Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Das Recht auf Bildung in einem zweigliedrigen Schulsystem

August 2007

Das Recht auf Bildung in einem zweigliedrigen Schulsystem

Schon in den Jahren vor der Veröffentlichung von PISA 2000 wurde von nationalen und internationalen Studien dem deutschen Schulsystem Leistungsschwäche und massive soziale Auslese bescheinigt und über Strukturreformen nachgedacht, die den Schulstreit "hierarchisch gegliedertes System vs. Gesamtschule" entschärfen sollten. Neben einer sechsjährigen Grundschule, wie sie nur in Berlin die Schulreform nach 1945 überlebt hat, wurde auch die Frage erörtert, ob nicht der Streit der politischen Lager zu schlichten wäre, indem man das drei- bzw. viergliedrige System in der Sekundarstufe I auf ein zweigliedriges reduziert, um so vor allem die wachsenden Probleme an Hauptschulen in den Griff zu bekommen. Schließlich war unser Schulsystem ja schon einmal zweigliedrig, als es neben dem Gymnasium, der einstigen "Gelehrtenschule", nur die Volkschule gab, ehe in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert die Realschule als "Mittelschule" hinzukam und in den 1960er Jahren sozialdemokratisch geführte Landesregierungen die Gesamtschule, zwar nicht in Fläche, aber als vierte Regelschule, durchsetzte.

Die Debatte über Zweigliedrigkeit war eine unter Experten, keine öffentliche. Erst die PISA-Studien lenkten die Aufmerksamkeit auf die bereits bestehenden zweigliedrigen Systeme in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, in Ländern, die nach der Wende nicht bereit waren, die vollständige Anpassung an das Schulsystem im Westen zu vollziehen. Diese drei Länder waren in PISA 2003 die eigentlichen Sieger im innerdeutschen Vergleich, sowohl was das Problem der "Risikogruppe" als auch der sozialen Auslese betraf. Seitdem ist Zweigliedrigkeit ein Thema auch in der öffentlichen Debatte, - verstärkt, wie gesagt, durch die Probleme an der Hauptschule, die von immer weniger Eltern akzeptiert wird, weil sie, mit oder ohne ihren Abschluss, kaum noch eine Perspektive bietet für eine erfolgreiche Bewerbung um einen Ausbildungsplatz. So zwingt das Hauptschulproblem auch unionsregierte Länder, selbst im Süden der Republik, über Strukturveränderungen nachzudenken, und was liegt da näher, wenn man die Gesamtschule bis Ende 10 nicht will, das Gymnasium aber auch in der Sekundarstufe I erhalten möchte, über eine gemeinsame Schule für die Leistungsschwächeren nachzudenken, neben einer Schule für die "Leistungsträger".

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Das Zwei-Wege-Modell von Klaus Hurrelmann

Klaus Hurrelmann, Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und verantwortlicher Leiter der neuen Shell-Jugendstudie, wiederholt in einem Offenen Brief an die Kultusministerkonferenz vom 27.10.06 seinen bereits 1991 gemachten Vorschlag, das drei- und viergliedrige deutsche Schulsystem durch ein zweigliedriges, ein "Zwei-Wege-Modell", zu ersetzen. Neben Gymnasium als einer "wissenschafts- und fächerstrukturierten Lernschule" werden alle andern Schulformen der Sekundarstufe I "zu einer neuartigen berufs- und lebenspraxisorientierten Schulform" vereint, die "Sekundarschule" heißen soll. Die neue Schulform führt eine "eigene Oberstufe, die sich aus den heutigen Berufsschulen und Berufskollegs bildet und neben den berufsbezogenen Abschlüssen auch die Fachhochschulreife und die Hochschulreife als Abschluss anbietet". (www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag4/)

Ein leitendes Motiv Hurrelmanns war 1991 und ist verstärkt 15 Jahre später das Elend der Hauptschule, an der der Anteil der sozial benachteiligten Schüler/innen, darunter viele mit Migrationshintergrund, ständig steige.

Der Schulform Hauptschule werden auf diese Weise soziale, ethnische, religiöse und geschlechtsspezifische Integrationsleistungen abverlangt, die sie mit ihren heutigen Strukturen nicht bewältigen kann. Das Resultat ist ein erschöpftes und resigniertes Lehrerkollegium, eine frustrierte Schülerschaft und eine schwindende Akzeptanz dieser Schulform in der Elternschaft. Mit vermehrten persönlichen Bemühungen und pädagogischen Anstrengungen kann auch der beste Hauptschullehrer und die beste Hauptschullehrerin in dieser Ausgangssituation nichts mehr bewegen. Es muss eine Lösung struktureller Natur eingeleitet werden.

Die neue "Sekundarschule" versteht Hurrelmann "als pädagogischen Unterbau des dualen Ausbildungssystems und des Berufsschulsektors". Um die Schule bundesweit attraktiv zu machen, soll sie bei der Einrichtung von Ganztagsangeboten bevorzugt werden. Kinder, die nach der Grundschule in einen der beiden Wege "eingemündet" sind, haben das Recht, "diesen Weg kontinuierlich weiterzugehen und ihre Schullaufbahn an der einmal gewählten Schulform auch beenden zu können". "Überweisungen an die jeweils andere Schulform sollten nur im allseitigen Einvernehmen möglich sein". Durch die Möglichkeit der Überweisung allein durch die Schule sei "eine institutionelle pädagogische Verantwortungslosigkeit entstanden, die einer Förderkultur" entgegenstehe. Zur Bekräftigung dieser Förderkultur sollte "unbedingt das jetzige Institut des ‚Hauptschulabschlusses’ abgeschafft und durch ein von beiden verbleibenden Schulformen der Sekundarstufe I zu vergebendes einheitliches Abschlusszeugnis ersetzt werden".

Der "organisatorische Umbauaufwand", stellt Hurrelmann der KMK in Aussicht, sei überschaubar; denn jede "Hauptschule, Realschule, Gesamtschule und Berufsschule" könne "zum Kristallisationspunkt einer Sekundarschule des neuen Typs werden". Außerdem könne "auf diese Weise auf die sich abzeichnende Schrumpfung der Schülerzahlen reagiert werden".

