-Süd-Schiene abzubilden. Da wetteifern ost- und westdeutsche Länder miteinander, unionsregierte wie Bayern und Thüringen, Große Koalitionen wie Brandenburg und Bremen, die rot-gelbe Koalition in Rheinland-Pfalz mit der schwarz-gelben in Sachsen-Anhalt. Die Chance bei dieser so bunten Landkarte der Systeme könnte sein, dass wir in der Auseinandersetzung mit einer so groß und langfristig angelegten Studie wie PISA das Lagerdenken überwinden und ohne politische Blockaden aus den empirischen Daten und ihrer Diskussion in Wissenschaft und Medien nüchterne Handlungsstrategien entwickeln für eine Schule, die bei allen Fortschritten in dem einen oder anderen Bundesland noch lange nicht aus ihrem Mittelmaß herausgekommen ist - im Vergleich mit anderen erfolgreicheren Industrienationen. In diesem Prozess der Versachlichung der Auseinandersetzung könnten die neuen Bundesländer eine besondere Rolle spielen.
Die Leistungsbilanz der Integrierten Gesamtschule
Bei den PISA-Ergebnissen der viergliedrigen Systeme mit Integrierten Gesamtschulen und dem relativ hohen Anteil an "Risikoschüler/innen" stellt sich die Frage: Wäre es nicht besser gewesen, wenn sozialdemokratisch geführte Landesregierungen auf die Einführung der Integrierten Gesamtschule verzichtet hätten, nachdem sie sie in der Fläche in keinem Bundesland durchsetzen konnten? Hätte es dieser in Deutschland so umstrittenen Schulform nicht genutzt, man hätte sie durchweg erst einmal als Versuchsschule eingeführt, um mit den Ergebnissen dann einen erneuten Versuch zu starten, sie in der Fläche einzuführen? Man kann solche Fragen stellen, wird sie aber nach drei Jahrzehnten Integrierter Gesamtschule nicht mehr mit einem ja oder nein beantworten können. Aktueller scheint mir die pragmatische Frage: Wie sieht im aktuellen Ländervergleich die Leistungsbilanz dieser Schulart in den viergliedrigen Systemen der alten Bundesländer aus? Wie gelingt es ihr, ihre Schüler/innen in dem in Deutschland so prekären unteren Leistungsbereich zu fördern? Und welche Perspektive hat sie neben den anderen Schularten?
An allen Integrierten Gesamtschulen liegen die Mittelwerte in Mathematik durchweg nahe bei denen der Realschule, allerdings mit einer durchweg größeren "Risikogruppe", aber auch mit fast durchweg höheren Spitzenwerten ; d.h. mit einer größeren Spreizung als in der weniger heterogenen Schülerschaft der Realschule. Die Gesamtschule erreicht dieses Ergebnis in einer nach wie vor harten Konkurrenz zu Gymnasium und Realschule, was den Anteil an leistungsstarken Schülerinnen und Schülern betrifft und obwohl sie, neben einem erheblichen Prozentanteil der von Gymnasium und Realschule im Laufe der Sekundarstufe I abgeschobenen Schülerinnen und Schüler, gerade in den letzten Jahren in verstärktem Maße Schüler/innen integriert, die von der Grundschule für die Hauptschule empfohlen werden und deren Eltern in der Gesamtschule die bessere Perspektive ihrer Kinder sehen.
Wie kommt die Gesamtschule, die ja, von einigen Versuchsschulen abgesehen, nie und nirgends eine wirkliche Gesamt-Schule hat werden können, damit zurecht?
Neu im PISA-Ländervergleich 2003 findet sich ein Beitrag "Schulmerkmale und Schultypen im Vergleich der Länder" (Kap.11), in dem ein Mitarbeiter des PISA-Konsortiums, Martin Senkbeil, aus den Informationen des umfangreichen PISA-Schulfragebogens und auf der Basis internationaler Forschung Typen von Schulen identifiziert und über ihre Verteilung auf die Länder und Schularten berichtet. Er nennt eine ganze Reihe von Faktoren, die die Arbeit einer Schule belasten oder entlasten können und er nennt Aktivitäten, die für eine belastete, aber auch eine unbelastete Schule Handlungsspielräume eröffnen, die für die Entwicklung der Schule günstig sind: personelle und materielle Ressourcen, die Arbeitshaltung von Lehrkräften und Schülerschaft, Kooperation innerhalb der Lehrerschaft, Nutzung verschiedener Evaluationsverfahren, Schulklima, Elternbeteiligung u.a. Er differenziert diese Faktoren noch genauer und kommt zu vier Schultypen mit einem unterschiedlichen Prozentanteil der von PISA getesteten Schulen. Er unterscheidet "unbelastete und aktive Schulen" (15 %), "unbelastete und passive Schulen" (26 %), "belastete und aktive Schulen" (32 %) und "belastete und passive Schulen" (27 %). (S.299 ff.)
