Ein lagerübergreifender Schulkompromiss in Niedersachsen
Januar 2018
Die Koalition aus CDU und FDP hat 2011 neben Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Integrierter und Kooperativer Gesamtschule eine weitere Schulform kreiert, die Oberschule. Mit dem Regierungswechsel 2013 zu Rot-Grün kommt es zu weiteren Änderungen im Schulsystem. Die Koalition aus SPD und CDU vereinbart 2017 einen Schulkompromiss.
Zur Schulpolitik von Schwarz-Gelb 2003 – 2013
Mit der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb 2003 begann in Niedersachsen ein erbitterter Kampf gegen eine weitere Ausbreitung der Gesamtschule, dem Reformprojekt der SPD seit dem Ende der 1960er Jahre. Eine erste schulpolitische Maßnahme der neuen Regierung war ein Verbot, neue Gesamtschulen zu gründen, wie es schon einmal die Regierung Albrecht verordnet hatte. Damit wuchs allerdings der Protest im Land und mit ihm der Bedarf an Gesamtschulplätzen, was die Regierung im Wahlkampf 2007 veranlasste, für die neue Legislaturperiode eine Lockerung des Verbots in Aussicht zu stellen.
Nach der Wahl 2008 hatte die im Amt bestätigte schwarz-gelbe Regierung zwar 16 weitere Gesamtschulen genehmigt, aber nicht mehr als „gebundene“ Ganztagsschulen, mit verbindlichem Nachmittagsunterricht, sondern als „offene“ mit freiwilligen Angeboten an drei Nachmittagen in der Woche. Für das zuständige Ministerium handelte es sich bei dieser Maßnahme um die „Gleichbehandlung“ aller Schulformen. Ein weiterer Schritt zur „Gleichbehandlung“ erfolgte mit der Ankündigung, auch an Gesamtschulen die Schulzeit von 13 auf 12 Schuljahre zu verkürzen. Diese Änderung wurde dann schon für das Schuljahr 2010/11 beschlossen, was wiederum Proteste im ganzen Land auslöste.
Nach 16 Gesamtschulen für das Schuljahr 2009/10 gingen 2010/11 17 weitere Gesamtschulen an den Start, trotz der weiterhin hohen Hürden vor einer Neugründung. So musste eine Gesamtschule mit mindestens 130 angemeldeten Schüler/innen, also fünfzügig, beginnen, mit einer Bestandsprognose von 14 Jahren, im Unterschied zum Gymnasium, das auch schon zweizügig starten kann. Darüber hinaus durfte eine neue Gesamtschule den Bestand vorhandener Schulen vor Ort nicht gefährden.
Nach dem Abgang von Christian Wulff als Ministerpräsident 2010 zeigte die Regierung unter David McAllister kurze Zeit Kompromissbereitschaft im Streit um die Gesamtschule. Statt fünf Zügen sollten künftig nur noch vier Züge die Voraussetzung für eine Neugründung sein und die Kommunen bei rapide schwindender Akzeptanz der Hauptschule auch nicht mehr gezwungen sein, bei einer Neugründung alle Schulen des gegliederten Systems vorzuhalten. Das hätte es vor allem auf dem Land leichter gemacht, Gesamtschulen einzurichten. Doch diese Kompromissbereitschaft scheiterte nicht zuletzt am Widerstand des Koalitionspartners FDP.
Ein letzter Schlag gegen das Vordringen der Gesamtschule war 2011 die Erfindung einer neuen Schulform: In einer „Oberschule“ sollten Haupt- und Realschule fusionieren können und diese Schule, bei ausreichender Schülerzahl, auch eine gymnasiale Oberstufe führen, also gymnasiale Standards haben wie die Gesamtschule. Das allerdings provozierte den Widerstand des konservativen Lagers innerhalb und außerhalb der Koalition. Geblieben ist zuletzt eine Oberschule, die nach 10 Schuljahren zum Mittleren Abschluss führt, spätestens nach Klasse 8 abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bildet und ein gymnasiales Angebot in der Sekundarstufe I nur machen kann, wenn dadurch kein bestehendes Gymnasium gefährdet wird.
Koalitionsvertrag unter Rot-Grün
Bei der Wahl am 20.1.2013 wurde die schwarz-gelbe Regierung abgewählt und Rot-Grün bildete mit einer Stimme Mehrheit im Landtag die neue Landesregierung, die nicht lange brauchte, um sich im Bildungsbereich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen. Alle wesentlichen Vorhaben, die beide Parteien im Wahlkampf angekündigt hatten, finden sich im Koalitionsvertrag - bis auf das Konzept einer „Neuen Schule“ „von der ersten Klasse bis zu einem ersten Abschluss nach neun Schuljahren“, das die Grünen sich als ein längerfristig zu realisierendes Projekt vorgenommen hatten. Es ist exakt die inklusive Schule für alle bis zum Ende der Schulpflicht nach finnischem Vorbild – unter Einschluss des Gymnasiums.