Klaus Hurrelmanns Gründe für eine Auflösung der Hauptschule teile ich, auch dass die beiden Schulformen gleichrangig sein sollen und Schüler/innen nicht mehr abgeschult werden, weil das einer "Förderkultur" entgegenstehe. Wenn die KMK den Hauptschulabschluss abschaffte und die beiden Schulformen nur noch einen Mittleren Abschluss vergeben würden, - ich hätte nichts dagegen. Mit dem Vorschlag, zehnjährige Kinder statt in die traditionellen, hierarchisch gegliederten Schulformen zu überweisen auf zwei Wege "einmünden" zu lassen, mit einem "wissenschaftsorientierten Allgemeinbildungsprogramm" und einem "berufsbezogenen" Curriculum, verabschiedet sich Hurrelmann allerdings von einer allgemeinbildenden Schule für alle und einem von der Verfassung geforderten gleichen Recht auf Bildung. Während die Hauptschule immer weniger dieses Verfassungsgebot zu erfüllen vermag und in den Abschlussklassen bereits immer mehr zu einer ausbildungsorientierten Veranstaltung geworden ist, soll die neue Sekundarschule, in einem gewiss anregungsreicheren Lernmilieu, dies vom Ende der Grundschule an nun offiziell werden.

Was bedeutet in Hurrelmanns "Zwei-Wege-Modell" die Metapher "einmünden"? Wer ist der Lotse dieses Manövers? Soll es weiterhin eine selektierende Grundschule sein, der man in zahlreichen Studien nachgewiesen hat, wie viele Fehlentscheidungen sie bei zehnjährigen Kindern trifft, ja gar nicht vermeiden kann? Dürfen die Eltern allein diese folgenreiche Entscheidung für einen der beiden Wege treffen? Und wie wird in beiden Fällen das Ergebnis sein, - auch unter dem Aspekt der sozialen Auslese?

Bei Hurrelmanns Forderung, "Überweisungen an die jeweils andere Schulform" sollten nur noch "im allseitigen Einvernehmen möglich sein", stellt sich die Frage: Wie soll eine Schülerin, wenn sie und ihre Eltern das zwischen Klasse 5 und 10 wollten, von der "berufsorientierten" Sekundarschule mit ihrem spezifischen Curriculum auf ein "wissenschaftsorientiertes" Gymnasium wechseln oder umgekehrt? Die von den Schulgesetzen aller Bundesländer geforderte Durchlässigkeit der Schulformen, die ohnehin fast nur noch von oben nach unten funktioniert, wird dann aus curricularen Gründen endgültig zum Erliegen kommen.

Noch geht das bereits bestehende Zwei-Säulen-Modell in den drei neuen Bundesländern nicht so weit, die "Sekundarschule", wie sie auch in Sachsen-Anhalt heißt, als "pädagogischen Unterbau des dualen Ausbildungssystems und des Berufsschulsektors" zu planen und das "wissenschaftsorientierte Allgemeinbildungsprogramm" dem Gymnasium vorzubehalten. Verfassungsgemäß scheint mir darum: Erst nach einem Mittleren Abschluss darf, im Einverständnis mit den dann 15/16-jährigen Schüler/innen, die Entscheidung für einen der beiden Wege fallen. Beide Wege der Sekundarstufe II sollten zur Hochschulreife führen, wie das in einigen Bundesländern schon verstärkt angestrebt wird, um die zu niedrige Abiturientenquote zu erhöhen. Das geschieht ja inzwischen nicht nur im Hinblick auf ein Studium, sondern weil immer mehr Ausbildungsbetriebe das Abitur jedem anderen Abschluss, auch dem Mittleren, vorziehen. Sie tun das, obwohl der "berufsorientierte" Anteil am gymnasialen Curriculum noch kaum entwickelt ist.

Es gibt genügend Reformschulen der Sekundarstufe I bei uns, in denen Wissenschaftsorientierung und Berufsorientierung zwei Seiten einer Medaille und integrale Bestandteile einer Allgemeinbildung sind, die weder auf Kopf noch auf Hand und Herz verzichten kann, um nicht in der einen oder anderen Richtung gravierende Bildungslücken zu riskieren.

Hamburgs CDU plant zweigliedrig

Ganz im Sinne Klaus Hurrelmanns und angeregt durch die bei PISA 2003 erfolgreichen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hat sich das CDU-regierte Hamburg entschlossen, seine Schulformen auf zwei zu reduzieren. Neben dem Gymnasium soll es nur noch eine Schulform geben, die "Stadtteilschule", in der die nichtgymnasialen Schulformen - Hauptschule, Integrierte Haupt- und Realschule, Realschule und Gesamtschule – aufgehen. Die Eltern können nach einem Test am Ende der Grundschule und einem Beratungsgespräch mit den Lehrer/innen der Grundschule sich entscheiden, ob sie ihr Kind an einem Gymnasium oder einer Stadtteilschule anmelden. Bis Ende von Klasse 6 können Schüler/innen zwischen beiden Schulformen wechseln. Dann entscheidet das Gymnasium für sich, wer bleiben darf oder in eine Stadtteilschule wechseln muss. In beiden Schulformen gibt es am Ende der Sekundarstufe I zwei Abschlüsse: nach Klasse 9 den Ersten Bildungsabschluss und nach Klasse 10 den Mittleren Abschluss. In der Stadtteilschule, in die auch die beruflichen Gymnasien und die Abendgymnasien integriert werden sollen, kann man am Ende von Klasse 12 die Fachhochschulreife erlangen und nach Klasse 13 das Abitur. Das Gymnasium führt bereits nach Klasse 12 zum Abitur. In der Stadtteilschule wird das Sitzenbleiben abgeschafft. (Merkelbach 2007, S.7 ff.)

Wie wurde dieser, für eine CDU-Regierung spektakuläre Plan aufgenommen? Dazu sollen im Folgenden die Einschätzungen von drei Experten dargestellt und erörtert werden.

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"Bei Weitem das intelligenteste Konzept"

In einem ZEIT-Interview vom 18.1.07 fragt Martin Spiewak den Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth, ob sich mit dem Hamburger Schulplan nicht nach Jahrzehnten des Streits um die Schulstruktur "ein historischer Kompromiss" anbahne. Tenorths Antwort:

Das könnte durchaus sein. Ich war sehr angetan, als ich das Papier der Hamburger CDU las. Es ist bei Weitem das intelligenteste Konzept, das mir seit langem zu diesem in Deutschland so quälenden Thema begegnet ist.

Da die Stadtteilschule die Möglichkeit zum Abitur eröffne, werde die unterschiedliche Wertigkeit – "hier das Gymnasium für die zukünftigen Akademiker, dort die anderen Schulformen für die praktischen Berufe – zumindest abgemildert". Funktional hebe die Hamburger CDU "die Mehrgliedrigkeit sogar auf, und zwar ohne das Gymnasium abzuschaffen". Das ist für Tenorth das besonders Intelligente an dem Plan. Er schreibe den Eltern nicht vor, ihr Kind auf eine "Einheitsschule" zu schicken. Es bliebe zwar bei der frühen Auslese am Ende von Klasse 4, doch das könne leichter korrigiert werden als in der jetzigen Haupt- und Realschule. Es sei schon viel erreicht, wenn die Stadtteilschulen in schwierigen Vierteln in einem anregungsreicheren Lernmilieu es schafften, "dass alle Schulabgänger so lesen, rechnen und schreiben könnten, wie es für eine Berufsausbildung nötig" sei. Genau daran mangele es ja vielen Hauptschüler/innen. In den eher bürgerlichen Quartieren könnten Lehrer/innen der neuen Schule darüber hinaus möglichst viele Jugendliche zum Mittleren Abschluss oder gar zum Abitur führen.

