Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Das Ende der Hauptschule und die Auswirkungen auf die Strukturmodelle der Länder

Februar 2011

 

 

Während PISA 2000 mit seinen alarmierenden Ergebnissen zur Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems über Wochen und Monate die Medien beschäftigte, hat sich die Debatte über PISA 2009 bereits nach wenigen Tagen erschöpft. „PISA macht Freude“ resümiert Thomas Kerstan am 9.12.2010 auf der Titelseite der ZEIT, bereits zwei Tage nach Veröffentlichung der Ergebnisse. Deutschland habe sich als eines der wenigen Länder in fast allen Disziplinen verbessert. In Mathematik und Naturwissenschaften liegen wir überm OECD-Durchschnitt, im Lesen immerhin im Mittelfeld. Besonders erfreulich für Kerstan ist, dass der Erfolg darauf basiere, „dass vor allem Kinder der Arbeiter und der Einwanderer deutlich aufgeholt“ hätten und Deutschland auch in „sozialer Ungerechtigkeit“ „nicht mehr Spitze, sondern immerhin Mittelmaß“ sei.

 

 

Ernüchternd gegenüber soviel PISA-Freude die Einschätzung der OECD-Zentrale in Berlin zu PISA 2009 und zum Thema „soziale Ungerechtigkeit“:

 

Die Unterschiede in den Schulleistungen sind nach wie vor stark geprägt durch den sozio-ökonomischen Hintergrund der Familien, aber mehr noch der Schulen. Der Leistungsabstand zweier Schüler mit ähnlichem Hintergrund beträgt in Deutschland mehr als 100 PISA-Punkte, je nach dem, ob er auf eine Schule mit günstigem oder ungünstigem Umfeld geht. In keinem anderen Land hat ein sozial ungünstiges Schulumfeld einen derart starken Einfluss auf die Leistungen von Kindern aus sozial schwachen Familien. (http://bildungsklick.de /7.10.2010)

 

Bereits PISA 2000 hat gegen den erbitterten Widerstand der Bildungspolitik, mit der KMK an der Spitze, die angeblich so nutzlose Strukturdebatte ausgelöst, die in den zurückliegenden Jahren zu erheblichen Strukturveränderungen in den einzelnen Bundesländern führte.

Vor allem der hohe Anteil an „Risikoschüler/innen“ rückte die Schulform ins Blickfeld der öffentlichen Debatte, in der die am Ende der Pflichtschulzeit so schwer vermittelbaren Jugendlichen fast unter sich sind: die Hauptschule. (Dass die Sonderschule mit ihrer noch gesteigerten Problematik bei PISA nicht vorkommt, geschieht mangels vergleichbarer Schulformen in den meisten übrigen PISA-Ländern.)

 

Stimulierend für die Hauptschul-Debatte waren auch Studien des ersten deutschen PISA-Koordinators, Jürgen Baumert, der besondere schulformspezifische Lernmilieus beschrieben hat, die besagen, dass Kinder mit vergleichbaren Lernvoraussetzungen ganz unterschiedlich erfolgreich sind, je nach dem, ob sie von der Grundschule der Hauptschule oder einer anderen Schulform der Sekundarstufe I zugewiesen werden.

 

Die neuen Bundesländer

 

Spätestens nach PISA 2003 und dem nach wie vor hohen Anteil an „Risikoschüler/innen“ gerieten ostdeutsche Länder wie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ins Blickfeld der öffentlichen Debatte. Dort gab es bald nach der Wende neben dem Gymnasium nur noch eine Schulform: die Mittelschule in Sachsen, die Sekundarschule in Sachsen-Anhalt und die Regelschule in Thüringen. In diesen Schulen mit einem Schüleranteil von plus/minus 60 Prozent fand sich ein signifikant geringerer Anteil an „Risikoschüler/innen“ als dies in den Schulen der meisten alten Bundesländer der Fall war.

 

Offensichtlich gab es in der einzigen nichtgymnasialen Schule für Kinder, die sonst der Hauptschule zugewiesen werden, ein anregungsreicheres Lernmilieu, zumindest in den Klassen 5 und 6, in denen integrativ unterrichtet wird. Ab Klasse 7 gibt es dann auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen.