Die Verteilung der Schultypen auf die verschiedenen Schularten ergibt u.a.: Integrierte Gesamtschulen weisen den höchsten Prozentanteil an "belasteten Schulen" auf (68 %), zugleich aber auch den höchsten Anteil "aktiver Schulen" (72 %). Bei Hauptschulen ist das Verhältnis 65:32, bei Realschulen 55:29 und bei Gymnasien 52:24. Auch das Verhältnis "unbelasteter Schulen" zu "belasteten" ist mit 32:68 an der Integrierten Gesamtschule ungünstiger noch als an der Hauptschule (35:65) und bei weitem ungünstiger als das der Realschule (45:55) und des Gymnasiums (48:52). (S.310)
Vor dem Hintergrund der Leistungsbilanz der Gesamtschule und der Bedingungen, unter denen sie die Kollegien dieser Schulart erbringen, ist es schwer verständlich, was der Sprecher des PISA-Konsortiums 2003, Manfred Prenzel, über die "belastete", aber "aktive" deutsche Gesamtschule in einem Interview äußert (ZEIT,10.November 05). Auf die Frage, ob es "angesichts des sozial selektiven Gymnasiums nicht sinnvoll" wäre, wieder über die Gesamtschule nachzudenken oder ob das ein Tabu sei, antwortet Prenzel, die "Idee der Gesamtschule" sei "in Deutschland so gegen die Wand gefahren worden, dass es zielführender" sei, "über andere Wege mehr Leistung und Gerechtigkeit zu erreichen". Auf die Bitte des Interviewers, für diese anderen Wege Beispiele zu nennen, verweist Prenzel auf die Verringerung des Zuspätkommens von Schüler/innen, was nach einer PISA-Befragung in Bayern besser gelingt als in Hamburg. Oder der unterschiedlich hohe Prozentanteil "verzögerter Schullaufbahnen" (verzögert durch Klassenwiederholungen und Zurückstellungen), den zu vermindern diesmal nicht Bayern, sondern den neuen Bundesländern Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen am besten gelingt.
Solche Bemühungen gegen die "Idee der Gesamtschule" auszuspielen als "Wege zu mehr Leistung und Gerechtigkeit" ist wohl weniger wissenschaftlich als politisch motiviert. Gerade das Nichtversetzen, zusammen mit dem Abschieben von Schüler/innen in weniger angesehene Schularten, ist doch eng an unser selektives System mit seiner zentralen Tendenz zur Homogenisierung der Lerngruppen gebunden. Es wäre nach PISA 2003 E an der Zeit, dass auch PISA-Autoren sich dazu durchringen, den Zusammenhang von Selektion, "verzögerter Schullaufbahn" und Bildungsgerechtigkeit auch außerhalb der Studie sachlich darzustellen und der deutschen Gesamtschule, die ja unter schwierigen Bedingungen mit hohem pädagogischem Engagement versucht, ohne die selektiven Instrumente wie Nichtversetzung und Abschulung auszukommen, eine faire Beurteilung widerfahren zu lassen.
Die Option einer gemeinsamen Schule für alle in der Sekundarstufe I
Was im innerdeutschen Systemwettstreit fehlt, ist ein System, das sich nicht am erfolgreicheren System eines anderen Bundeslandes orientiert, Nordrhein-Westfalen etwa an Sachsen oder Hessen an Thüringen, sondern an den international erfolgreichen Systemen wie den uns räumlich und kulturell nahen skandinavischen, die sich ja am pädagogischen Konzept der deutschen Gesamtschule orientierten, es aber nicht in einer eigenen Schulart realisierten, sondern in einer gemeinsamen Schule für alle von Klasse 1 bis 9. Näherliegend als die Orientierung an Skandinavien ist darum, sich von den pädagogischen Konzepten deutscher Reformschulen inspirieren zu lassen, die ganz überwiegend Integrierte Gesamtschulen sind. Auch im so erfolgreichen zweigliedrige System Sachsens werden die Gymnasialschüler/innen ausgelesen und es entstehen so zwei unterschiedliche Lernmilieus mit unterschiedlichen Bildungschancen und Bildungsniveaus, für die ja spätestens am Ende der Grundschule die Weichen zu stellen sind und die Entscheidung für eine der beiden Schularten, wie fundiert und wissenschaftlich belastbar auch immer, zu begründen ist.