Da bei sinkenden Schülerzahlen es für den Staat immer schwerer wird, ein mehrgliedriges System wohnortnah zu finanzieren, stellt Spiewak die Frage, warum wir dann nicht gleich die "Einheitsschule" schaffen, die international fast die Regel sei. Die Frage provoziert den Bildungshistoriker zu einem differenzierten Statement:

In kaum einem Land gingen Schüler/innen "unabhängig von Herkunft und Leistung" tatsächlich alle auf eine Schule. Auch in Ländern mit einem "Einheitsschulsystem" gebe es für die Privilegierten "separate Bildungswege": in Frankreich die katholischen Lyzeen, in England die Internate und in den USA die teuren Privatschulen. Nur in Skandinavien sei es anders. Dort akzeptierte eben die Gesellschaft die "Einheitsschule". In Deutschland hingegen sei das Gymnasium "von je her stark im Bewusstsein des Bürgertums verankert".

Bildung war für das deutsche Bürgertum stärker als anderswo Privileg und Besitz, die es zu verteidigen galt. Traditionell hatten wir ein Zweiklassensystem. Das Bürgertum schickte die Kinder erst auf private Vorschulen und dann aufs Gymnasium mit dem Ziel einer akademischen Profession. Der Rest der Bevölkerung ging auf die Volksschule und ergriff einen praktischen Beruf. Erst die Weimarer Republik führte das gemeinsame Lernen bis Klasse vier ein.

Die gemeinsame Grundschule (1920) sei für die bürgerlichen Eltern "ein Schock" gewesen, der lange nachwirkte, und danach hieß es "Bis hierher und nicht weiter", woran weder die Amerikaner nach 1945 noch die Reformen der 1970er Jahre mit der Gesamtschule hätten etwas ändern können.

Der Hamburger Schulplan ist als Antwort einer CDU-Regierung auf die nicht erst durch PISA bekannt gewordene Leistungsschwäche und die soziale Auslese unseres vielfältig gegliederten Schulsystems indertat ein respektables Dokument, besonders im Vergleich mit Reaktionen anderer, ehemals SPD-regierter Bundesländer wie Hessen und NRW, alle mit einem hohen Anteil an Gesamtschulen und den dadurch eskalierenden Problemen an eigenständigen Hauptschulen. Die Stadtteilschule neben dem Gymnasium ist, da sie alle Abschlüsse, einschließlich Fachhochschulreife und Abitur, nicht nur offen hält, sondern selbst anbietet und dabei sogar schwache Schüler/innen nicht mehr sitzen lassen, sondern individuelle fördern soll, mehr als die alte Volksschule, in der sich lange Zeit ja auch alle versammelten, die für das Gymnasium nicht in Betracht kamen.

Die Stadtteilschule könnte sich, wenn sie, wie es der Plan verspricht, in schwierigen Stadtteilen genügend staatliche Unterstützung erfährt, von den Rahmenbedingungen her zu dem entwickeln, was zahlreiche deutsche Reformschulen, ganz überwiegend Integrierte Gesamtschulen, längst praktizieren: eine andere Lernkultur, die erfolgreich auf individuelles Fördern und gemeinsames Lernen setzt und auf Formen der Ausgrenzung verzichtet, - Schulen, in denen auch Modelle der Integration von Kindern mit und ohne Behinderungen entwickelt worden sind.

Das große Handicap dieser integriert arbeitenden Stadtteilschule: Sie ist keine Schule für alle Kinder und muss mit der frühen Auslese nach Klasse 4 leben, bei der die Leistungsstarken aus überwiegend bildungsorientierten Elternhäusern weiterhin auf die "höhere Schule" gehen werden und dadurch das Anregungsniveau der Lerngruppen an der Stadtteilschule gesenkt wird. Sie hat außerdem zu Beginn des 7.Schuljahres noch einmal die vom Gymnasium "querversetzten" Schüler/innen zu integrieren und sie hat vor allem nach den Hurrelmannschen Vorstellungen von Anfang an ein "berufsorientiertes" Curriculum zu entwickeln, was diese allgemeinbildende Schule mit allen ihren Abschlüssen als die minderwertige diskriminiert, weil für deren Schüler/innen "Wissenschaftsorientierung" nicht möglich scheint oder, wie das für die volkstümliche Bildung der alten Volksschule galt, gesellschaftlich auch gar nicht als erforderlich angesehen wird.

Die besondere Chance der Stadtteilschule, "ihr Angebot auf die Bedürfnisse der Schüler ihres Viertels einstellen" zu können, ist für Tenorth zugleich die größte Herausforderung der neuen Schulform; denn deutsche Lehrer/innen kämen "mit Leistungsunterschieden zwischen den Schülern nicht gut zurecht, die Grundschulpädagogen ausgenommen". Sie bevorzugten "den Lernzuwachs im Gleichschritt". Nur haben Grundschulpädagogen das individuelle Fördern in heterogenen Gruppen auch lernen müssen und in guten Grundschulen, aber auch in Reformschulen der Sekundarstufe, kann man besichtigen, wie das geht. Dieser größten Herausforderung werden sich, wie Tenorth zu recht prognostiziert, die Stadtteilschulen stellen müssen, wenn sie nicht zu "besseren Hauptschulen" werden wollen und die Eltern der jetzigen Realschüler/innen dann alles versuchen werden, ihre Kinder auf Gymnasien unterzubringen. Doch genau diese Herausforderung, und das ist für Tenorth kein Thema, bleibt den Gymnasien erspart.

Wenn Tenorth auf die Interview-Frage, warum wir nicht gleich die "Einheitsschule" einführen und uns am internationalen Standard orientieren, auf die Möglichkeiten für die Privilegierten verweist, auch in Ländern mit einem "Einheitsschulsystem" "separate Bildungswege" ausfindig zu machen, so trifft das ja nicht nur auf Verhältnisse in Frankreich, England oder in den USA zu. In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden z.B. gibt es unter den acht Gymnasien zwei staatlich anerkannte Privatgymnasien, dazu eine Freie Waldorfschule und demnächst sogar, neben den fünf Integrierten Gesamtschulen, eine private IGS. Was für die Sekundarstufe gilt, zeigt sich bereits in der Primarstufe mit privaten Grundschulen als quasi modernen "Vorschulen" auf dem direkten Weg zum Gymnasium.