 

Auch in den beiden anderen neuen Bundesländern, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, gibt es keine eigenständige Hauptschule. In Brandenburg gab es nach der Wende neben Gymnasien nur Realschulen und Integrierte Gesamtschulen. 2005 wurden Realschulen und Gesamtschulen ohne eigene Oberstufe zu „Oberschulen“, die mit Klasse 10 enden. Angestrebt wird offiziell das zweigliedrige sächsische Schulmodell. Mecklenburg-Vorpommern startete nach der Wende traditionell dreigliedrig. Inzwischen gibt es neben Gymnasien und einigen Integrierten Gesamtschulen eine „Regionalschule“, in der Haupt- und Realschulen zusammengeführt werden, mit äußerer Fachleistungsdifferenzierung.

 

Eine neue Entwicklung brachten zwei Große Koalitionen in Sachsen und Thüringen:

 

In Sachsen erreichte die SPD im Koalitionsvertrag mit der CDU 2004, dass es neben Gymnasium und der Mittelschule eine Gemeinschaftsschule als Schulversuch geben soll, mit gemeinsamem Lernen über die Klassen 5 und 6 hinaus. Die CDU hat diesen Versuch von Anfang an nicht wirklich akzeptiert und ihn, wo es nur ging, behindert. Der Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb führte dann auch sehr bald zu dem Beschluss: „Im Jahr 2014 läuft der Schulversuch aus.“ (http://bildungsklick.de/ 9.11.2009)

 

Anders in Thüringen, wo auf Initiative der SPD auch eine Gemeinschaftsschule beschlossen wurde, die als Ganztagsschule mindestens bis zum Ende der 8.Klasse integriert unterrichtet. Sie ist als weitere Schulart neben Gymnasium und der „Regelschule“ 2010 ins Schulgesetz aufgenommen worden. Sowohl die Regelschule aus Haupt- und Realschule als auch das Gymnasium können sich mit Zustimmung der Eltern und des Schulträgers in eine Gemeinschaftsschule umwandeln. Bei entsprechender Größe hat die neue Schulform eine eigene Oberstufe oder sie muss mit einem benachbarten Gymnasium kooperieren.

 

Die alten Bundesländer

 

Die eigenständige Hauptschule ist also vor allem ein Problem der alten Bundesländer, wo schon lange vor PISA 2000 immer mehr Eltern versuchten, diese Schulform für ihr Kind zu vermeiden. Wie haben die alten Bundesländer auf diese schwindende Akzeptanz der Hauptschule und den hohen Anteil an „Risikoschüler/innen“, den PISA 2000 zum ersten Mal öffentlich machte, bislang reagiert?

 

Hamburg

Hamburg hat als erstes unter den alten Bundesländern nach PISA 2003 über die Abschaffung eigenständiger Hauptschulen nachgedacht und sich schließlich für ein Zwei-Säulen-Modell entschieden, mit Gymnasium und einer „Stadtteilschule“, in der alle nichtgymnasialen Schulformen zusammengeführt werden. Das ist auch nach dem Volksentscheid von 2010, in dem ja nur die sechsjährige Primarschule, nicht aber das Zwei-Säulen-Modell abgelehnt wurden, ein parteiübergreifender Konsens. Im Unterschied zu dem zweigliedrigen Modell in den neuen Bundesländern führt die Stadtteilschule nach 13 Schuljahren auch direkt, d.h. ohne Schulwechsel, zum Abitur. Eltern können am Ende der jetzt wieder vierjährigen Grundschule für ihr Kind eine der beiden Schulformen frei wählen. Wieweit das Gymnasium noch Schüler/innen in die Stadtteilschule abgeben kann, wird wohl erst eine neue Regierung entscheiden.

 

Schleswig-Holstein

Nach Hamburg hat auch das benachbarte Schleswig-Holstein in einer Großen Koalition die Hauptschule als eigenständige Schulform abgeschafft. Neben dem Gymnasium und einer Gemeinschaftsschule mit Gymnasialstandard gibt es zur Zeit noch die „Regionalschule“, in der Haupt- und Realschulen fusionieren und in der bis Ende von Klasse 6 integriert unterrichtet wird. Erst danach geht es, wie in Sachsens Mittelschule, abschlussbezogen in Haupt- und Realschulklassen weiter. Dabei ist offen, was aus dieser neuen Schulform in der Konkurrenz zur boomenden Gemeinschaftsschule wird. Die schwarz-gelbe Landesregierung versucht allerdings in einer Schulgesetznovelle das gemeinsame Lernen dadurch zurückzudrängen, dass sie auch den Gemeinschaftsschulen die Bildung von schulformbezogenen Klassen genehmigen wird.