In PISA 2003 E gibt es einen Beitrag "Soziale Herkunft im Ländervergleich" (Kap.9), der nicht von Mitgliedern des Konsortiums stammt, sondern von den Mitarbeiter/innen Timo Ehmke, Thilo Siegle und Fanny Hohensee. In diesem Kapitel der Studie wird z.T. das nachgeliefert, was in der politisch so griffigen "Vorinformation" fehlte und jetzt parallel gelesen werden kann zu der Studie von Rainer Block und Klaus Klemm (PISA-Info 15/05). In dem Abschnitt "Soziale Herkunft und Bildungsbeteiligung" werten Ehmke, Siegle und Hohensee aus, was sie an empirischen Daten zum Thema soziale Herkunft und Schulerfolg ermittelt haben. Selbst beim Aufbau mathematischer Kompetenz, die doch "größtenteils im schulischen Unterricht" erfolge, bieten Elternhäuser "mit ihren unterschiedlichen Ressoucen mehr oder weniger anregende Entwicklungsniveaus".
Kompetenzunterschiede, die bereits vor Schuleintritt bestehen, aber auch unterschiedliche Qualitäten in der elterlichen Begleitung und Unterstützung der schulischen Lernprozesse tragen zu differenziellen Entwicklungen bei. Schulsystem, die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auf unterschiedliche Schularten verteilen, konfrontieren sie dort mit unterschiedlichen Lernanforderungen. Damit stellt sich im Rahmen von PISA die Frage, inwieweit der beobachtbare Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz über die Bildungsbeteiligung – im Sinne eines Besuchs unterschiedlicher Schularten – moderiert wird. (S.258)
Die Schularten zielten "auf eine möglichst maßgeschneiderte Förderung von Jugendlichen" und da Schüler/innen "aufgrund ihrer Leistung unterschiedliche Schularten" besuchten, bildeten sich dort "leistungshomogene Entwicklungsmilieus, die sich in ihrem Anregungspotential" unterschieden und "im Laufe der Schulzeit kumulativ auf die Leistungsentwicklung" auswirkten.
Die Zuordnung zu Schularten der Schüler/innen "aufgrund ihrer Leistung" wird unmittelbar danach wieder relativiert durch den Hinweis auf "sekundäre Disparitäten". "Primäre Disparitäten" in der Bildungsbeteiligung beruhten "auf Ungleichheiten in den Fähigkeiten und Kompetenzen, die notwendig sind, um an bestimmten Bildungsangeboten teilzunehmen".
Unter "sekundären Disparitäten" verstehe man soziale Unterschiede, die unabhängig von der Kompetenz auftreten. Man könne sie "als einen Indikator für soziale Ungleichheit bei der Verteilung von Bildungs- und damit auch von Lebenschancen betrachten". Hohe sekundäre Disparitäten deuteten darauf hin, "dass Eltern und Lehrkräfte an Bildungsschwellen sozialschichtspezifische Entscheidungen treffen".(S.259)
Auch Lehrkräfte tragen also zur Verstärkung von "sekundären Disparitäten" bei, "indem auf ihre Schullaufbahnempfehlungen neben den Schulleistungen auch sozialschichtspezifisches Sozialverhalten Einfluss" nehme. Allerdings seien, wie Untersuchungen zeigten, die Empfehlungen der Lehrkräfte stärker an den Leistungen der Kinder orientiert als "die Bildungsaspirationen der Eltern".
Es scheinen dabei vor allem das Berufsprestige und weniger der Schulabschluss der Eltern einen Einfluss auf die Entscheidung für weiterführende Schularten auszuüben.(...) Analysen weisen ferner darauf hin, dass Jugendliche aus unteren Schichten bei der Notenvergabe über die bestehenden Leistungsunterschiede hinaus tendenziell benachteiligt werden und Empfehlungen zum höheren Sekundarschulbesuch selbst bei gleichen Noten seltener ausgesprochen werden als für Kinder aus oberen Schichten (...). Die Eltern aus der oberen Sozialschicht besitzen mehr Handlungsmöglichkeiten, um den Schulerfolg ihrer Kinder zu fördern. Sie können möglicherweise riskantere Bildungsentscheidungen treffen, als Eltern mit geringeren sozioökonomischen und kulturellen Ressourcen. Lehrkräfte scheinen dies auch in ihren Übergangsempfehlungen zu berücksichtigen. (S.259 f.)
Es folgt danach die vornehm wissenschaftlich formulierte, aber unmissverständliche Empfehlung an die Politik: "Aus bildungspolitischer Perspektive sind geringe sekundäre Disparitäten wünschenswert, um alle Jugendlichen ihren Kompetenzen entsprechend zu fördern und zum individuellen und gesellschaftlichen Nutzen zu entwickeln." (S.260) Wie aber ist eine solche Empfehlung in Einklang zu bringen mit jener des Konsortiums, "Jugendliche gemäß ihrer Leistung und unabhängig von der sozialen Herkunft in den geeigneten Schularten zu unterrichten"? (PISA-Konsortium Deutschland: PISA 2003: Ergebnisse des zweiten Ländervergleichs. Zusammenfassung. In: PISA-Info der GEW 32/05, S.40)
Was im Wettstreit der innerdeutschen Schulsystem fehlt, ist die mit den Ergebnissen von PISA gut begründbare Option, die frühe Auslese am Ende der Grundschule schon wegen schwer vermeidbarer "sekundärer Disparitäten" auszusetzen und auf die Bildung "leistungshomogener Entwicklungsmilieus, die sich in ihrem Anregungspotential unterscheiden und im Laufe der Schulzeit kumulativ auf die Leistungsentwicklung wirken", zu verzichten.