Die Privilegierten sind also auch bei uns schon gut versorgt mit "separaten Bildungswegen", wenn sie die staatliche Schule für ihre Kinder vermeiden wollen. Und mit jeder Neugründung im boomenden Privatschulwesen wird die Versorgungslage für sie besser. Es ist dies also kein Grund, am deutschen Sonderweg eines hierarchisch gegliederten Systems, mit dem Gymnasium als der höherwertigen Schule, festzuhalten. Der Grund ist ja auch, worauf Tenorth verweist, ein anderer. Es gibt einfach das Interesse einer mächtigen Lobby am Erhalt des Gymnasiums. Das Interesse am Erhalt von Realschule oder Gesamtschule muss dabei zurückstehen.

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"Ich kann allerdings den Überlegungen der Hamburger Regierungspartei sehr viel abgewinnen"

Anders als Heinz-Elmar Tenorth, der als Bildungshistoriker von Außen den Hamburger CDU-Plan betrachtet, ist Dieter Wunder politisch in die Formulierung des Plans involviert. Nicht als ehemaliger GEW-Vorsitzender, sondern, von der Hamburger SPD delegiert, arbeitete er in einer Enquetekommission "Konsequenzen der neuen PISA-Studien für Hamburgs Schulentwicklung" mit, die die Bürgerschaft der Stadt Anfang 2006 einsetzte, mit dem Auftrag, Vorschläge zur Förderung der "Risikoschüler/innen" zu entwickeln. Von dieser durchaus prekären politischen Position aus nimmt Wunder nun Stellung zu dem von der CDU vorgelegten Plan (Wunder 2007).

Zur generellen Frage, was pädagogisch wünschenswert wäre, stellt Wunder vorab klar, "dass die Gesamtschule nicht als Schulform unter anderen, sondern als ersetzende Schulform das Ziel ist, auf das es hinzuarbeiten" gelte. "Gemeinschaftsschule" oder "Schule für alle" sind für ihn "nicht mehr als begriffliche Variationen zu ‚Gesamtschule’". Die Probleme für die Ausbreitung der Gesamtschule in Deutschland beruhen für Wunder "zum einen auf ihren kritisch gesehenen Leistungen, die wesentlich durch ihre Einrichtung als vierte Schulform" bedingt seien; dieses erklärende Argument aber mache sie "in der Öffentlichkeit dennoch nicht attraktiv genug". Auch wenn Gesamtschulen an vielen Standorten überzeugten und die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen sehr oft nicht befriedigt werden könne, strahle dies "nicht auf das Image der Gesamtschule aus". Die Anziehungskraft des Gymnasiums hingegen sei ungebrochen und es könne im freien Wettbewerb von der Gesamtschule nicht verdrängt werden.

Hinzu kommt für Wunder noch eine andere Einsicht. Während man in den 1960er Jahren davon ausgegangen sei, dass eine Landesregierung und eine Landtagsmehrheit die Strukturen des Schulwesens bestimmen könne und die Bürgerinnen und Bürger dies dann auch akzeptierten, sei seit den 70er Jahren klar, dass selbst sichere Parlamentsmehrheiten nicht ausreichten für Strukturveränderungen, "wenn sich wesentliche Teile der Bevölkerung, insbesondere die durchsetzungsfähigen Gesellschaftsschichten – Oberschicht und Teile der Mittelschichten – dagegen wehren". Das Gymnasium sei "so stark, dass auf absehbare Zeit keine politische Perspektive sichtbar" sei, "es mit anderen Schulformen zu kombinieren". Es sei "der eigentliche Gewinner der Strukturreformen der letzten 40 Jahre". Wer heute Strukturreformen durchführe, müsse "das Gymnasium als solches respektieren" (S.25 f.)

Das Positive daran sei immerhin, dass Politiker nicht mehr selbstherrlich beschließen könnten, was sie für richtig halten. Sie müssten "die Position der Eltern, zumindest derer, die sich artikulieren, beachten", auch wenn das "eine nur unvollkommene Demokratie" sei, weil andere Teile der Elternschaft sich eben nicht artikulierten. Mit solchen Einsichten in den Handlungsspielraum der politischen Akteure kann Wunder "den Überlegungen der Hamburger Regierungspartei sehr viel abgewinnen", z.B. die Abschulung vom Gymnasium stark einzuschränken. Wer sie nämlich einschränke oder gar abschaffe, setze "auf die Lernfähigkeit des Gymnasiums"; denn die Lehrer/inne auch dieser Schulform müssten lernen, ihre Schüler/innen "als Individuen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen". "Eine solche Einstellung könnte viel bewirken und die Annäherung zu anderen Schulformen bringen". (S.27)

Soviel zum Gymnasium, seiner mächtigen Lobby und Dieter Wunders Hoffnung auf "eine andere Gymnasialpädagogik". Was aber wird aus "dem Abbau von Benachteiligungen sog. Risikoschülerinnen und –schüler", wofür die Enquetekommission ja in erster Linie eingesetzt wurde? Da gibt es für Wunder, wenn die Abschaffung der Hauptschule Konsens ist, "eine kleinere oder größere Strukturreform". Die kleinere heißt, Haupt- und Realschule zu integrieren und die Gesamtschule bestehen zu lassen (Saarland). Die größere sieht Wunder in Brandenburg verwirklicht, wo es nach der Wende keine Hauptschule gab und neuerdings Realschule und Gesamtschule zur "Oberschule" werden, neben dem Gymnasium, - ein zweigliedriges System also wie in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen seit 1991.

In dieser Alternative plädiert Wunder für die "größere Strukturreform", wie sie die Hamburger CDU als Stadtteilschule vorschlägt, weil die "kleinere" die Realschüler/innen mit der "Bürde" der Hauptschule belaste, ohne sie mit der Aussicht entlohne, an einer eigenen Oberstufe das Abitur machen zu können, etwa an einem "Beruflichen Gymnasium nach Baden-Württembergischen Vorbild". Denke man in diese Richtung, und Klaus Hurrelmann habe dies in seinem "Zwei-Wege-Modell" getan, so werde der Unterschied der Stadtteilschule zur Gesamtschule gering.