 

Berlin

Berlin nahm auch Maß am Hamburger Strukturmodell. Neben dem G8-Gymnasium gibt es künftig nur noch eine Integrierte Sekundarschule, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule fusionieren und die nach 12 oder 13 Schuljahren auch zum Abitur führt. Die Eltern können am Ende der sechsjährigen Grundschule frei wählen zwischen Gymnasium und Sekundarschule. Das Gymnasium hat allerdings nach einem Probejahr für alle (7.Schuljahr) die Möglichkeit, Kinder an die Sekundarschule zu überweisen.

 

Bremen

Nach Hamburg und Berlin hat der dritte Stadtstaat Bremen nach einem parteiübergreifenden Kompromiss zwischen SPD, den Grünen und der CDU ein Zwei-Säulen-Modell beschlossen, wobei es neben G8 eine „Oberschule“ geben wird, in der alle nichtgymnasialen Schulformen, Haupt-, Real- und Gesamtschule, fusionieren. Die Oberschule führt, wie in Berlin, nach 12 oder 13 Schuljahren auch zum Abitur. Nach der freien Wahl der Eltern am Ende von Klasse 4 sind beide Schulformen verpflichtet, ihre Schüler/innen zu einem Abschluss zu führen, zum Hauptschulabschluss, zum Mittleren Abschluss oder zum Abitur. D.h. die entscheidende Differenz der beiden Schulformen ist in Bremen nur noch die verkürzte Gymnasialzeit in der Sekundarstufe I und das dadurch erhöhte Lerntempo am Gymnasium.

 

Nordrhein-Westfalen

Die eigenständige Hauptschule, an der Schwarz-Gelb mit erheblichem finanziellem Aufwand festhalten wollte, wird unter Rot-Grün in eine verbundene Haupt- und Realschule einmünden oder in die neue „Gemeinschaftsschule“ mit Gymnasialstandard. Es wird nach dem Plan von Rot-Grün bei dramatisch rückläufigen Schülerzahlen wohl längerfristig nur noch Gymnasien, Integrierte Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen geben.

 

Saarland

Im Saarland gab es schon vor PISA 2000 keine eigenständigen Hauptschulen mehr. Die Koalition aus CDU, FDP und den Grünen plant neben G8 eine „Gemeinschaftsschule“, in der die Erweiterte Realschule und die Integrierte Gesamtschule zusammengeführt werden. Die neue Schulform führt nach 13 Schuljahren auch zum Abitur. Die SPD ist nicht gegen das Zwei-Säulen-Modell, macht aber ihre Zustimmung zu der notwendigen Verfassungsänderung von einer Reihe von Änderungen abhängig.

 

Rheinland-Pfalz

Bis zum Schuljahr 2013/14 soll es in Rheinland-Pfalz keine Hauptschulen mehr geben. Neben dem Gymnasium und der Integrierten Gesamtschule wird es dann nur noch die neue „Realschule plus“ geben, mit einer Orientierungsstufe und maximal 25 Schüler/innen pro Klasse. Die neue Schule kann nach Klasse 10 an eine Fachoberschule angebunden sein und mit einem Oberstufenangebot in Klasse 11 und 12 zur Fachhochschulreife führen.

 

 

Hessen und Niedersachsen

In Hessen und Niedersachsen, wo, wie in NRW, schwarz-gelbe Landesregierungen viel investiert haben, um den Trend weg von der Hauptschule zu stoppen, hat man inzwischen den Kampf aufgegeben.

 

In Hessen sollen die letzten fünf eigenständigen Hauptschulen auslaufen oder sich eine Realschule als Partner suchen. Alle bestehenden Haupt- und Realschulen können „Mittelstufenschule“ werden, mit einer „Aufbaustufe“ in den Jahrgangsstufen 5 bis 7. Spätestens am Ende von Klasse 7 entscheidet sich, wer sich in einem „praxisorientierten Bildungsgang“ auf den Hauptschulabschluss vorbereitet oder in einem dreijährigen Bildungsgang auf den Realschulabschluss. Längerfristig soll es also in Hessen nach dem Plan der CDU/FDP-Koalition neben dem Gymnasium und der Integrierten Gesamtschule nur noch die neue „Mittelstufenschule“ geben, in der, wenn eine Schule dies will, von 5 bis Ende 7 auch schulformübergreifend unterrichtet werden kann.