Es geht bei der inzwischen vollständigen schulpolitischen Zuständigkeit der Länder um die Option eines Schulsystems für ein Bundesland, in dem die Grundschule von der Auslese und einer Schullaufbahnempfehlung für zehnjährige Kinder entlastet wird und die Schulen der Sekundarstufe I, mit Blick auf ihre unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Rahmenbedingungen, dabei unterstützt werden, auf die selektiven Instrumente der Nichtversetzung und der Abschulung in weniger angesehene Schularten zu verzichten und die in der PISA-Studie festgestellten hohen Prozentanteile "verzögerter Schullaufbahnen" zu vermindern. Verbunden ist damit der Anspruch, ähnlich wie in den skandinavischen Staaten, möglichst alle Schülerinnen und Schüler zu einer soliden Grundbildung des Mittleren Schulabschlusses zu führen und so für mehr Jugendliche, ob allgemeinbildend oder berufsbildend, in der Sekundarstufe II die Chance der Hochschulreife zu eröffnen. (V.Merkelbach: Wie kommen wir zu einer guten Schule für alle? Ein Vorschlag zum Verfahren. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Juni 2005)
Im Wettstreit der innerdeutschen Systeme geht es um den Nachweis, dass eine solche Schule, von der Auslese entlastet, mehr Zeit und Energie auf die Entwicklung einer anderen Lernkultur verwenden kann, für gemeinsames Lernen in heterogenen Lerngruppen und für die zeitaufwendige und pädagogisch anspruchsvolle individuelle Förderung nach dem Leistungsvermögen jedes Einzelnen. Dass eine solche Schule, die seit PISA 2000 verstärkt von Organisationen der Lehrer/innen, der Eltern und nicht zuletzt der Wirtschaft gefordert wird, keine Utopie darstellt, haben nicht nur die Skandinavier eindrucksvoll unter Beweis gestellt, ihr liegt das pädagogische Konzept vieler deutscher Reformschulen, insbesondere Integrierter Gesamtschulen, zugrunde, die damit, soweit sie an internationalen Tests wie TIMSS und PISA sich beteiligten, durchweg gute und zum Teil hervorragende Ergebnisse erzielt haben. Das Know-how einer solchen gemeinsamen Schule für alle steht auch bei uns zur Verfügung und muss gar nicht importiert werden. (V.Merkelbach: Schulpolitik nach der Bundestagswahl. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ Oktober 2005)
Wenn wirklich die zentralen Defizite der deutschen Schule ihre enge Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg sind und der damit eng verbundene hohe Anteil an Schüler/innen, die mit einer völlig unzureichenden Grundbildung aus der Schule entlassen werden, dann sollte das integrative Schulmodell auf Länderebene eine Chance bekommen und nicht mehr mit den Reflexen aus der Zeit des Kalten Krieges oder des schulpolitischen Kulturkampfes der 1970er Jahre diskriminiert werden. Der erste Testlauf einer Auseinandersetzung um ein integriertes Schulsystem fand bereits statt im schleswig-holsteinischem Landtagswahlkampf zu Beginn des Jahres 2005. Dass das von der SPD konzipierte, langfristig angelegte Konzept einer "Gemeinschaftsschule" nach der Landtagswahl in einer Großen Koalition nicht zum Tragen kam, war wohl weniger bildungspolitisch als bundespolitisch (Arbeitsmarkt) begründet und bleibt ja wohl auf der Agenda der SPD als ein Schulmodell mit Zukunft.
Dass die deutsche Schule, besonders nach der deutschen Einheit, kein monolithischer Block eines aus dem 19.Jahrhundert überkommenen Systems mehr ist, sondern längst eine bunte Landkarte unterschiedlicher struktureller Ausformungen, - das zu zeigen und gleichzeitig auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Systeme und Schularten in gesellschaftlich relevanten Kompetenzbereichen detailliert aufmerksam gemacht zu haben, ist unbestreitbar das Verdienst der Ländervergleichstudie PISA 2003. Dass Schule mehr ist und mehr leistet als das, was PISA testet, schmälert nicht das Verdienst der Studie. Sie bleibt international und auf die Bundesländer bezogen ein wichtiger Impulsgeber der bildungspolitischen Debatte über eine gute Schule für alle Kinder.