In der Einschätzung der aktuellen Machtverhältnisse ist Dieter Wunder zuzustimmen, auch in der Feststellung, dass das Gymnasium als der eigentliche Gewinner der Strukturreformen der letzten vier Jahrzehnte dar steht. Es fragt sich nur, ob man sich mit dem Plan der Hamburger CDU von einem Begriff von Allgemeinbildung für eine Teil der Schüler/innen verabschieden darf, der, wie reduziert an Haupt- und Sonderschulen auch immer, in den Präambeln der Lehrpläne bislang aufrechterhalten wurde. Ist es noch verfassungskonform, wenn die Stadtteilschule der Hamburger CDU nach dem Zwei-Wege-Modell Klaus Hurrelmanns den Eltern für ihre zehnjährigen Kinder zwei Schulformen anbietet, von denen die eine ein "berufsorientiertes", die andere ein "wissenschaftsorientiertes" Curriculum entwickelt und beide Schulformen sich spätestens ab Klasse 7 gegeneinander abschotten? Was bleibt Eltern, die nach Klasse 7 für ihr Kind einen Schulwechsel anstreben, und zwar nicht innerhalb einer Schulform, sondern vom Gymnasium an eine Stadtteilschule oder umgekehrt? Was bleibt den Eltern, die, was das Leistungsprofil ihres Kindes betrifft, bislang zwischen Gymnasium und Integrierter Gesamtschule wählen konnten, und sich aus pädagogischen und sozialpolitischen Gründen für die für alle Kinder offene Schule entschieden, weil diese Schule dort, wo sie für solche Eltern besonders attraktiv ist, gerade nicht zwischen wissenschafts- und berufsorientiert unterscheidet? Und was bleibt, ob bei "kleinerer" oder "größerer" Schulreform, an freier Schulwahl den Eltern, die für ihr Kind nach der Empfehlung der Grundschule bislang wählen konnten zwischen Realschule und Integrierter Gesamtschule und sich für die Realschule und damit für das gegliederte System entschieden?

An der Stelle lohnt ein Blick ins benachbarte Schleswig-Holstein, wo eine Große Koalition eine Strukturreform beschlossen hat, in der es neben dem Gymnasium die "Gemeinschaftsschule" als eine für alle Kinder, auch die mit Behinderungen, offene Schule gibt und daneben Wunders "kleinere" Lösung, die "Regionalschule" als fusionierte Haupt- und Realschule mit integriertem Unterricht bis Ende Klasse 6. (Merkelbach 2007, S.4 ff.) In der öffentlichen Debatte dieser Reform, die am 9.Februar 2007 Gesetz geworden ist, meldete sich am 4.11.06 die Hauptversammlung des Landeselternbeirats der Realschulen in Schleswig-Holstein mit einer einstimmig beschlossenen Resolution zu Wort, in der die "Regionalschule" "für konzeptionell nicht geeignet" gehalten und statt dessen "eine konsequenten Weiterentwicklung des bestehenden Bildungssystems zu einem ‚differenzierten eingliedrigen Schulsystem’ (d.h. eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe)" gefordert wird, "mit entsprechender personeller und materieller Ausstattung, die den Erfordernissen des pädagogischen Auftrags zum Wohl unserer Kinder gerecht wird". Werde die Regionalschule eingeführt, sehe sich der Landeselternbeirat veranlasst, "Eltern offiziell zu empfehlen, ihre Kinder zur Erreichung des Realschul-Abschlusses an einem Gymnasium anzumelden". Am Ende der Resolution wird der Landesregierung in Kiel gar eine "Volksinitiative" angedroht.

Es sind dies Eltern einer Schulform, die sich seither besonders vehement für das gegliederte Schulsystem engagierten, in strenger Abgrenzung von der Integrierten Gesamtschule, Eltern, die sich jetzt aus Angst vor der "Bürde" der "Benachteiligten" aus den Hauptschulen zu Wort melden, obwohl diese "Bürde" ihren Kindern ja nur zwei Jahre, bis Ende Klasse 6, auferlegt wird und es von 7 bis 10 ja wieder Realschulklassen geben wird. Es wird sich zeigen, dass die Lobby der Realschule weder in Kiel noch andernorts eine Chance haben dürfte, wenn es darum geht, mit der Hauptschule auch die Realschule als eigenständige Schulform aufzulösen.

Während für Eltern in Schleswig-Holstein drei Schulformen zu Wahl stehen, die alle zu einem Mittleren Abschluss führen und mit dem gleichen Anspruch auf Allgemeinbildung anschlussfähig bleiben an die gymnasiale Oberstufe, plant Hamburg das Hurrelmannsche Zwei-Wege-Modell, bei dem zehnjährige Kinder auf zwei unterschiedliche Bildungskonzepte festgelegt werden sollen, von denen der Mittlere Abschluss an einer Stadtteilschule mit einem "berufsorientierten" Curriculum kaum noch anschlussfähig sein dürfte an eine "wissenschaftsorientierte" gymnasiale Oberstufe. Wenn dieser Plan Gesetz werden sollte, so bedeutet das eine Spaltung der Schülerschaft, wie es sie seit dem Ende der alten Volksschule, mit ihrem Programm einer volkstümlichen Bildung, nicht mehr gegeben hat.

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"Die Zweigliedrigkeit zementiert das hierarchisch gegliederte System"

Währen Heinz-Elmar Tenorth das Zwei-Wege-Modell der Hamburger CDU für eine ausgesprochen intelligente Lösung hält und auch Dieter Wunder unter den bestehenden politischen Machtverhältnissen ihm "sehr viel abgewinnen" kann, ist es für Anne Ratzki, ehemalige Leiterin einer Integrierten Gesamtschule, schwer nachvollziehbar, wie man ausgerechnet nach PISA und bei wachsender Zahl der Befürworter einer "großen Bildungsreform" sich für dieses Modell stark machen kann (Ratzki 2007).

Wer heute das gegliederte System verteidigt, handelt gegen bessere Erkenntnis und internationale Ergebnisse. Wir haben alle guten Argumente für eine gemeinsame Schule – warum sollten wir sie nicht immer wieder in aller Öffentlichkeit deutlich machen? Die Zweigliedrigkeit zementiert das hierarchisch gegliederte System. Das Gymnasium bleibt erhalten und die Gesamtschule, die die Vision einer Schule für alle Kinder wachhält, verschwindet. (S.50)

Anne Ratzki geht zu Beginn ihres Beitrags auf die erste Fassung des Zwei-Wege-Modells von Klaus Hurrelmann aus dem Jahr 1991 ein. Hurrelmann plädierte mit seinem Plan für ein einheitliches Schulsystem in ganz Deutschland, nachdem die neuen Länder bereits unterschiedliche Schulgesetze beschlossen hatten. Das Modell, das im Reformlager weitgehende abgelehnt wurde, sei, stellt Ratzki fest, bald "in der Ablage für unbrauchbare Alternativmodelle zur Gesamtschule" verschwunden und tauche jetzt, 15 Jahre danach, "mit ganz ähnlichen Begründungen und Erwartungen an die ‚Zweitschule’ wieder auf". In der Zwischenzeit lasse sich allerdings "eine Tendenz zu zweisäuligen Systemen von Gymnasium einerseits und Zusammenlegungen von Hauptschulen und Realschulen andererseits in verschiedenen Bundesländern, vor allem im Osten, feststellen". Aber auch da, wo es, wie in Sachsen, keine Gesamtschulen gebe, blieben diese "Zweitschulen" "Kombinationen der bisherigen Schulformen Hauptschule und Realschule, meist intern getrennt oder durch Fachleistungsniveaus in sich selektiv". Nirgends seien, was Hurrelmann seiner "Oberschule" noch empfohlen hatte, Lernbehinderte einbezogen. (S.49)

Interessant für Anne Ratzki ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf Brandenburg, das Anfang der 90er Jahre nach einer sechsjährigen Grundschule ein Schulsystem ohne die Hauptschule einführte, mit Gymnasium, Gesamtschule und Realschule.