 

Ein neuer Schulplan in Niedersachsen unter Schwarz-Gelb sieht vor, Haupt-, Real- und Kooperative Gesamtschule zu einer neuen Schulform, der „Oberschule“, zusammenzuführen. Die neue Schule hat zwei „Angebotsprofile“: Ohne Gymnasialangebot kann sie zweizügig starten, mit einem Gymnasialzweig muss sie mindestens dreizügig geführt werden.

Im Unterschied zur zwei- oder dreizügigen Oberschule muss eine neue IGS in Niedersachsen weiterhin fünfzügig beginnen.

 

Baden-Württemberg und Bayern

Selbst in den beiden Süd-Ländern, der bislang scheinbar unangefochtenen Bastion der traditionellen Dreigliedrigkeit, wo durch hohe Hürden vor der Realschule und vor allem vor dem Gymnasium die Hauptschule noch relativ stark frequentiert ist, schwindet rapide deren Akzeptanz bei den Eltern. Beide Landesregierungen wollen, um den Trend weg von der Hauptschule zu stoppen, allerdings keine Fusion mit der Realschule, sondern erst einmal wenigstens das unattraktiv gewordene Türschild „Hauptschule“ ändern.

 

In Baden-Württemberg gibt es neben Gymnasien und Realschulen auch Hauptschulen, in denen man ein 10.Schuljahr besuchen kann, das als „Werkrealschule“ bezeichnet wird. Nun sollen alle Hauptschulen, die wenigstens zweizügig sind, sich in Werkrealschulen umbenennen dürfen, also nicht mehr Hauptschulen heißen.

 

Auch Bayern will die Hauptschule nicht abschaffen, sondern in „Mittelschule“ umbenennen. Kleine Hauptschulen, die allein nicht mehr existenzfähig sind und deren Schließung droht, können sich mit andern Hauptschulen zu einem Schulverbund zusammenschließen. Von den fast 1000 bayerischen Hauptschulen ist etwa ein Drittel nur noch einzügig. Der Mehrwert einer Mittelschule gegenüber der Hauptschule ist nach Aussage des Ministeriums eine verstärkte Berufsorientierung und eine erweiterte individuelle Förderung durch Ganztagsangebote.

 

 

Ausblick

 

Wer sich nach PISA 2000 an den massiven Widerstand der Politik gegen eine neue Strukturdebatte erinnert, kann nach 10 Jahren PISA feststellen, dass nach den neuen Bundesländern auch die alten, von den beiden Süd-Ländern abgesehen, die Hauptschule als eigenständige Schulform abgeschafft haben oder abschaffen wollen. Zu deprimierend, ja skandalös war das Ergebnis der Studie, dass das hierarchisch gegliederte deutsche Schulsystem fast ein Viertel seiner 15-Jährigen als „Risikoschüler/innen“ auf bestenfalls Grundschulniveau und ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus der allgemeinbildenden Schule entlässt, mit all den sozialen Problemen, die das zur Folge hat.

 

In allen Bundesländern ohne Hauptschule sind Rahmenbedingungen entstanden, die für die bislang in Hauptschulen ausgesonderten Kinder und Jugendlichen ein anregungsreicheres Lernmilieu in Aussicht stellen. Ein Vergleich Strukturveränderungen in den einzelnen Bundesländern zeigt allerdings, dass der Reformprozess unterschiedlich weit gediehen ist. Wenn man davon ausgeht, dass das Gymnasium mit seiner kampagnenfähigen Lobby erst einmal nicht bereit sein wird, seine überwiegend leistungsstarken Schüler/innen in eine Schule für alle Kinder einzubringen, so stellt sich die Frage:

 

In welchen der genannten Modelle kann sich neben dem Gymnasium eine Schule entwickeln, die das leistet, was unsere besten Reformschulen ja schon zu leisten in der Lage sind, nämlich stark heterogene Lerngruppen so zu fördern, dass alle, die leistungsstarken und die leistungsschwächeren, die schnellen und die langsamen Lerner, gleichermaßen kognitiv auf ihre Kosten kommen, ihren Möglichkeiten entsprechend einen qualifizierten Abschluss erreichen und dabei auch eine gute soziale Kompetenz entwickeln können?