Gymnasien und Gesamtschulen sollten absolut gleichwertig sein, beide alle Schüler aufnehmen, die angemeldet wurden, beide mit Oberstufe und Abitur – bei ausreichender Schülerzahl, - beide sollten ihre Schüler behalten. Die Gymnasien durften keine Schüler abschulen. Trotzdem fanden die Gymnasien viele Mittel und Wege, Schüler an Realschulen und Gesamtschulen abzugeben, indem sie den Eltern klarmachten, dass die Kinder dort besser gefördert würden. Bald wurde das Abschulen zu einer ebenso üblichen Praxis wie in anderen Bundesländern. (S.49)

Nirgendwo in den Bundesländern mit zwei Schulformen werde "heute jeder Schüler, der möchte, vom Gymnasium aufgenommen, dort gefördert und zu einem Abschluss geführt"; nirgendwo würden auch "Lernbehinderte grundsätzlich integrativ beschult", nirgendwo seien "die beiden Schulformen gleichwertig, gelten in beiden die gleichen Leistungsstandards", werde "das Lernen individualisiert". Zwar könne die Zusammenlegung von Hauptschulen und Realschule eine "Notmaßnahme" darstellen und als solche im Rahmen des gegliederten Systems vernünftig sein, ein Bildungsreform sei dies jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund sieht Anne Ratzki auch den Plan der Hamburger CDU besonders kritisch.

Die Gymnasien werden in diesem Konzept mit Sicherheit im 5. und 6. Schuljahr heftig sieben und auch später dem Brandenburgischen Weg folgen und die Eltern schwacher Schüler "beraten". (S.49 f.)

Anne Ratzkis Prognose auf die Frage, wen denn die Grundschulen in Zukunft auf das Gymnasium schicken werden und wen nicht, lautet darum:

Sie würden den Kindern, die besondere Förderung brauchen, nicht das Gymnasium empfehlen. Die Stadtteilschulen werden zuständig sein für Kinder aus sozial schwachen Familien, Kinder mit Migrationshintergrund, schlechten Deutschkenntnissen, für die Integration von Lernbehinderten und Verhaltensschwierigen. Man kann davon ausgehen, dass die Stadtteilschule bald ähnliche Akzeptanzprobleme haben wird wie heute die Hauptschule. Das bedeutet, dass Eltern alles daran setzen werden, ihr Kind auf das Gymnasium zu schicken und damit den Niedergang der Stadtteilschule noch befördern werden. (S.50)

Das ist die Position derjenigen, die über Jahrzehnte unter schwierigen Bedingungen versuchten, die Integrierte Gesamtschule zur einer Schule für alle Kinder zu machen, was ja auch in zahlreichen Fällen in beeindruckender Weise und trotz der selektiven Hürden des gegliederten Systems gelungen ist. Was hat die deutsche Schule denn seit den 70er Jahren Besseres an Unterrichtsreform hervorgebracht als die reformierten Gesamtschulen, wie sie in Bielefeld, Göttingen, Hamburg, Kassel, Köln, Frankfurt, Wiesbaden und andernorts zu besichtigen sind? Verständlich darum, wenn Anne Ratzki in der jetzigen Situation den "langen Atem für eine nachhaltige Bildungsreform" fordert. Doch auch diese Forderung ist Jahrzehnte alt und wird nun, wie in Hamburg, zum ersten Mal ernsthaft mit dem Plan konfrontiert, die Gesamtschule als eine für alle Kinder offene Schule abzuschaffen, wenn es der dortigen Opposition aus SPD und Grünen nicht gelingt, das zu verhindern.

Am Ende ihres Beitrags beschreibt Anne Ratzki Wege, die zu einer "Schule für alle" führen könnten; neben einem "englischen" und "schwedischen Weg" den "Umwandlungsweg", bei dem zu einem bestimmten Stichtag "die drei (oder vier) Schulformen der Sekundarstufe I keine neuen Schüler mehr" aufnehmen. Mit den neuen 5.Klassen beginne "die neue Schule für alle" und die alten Schulformen laufen aus. Allerdings nutzten die schönsten Wegebeschreibungen nichts, wenn sie nicht begangen würden. Über die Zweigliedrigkeit jedenfalls oder auch über das von Ernst Rösner für Schleswig-Holstein entwickelte Modell der Gemeinschaftsschule könnten "wir uns nicht an die Schule für alle heranschleichen"; das merkten die Gegner früh und schlügen Alarm.

Es braucht ein klare politische Entscheidung für eine gemeinsame Schule. Wie diese dann heißt, Gesamtgymnasium, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Oberschule, ist nicht wichtig. Nur eine Prämisse muss erfüllt sein: das Gymnasium muss in dieser neuen Schulform enthalten sein und die neue Form muss die Möglichkeit eines Erwerbs der Studienberechtigung enthalten – sonst ist diese Schule keine Schule für alle. (S.50)

Das ist konsequent formuliert, aber jenseits der Machtfrage. In welchem Bundesland ist in absehbarer Zeit eine Partei oder ein Parteienbündnis bereit, Anne Ratzkis Prämisse zu erfüllen und eine "Schule für alle" unter Einschluss des Gymnasiums und der Sonderschule zu beschließen? Und wer kann ernsthaft glauben, ein solcher Beschluss, wenn er zustande käme, werde den nächsten Regierungswechsel in dem betreffenden Bundesland überstehen? Sollte umgekehrt die Hamburger CDU die Wahl 2008 gewinnen und allein oder mit der FDP zusammen ihr Zwei-Wege-Modell in Gesetzesform gießen, wird das, so ist zu hoffen, den Widerstand aller hervorrufen, die mit der Integrierten Gesamtschule an einer "Schule für alle" festhalten wollen.

Bei dem von Ernst Rösner für Schleswig-Holstein entwickelten Modell der "Gemeinschaftsschule" geht es nicht darum, sich an eine Schule für alle "heranzuschleichen", sondern der in der Großen Koalition dort gefundene Kompromiss, Gymnasium, Gemeinschaftsschule, Regionalschule, bedeutet: die Integrierte Gesamtschule bleibt unter dem Namen Gemeinschaftsschule erhalten und sie hat, ohne die selektiven Elemente der äußeren Differenzierung, bessere Bedingungen zu einer Schule für alle zu werden, - sogar unter Einschluss des Gymnasiums, wie das auf der Insel Fehmarn für das Schuljahr 2007/08 bereits beschlossene Sache ist. (Merkelbach 2007, S.6; Spiewak 2007)

Ob diese neue Schule jetzt Gemeinschaftsschule heißt oder weiterhin Gesamtschule, ist in der Tat nicht wichtig. Dass sie nicht in einer "Zweitschule" verschwindet und in den Bundesländern eingerichtet wird, die sich bislang diesem integrativen Schulmodell verweigerten, im Osten wie im Westen, - dafür braucht es unter den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen, schon den langen Atem, den Anne Ratzki fordert. Überall dort, wo eine solchen Schule mit ihrem pädagogischen Programm um die Gunst der Eltern wirbt, ist ja die "große Bildungsreform" schon im Gange. Bei ihr geht es um günstige Rahmenbedingungen des Staates, vor allem um eine andere Lernkultur, die aber kann nicht von oben verordnet werden, sondern ist an jeder einzelnen Schule kollegial zu entwickeln.

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Wie unvollkommen darf Demokratie im Bildungsbereich noch sein?

Das Jahresgutachten 2007 des "Aktionsrates Bildung" befasst sich mit nichts Geringerem als dem Thema "Bildungsgerechtigkeit". Dem Gremium, beauftragt von der "Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft", gehören so bekannte Erziehungswissenschaftler an wie Wilfried Bos, Deutschland-Chef der IGLU-Studie, Manfred Prenzel, Koordinator von PISA 2003 oder Dieter Lenzen, Präsident der FU und Sprecher des "Aktionsrates". Diskutiert wird das prominente Thema unter den Aspekten Heterogenität, Übergänge, Ganztagsschule, Bildungsstandards, Steuerungsmodelle, Personalentwicklung und Kosten.

Der Bildungsforscher Klaus Klemm, der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung eine Expertise zu dem Gutachten erstellt hat (Klemm 2007), ist beeindruckt von dessen zentralen Aussagen. So zitiert er im grundlegenden ersten Kapitel über "Bildungsgerechtigkeit" das, was das Gremium dafür hält. Sie sei gegeben, wenn es gelinge, "das Kompetenzniveau insgesamt zu erhöhen und gleichzeitig die Heterogenität im Bildungssystem weniger wirksam werden zu lassen" (Aktionsrat Bildung 2007, S.135). Eine Gesellschaft, die Bildungsgerechtigkeit anstrebe, sei verpflichtet, "Bildungsmissbrauch auch unter Anwendung von Zwang zu verhindern und Schulbesuch, einen störungsfreien Unterricht und eine leistungsadäquate Bewertung durchzusetzen". "Freiheit einschränkende, Gerechtigkeit stiftende Maßnahmen" ließen sich allerdings "nur rechtfertigen, wenn sie langfristig, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Freiheitsmaß aller und der Gesamtgesellschaft gegenüber dem Status quo vergrößern". (S.21)

Zum Thema "Heterogenität" zitiert Klemm Sätze, die so auch in der PISA-Studie stehen könnten: "Die Befunde deuten darauf hin, dass die Schularten sehr unterschiedliche Lernmilieus darstellen, hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung und bezüglich ihres Anregungs- und Anforderungsmilieus" (S.29). Oder: "...Kinder mit gleicher Intelligenz und gleicher Kompetenz erfahren in den unterschiedlichen Lernmilieus der weiterführenden Schulformen eine sehr unterschiedliche Entwicklung" (S.52). Bei den Übergängen, wo die "hohe Selektivität des deutschen Bildungssystems" "in besonderer Weise" wirksam werde, kommt der "Aktionsrat Bildung" zu der Erkenntnis: "Selbst bei Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeiten und Fachkompetenzen, also beim Vergleich von Kindern, die gleiche Intelligenz aufweisen und über die gleichen Kompetenzen verfügen, haben die Kinder aus oberen Schichten noch mehr als die zweieinhalbfache Chance einer Gymnasialempfehlung" (S.52). Oder: "Die Chance, dass eine individuelle Benachteiligung im Laufe der Bildungsbiographie durch zusätzliche Maßnahmen ausgeglichen werden kann, ist als sehr gering einzuschätzen" (S.58).

Der "Aktionsrat", der anfangs davor warnt, "bildungspolitische Entscheidungen anders als auf der Grundlage empirischen Wissens" zu treffen, entschließt sich am Ende auf der Basis seiner gewonnen Erkenntnisse zum Thema "Bildungsgerechtigkeit" "Handlungsempfehlungen" für die Politik zu formulieren, unter denen die zur Schulstruktur Klaus Klemm besonders interessieren. Dabei bleiben dann die auf empirischer Basis gewonnenen Einsichten für ihn doch ziemlich auf der Strecke. Da werde nicht die frühe Selektion am Ende der Grundschule in Frage gestellt, sondern die Übergangsempfehlungen sollen durch eine gesteigerte Diagnosekompetenz der Lehrerinnen und Lehrer verbessert und Fehlentscheidungen reversibel werden. Oder: Die Sekundarstufe I soll, wohl ganz im Sinne von Klaus Hurrelmann und der Hamburger CDU zweigliedrig werden und nur noch aus einer "Sekundarschule" und dem Gymnasium bestehen. Die Durchlässigkeit zwischen den beiden so unterschiedlichen Schulformen soll dennoch gesteigert werden. Kinder mit Migrationshintergrund, im Gutachten nur eine Marginalie, kommen, wie Klemm feststellt, in den "Handlungsempfehlungen" gar nicht mehr vor. Statt aus ihrer empirisch gut belegten Erkenntnis, dass die Chance, "eine individuelle Benachteiligung durch zusätzliche Maßnahmen" ausgleichen zu können, "als sehr gering einzuschätzen" sei, Konsequenzen im Empfehlungsteil zu ziehen, formuliert der "Aktionsrat":

Eine Zusammenführung aller Schulformen im Sekundarbereich I unterbleibt, weil es für die positiven Effekte im deutschen Bildungssystem keine Evidenzen gibt. Zudem steht Eltern ein grundgesetzlich garantiertes Auswahlrecht zu. Die Einführung einer Einheitsschule könnte dieses Recht unterlaufen. (S.147)