 

Für die Beantwortung einer solchen Frage setzen die drei Stadtstaaten und das Saarland mit ihren Zwei-Säulen-Modellen und dem direkten Zugang zum Abitur auch der zweiten Säule einen Maßstab für alle übrigen Bundesländer, für die alten, aber auch für die neuen; denn die zweite Säule ist in diesen Modellen eine Schule, die, bei bedarfsgerechter Ressourcenzuteilung, ein Lernmilieu schaffen kann, das auch Eltern von leistungsstarken Schüler/innen überzeugt, wie wir das bei erfolgreichen Gesamtschulen beobachten können. Die zweite Säule kann sich so zu einer Schule entwickeln, und das ist für das Gesamtsystem ein nicht zu unterschätzendes Argument, die das von so vielen Eltern heißbegehrte Gymnasium in einem pädagogischen Wettbewerb herauszufordern vermag.

 

An diesen Zwei-Säulen-Modellen sollten die Pläne gemessen werden, in denen es weiterhin neben Gymnasium und der zweiten Säule mit Gymnasialstandard eine dritte Schulform aus Haupt- und Realschule gibt: die Regionalschule in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern, die Regelschule in Thüringen, die Mittelstufenschule in Hessen, die Realschule plus in Rheinland-Pfalz, die Oberschule in Brandenburg und neuerdings in Niedersachsen. Wie sollen diese Schulen es schaffen, in der Konkurrenz zu den beiden Schulformen, die zum Abitur führen, und bei rückläufigen Schülerzahlen dem Schicksal der Hauptschule als Restschule zu entgehen?

 

Wenn zu den Erfolgen von PISA 2009 auch die Verminderung der „Risikogruppe“ gezählt wird (im Lesen jetzt 18,5 statt 22, 6 Prozent in PISA 2000), so bedeutet das zum einen, dass immer noch mehr als jeder sechste Jugendliche ohne einen Mindeststandard im zentralen Lernbereich Lesen die allgemeinbildende Schule verlässt. Zum andern bleibt in diesem Zahlenspiel unberücksichtigt, dass es neben der vor allem betroffenen Hauptschule noch die deutsche Sonderschule gibt, mit der PISA als internationale Vergleichsstudie nichts anzufangen weiß, die aber, was das vorherrschende Lernmilieu betrifft, noch viel anregungsärmer ist als die Hauptschule.

 

Es handelt sich in der Sonderschule neben Kindern mit geistigen und körperlichen Handicaps zu mehr als zwei Drittel um Schüler/innen aus dem Förderschwerpunkt Lernen. Nach einer Statistik von 2009 haben insgesamt 480 000 Schüler/innen einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das sind rund sechs Prozent aller Schüler/innen in Deutschland, von denen fast 80 Prozent keinen Hauptschulabschluss erreichen, trotz intensiver Förderung in kleinen Gruppen. 480 000 Schüler/innen kommen also in der von PISA ausgemachten „Risikogruppe“ gar nicht vor und sie sind bei allen Bemühungen ihrer Lehrer/innen am Ende der Schulzeit für einen Ausbildungsplatz kaum vermittelbar. (http://bildungsklick.de /29.11.2010)

 

Das sich abzeichnende Ende der Hauptschule wurde sehr stark von der PISA-Studie und der sich anschließenden Debatte beeinflusst. Dass nun auch die Aufmerksamkeit der Bildungsdebatte auf das noch anregungsärmere Lernmilieu am Ende der Abwärtsspirale des deutschen Schulsystems, auf die Sonderschule, sich richtet, ist nicht das Verdienst von PISA. Es ist die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, zu deren Umsetzung die Bundesrepublik sich verpflichtet hat und die vehement die Auflösung der deutschen Sonderschule in eine inklusive Schule fordert.

 

Diese Konvention stimuliert mit ihrer zentralen Forderung viel stärker als PISA das Nachdenken über eine grundlegende Reform des bislang so selektiven deutschen Schulsystems. Sie kann eine Entwicklung befördern, in deren Verlauf alle unsere Schulen, auch die Gymnasien, von der Last des Sortierens von Kindern und Jungendlichen befreit, sich ganz dem gemeinsamen Lernen und der individuellen Förderung widmen können.

 

 

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  letzte Änderung: 03.02.11
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Letzte Aktualisierung: 01.02.2011