Gegenüber einer so apodiktisch formulierten Handlungsempfehlung am Ende eines Gutachtens über Bildungsgerechtigkeit und den darin festgestellten Gerechtigkeitsdefiziten hat Klaus Klemm doch erhebliche Zweifel, was die Stringenz der Argumentation betrifft. Vorab fragt er, "ob die hier vorgetragene rechtliche Argumentation trägt", "wieso die Autoren mit dieser Argumentation nicht auch die gemeinsame Grundschule in Frage stellen" und "warum man den Eltern künftiger Gymnasiasten ein Auswahlrecht sichern will, nicht aber denen künftiger Realschüler, die gemeinsam eine Schule mit Schülern, die bisher in der Hauptschule lernen, besuchen sollen". Klemms zentrale Frage ist dann: "Wie und wo ist diese Handlungsempfehlung, die auf ein zweigliedriges Schulsystem abzielt, durch belastbares empirisches Wissen begründet?" Diese Empfehlung stehe zudem in einem unübersehbaren Widerspruch zu den grundsätzlichen Ausführungen über Bildungsgerechtigkeit, wo es heißt, dass in einer Gesellschaft, "in der Freiheit konstitutionell oberste Norm darstellt", "Freiheit einschränkende, Gerechtigkeit stiftende Maßnahmen" nur zu rechtfertigen seien, "wenn sie langfristig, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Freiheitsmaß aller und der Gesamtgesellschaft gegenüber dem Status quo vergrößern" (Aktionsrat Bildung 2007, S.21). Da bleibt Klemm nur die Frage: "Dürfen Freiheit einschränkende Maßnahmen auf einen Teil der Gesellschaft begrenzt bleiben, ist das Freiheitsmaß aller vergrößert, wenn das der Gymnasiasten (und nur das ihre) gewahrt bleibt?" (Klemm 2007, S.13)

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Ausblick

Es gibt nach wie vor zwei schulpolitische Lager, von denen das eine für den Erhalt des Gymnasiums auch in der Sekundarstufe I streitet, das andere eine Schule für alle Kinder anstrebt, die mit Behinderungen eingeschlossen, in der es bis zum Mittleren Abschluss kein Einsortieren in unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge mehr geben soll, in der aber auch der Anspruch auf Allgemeinbildung im Vergleich mit dem Gymnasium ungeschmälert gilt. "Freiheit einschränkende Maßnahmen" werden nur dann als "Gerechtigkeit stiftende" wahrgenommen und akzeptiert, wenn administrativ verordnete Strukturveränderungen dieser "Schule für alle" einen fairen Wettbewerb mit dem Gymnasium ermöglichen und wenn Eltern am Ende der Grundschule die Wahl haben, auf der Basis von Beratungsgesprächen, sich für die Schule/Schulform zu entscheiden, die ihnen vom pädagogischen Programm her für ihr Kind als die angemessene erscheint.

Im Unterschied zum Zwei-Wege-Modell Klaus Hurrelmanns und dem darauf basierenden Schulplan der Hamburger CDU müssten beide Schulformen bis zum Ende der Sekundarstufe I durchlässig sein, nicht für "Querversetzungen" der Schule, wohl aber für Eltern, die für ihr Kind einen Schulwechsel anstreben von einer Schulform in die andere. Nur unter dieser Bedingung könnte ein zweigliedriges System mit zwei formal gleichrangigen Schulformen, z.B. der Stadtteilschule und dem Gymnasium in Hamburg, für beide politischen Lager kompromissfähig sein. Wo das nicht gelingt (Anne Ratzkis Hinweise auf Brandenburg und die bereits bestehenden zweigliedrigen Systeme sind da sehr ernst zu nehmen), bietet sich der in der Großen Koalition Schleswig-Holsteins bereits geschlossene Kompromiss an, mit Gymnasium, Gemeinschaftsschule und Regionalschule, wobei die Eltern, die die Regionalschule ablehnen (Siehe Resolution des Landeselternbeirats der Realschulen Schleswig-Holsteins), die Möglichkeit haben müssen, in vertretbarer Entfernung ihr Kind an einer Gemeinschaftsschule oder einem Gymnasium anzumelden.

Das Recht auf Bildung ist in diesem Schulkompromiss der beiden politischen Lager leichter zu realisieren und für alle Eltern eher zu akzeptieren als der im Kern nach wie vor hierarchisch gegliederte Plan der Hamburger CDU, dem die dortige SPD bereits ein ähnliches Modell wie das schleswig-holsteinische als Kompromissangebot gegenübergestellt hat: Nach der Abschaffung der Hauptschule eine Integrierte Haupt- und Realschule als ersten Schritt und danach: neben dem Gymnasium eine "Stadtteilschule", die entstehen kann, indem sich Schulen verschiedener Schulformen – Integrierte Haupt- und Realschule, Gesamtschule, Gymnasium – zusammenschließen (Merkelbach 2007, S.7 ff.). Diese Stadtteilschule als Ganztagsschule, die auch den direkten Weg zum Abitur anbietet und Kinder mit Behinderungen integriert, ist dann allerdings "wissenschaftsorientiert" und "berufsorientiert", - wie es auch jedes Gymnasium sein wird, das sich auf den Weg einer anderen, nicht mehr selektiven pädagogischen Praxis begibt.

Es dürfte spannend werden zu beobachten, inwieweit in den nächsten Jahren in den Ländern die "Freiheit einschränkenden" Strukturen eines hierarchisch gegliederten Systems durch "Gerechtigkeit stiftende Maßnahmen" verändert werden. In diesem Prozess kann Schleswig-Holstein mit seinem bereits gesetzlich verankerten Schulkompromiss wichtige Schrittmacherdienste leisten, - für die bereits zweigliedrigen Schulsysteme im Osten wie für die drei- und viergliedrigen im Westen der Republik.

Literatur

Aktionsrat Bildung: Bildungsgerechtigkeit – Jahresgutachten 2007, hrsg. von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., München 2007.

Klemm, Klaus: Stellungnahme zu "Aktionsrat Bildung: Bildungsgerechtigkeit – Jahresgutachten 2007. Expertise- erstellt im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. April 2007. In: PISA-Info 03/2007 (GEW).

Merkelbach, Valentin: Neue Strukturen in den Ländern und die Chancen für eine andere Lernkultur. 2007 http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/

Ratzki, Anne: Zweigliedrigkeit. Ein tragbares Konzept für eine notwendige Schulreform? In: Pädagogik 2/07, S.48-50.

Spiewak, Martin: Die Revolution von Fehmarn. In: Die Zeit, 12.7.07, S.15-19.

Wunder, Dieter: Schulstruktur. Ein schulpolitischer Kommentar zur aktuellen Debatte. In: Die Deutsche Schule 1/07, S.24-30.

Letzte Aktualisierung: 01.08.2007