Relevant für die äußere Struktur des niedersächsischen Schulwesens sind etwa die folgenden Vorhaben des Koalitionsvertrags:
-
Die „förmliche Empfehlung am Ende der Grundschule für die weiterführende Schule“ wird abgeschafft und durch „Beratung und Orientierung“ der Eltern ersetzt. Ermöglicht wird auch „die organisatorische Zusammenlegung von Grundschulen und Gesamtschulen“ (S.49)
-
Unverzüglich wird die Koalition „die Benachteiligung von Gesamtschulen auf allen Ebenen“ beenden und dafür sorgen, „dass die Errichtung von vierzügigen und – bei Sicherstellung der qualitativen Voraussetzungen – auch dreizügigen Gesamtschulen ermöglicht wird, um diese Schulform auch im ländlichen Raum anzubieten“. Gesamtschulen werden als „ersetzende Schulform“ zugelassen, das Abitur findet wieder nach 13 Schuljahren statt und Gesamtschulen haben wieder den Anspruch, „echte Ganztagsschulen zu sein“. (S.49)
-
Hauptschulen, Realschulen, Oberschulen und Kooperative Gesamtschulen können sich zu Integrierten Gesamtschulen weiterentwickeln. „Gemeinsam mit den Schulträgern und den Betroffenen vor Ort soll bei Interesse Haupt-, Real- und Oberschulen ein stärker integriertes Arbeiten ermöglicht werden.“ (S.49)
-
Neue Oberschulen können auch unter Rot-Grün eingerichtet werden. Sie arbeiten allerdings bis Ende Klasse 10 „jahrgangsbezogen“ und bilden nicht, wie unter Schwarz-Gelb beschlossen, spätestens nach Klasse 8 „abschlussbezogene“ Haupt- und Realschulklassen. (S.49)
-
Gymnasien bleiben auch in Niedersachsen unangetastet. Allerdings nimmt die Koalition wie in anderen Bundesländern „den Wunsch zahlreicher Eltern ernst, auch an den Gymnasien wieder das Abitur nach neun Jahren anzubieten“. In einem „ergebnisoffenen Dialog mit den Beteiligten und mit ausreichender Zeit für die Umstellung“ sollen „praktikable Möglichkeiten“ erörtert und umgesetzt werden, „mit denen Druck aus den Gymnasien genommen werden kann“. Dazu gehöre „unter anderem eine Wahlmöglichkeit für die Gymnasien, sich in Zusammenarbeit mit den Schulträgern für ein Abitur nach 12 oder 13 Jahren zu entscheiden“. (S.50)
-
Das von der SPD vor der Wahl angekündigte neue „Lehrerbildungsgesetz“ soll auf den Weg gebracht werden. Darin wird die Koalition „die geltende Schulformorientierung der Lehrerbildung angesichts der Veränderung in der Schullandschaft in eine schulstufenbezogene Ausbildung umwandeln“ und „für alle Lehrämter ein sechssemestriges Bachelor- und viersemestriges Masterstudium vorsehen“. (S.43)
Was wurde von den Vorhaben umgesetzt?
Schon zwei Monate nach Verabschiedung des Koalitionsvertrags beseitigte die neue Regierung die Hürden vor der Neugründung von Integrierten Gesamtschulen. Statt fünfzügig können Integrierte Gesamtschulen jetzt auch vierzügig, in Ausnahmefällen dreizügig, eingerichtet werden. Abgeschafft wird auch das von Schwarz-Gelb eingeführte Abitur nach acht Jahren. (bildungsklick.de/ 15.4.2013)
Seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün boomte vor allem die von Schwarz-Gelb 2011 beschlossene Oberschule. Sie wurde allerdings von der neuen Regierung auch aufgewertet, indem sie bis zum Ende von Klasse 10 integrativ unterrichtet und nicht spätestens nach Klasse 8 abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bilden muss. Die Oberschule ist so quasi zu einer Integrierten Gesamtschule ohne Oberstufe geworden und kann vor Ort wie die IGS zu einer andere Schulformen ersetzenden Schule werden.
Das Gymnasium bleibt in Niedersachsen auch unter Rot-Grün die bei weitem begehrteste Schulform trotz der Neugründungen von Oberschulen und Integrierten Gesamtschulen, die vor allem auf Kosten der Hauptschule und der Realschule gingen. Es gibt in Niedersachsen, Stichtag 22.9.2014, 257 Gymnasien (2013 dieselbe Anzahl), 241 Oberschulen (19 mehr seit 2013) und 116 Integrierte Gesamtschulen (10 mehr als 2013). Wer bei „einer Übergangsquote von über 42 Prozent eine Bedrohung des Gymnasiums“ herbeirede, so die Kultusministerin, habe „offenkundig weder Vertrauen in die Schulträger noch in die Stärke der niedersächsischen Gymnasien“. (bildungsklick.de/ 6.2.2015).
Hinzu kommt, dass Rot-Grün „den Wunsch zahlreicher Eltern ernst“ genommen hat und nach einem „ergebnisoffenen Dialog mit allen Beteiligten“ G9 wieder eingeführt hat. (Schulgesetznovelle 2015). Das wird die Attraktivität des Gymnasiums bei Eltern erhöhen und gleichzeitig das gerade wieder eingeführte Alleinstellungsmerkmal von Gesamtschulen (Abitur nach 13 Schuljahren) beseitigen, was wohl nur die Gesamtschulen in Niedersachsen in Verlegenheit bringen dürfte, die sich auf diesen Werbeeffekt zu sehr verlassen haben.
In die Schulgesetznovelle 2015 aufgenommen wurde auch, dass die verbindliche Schullaufbahnempfehlung durch eine „Beratung der Erziehungsberechtigten durch die Grundschule“ ersetzt wird.
Im Koalitionsvertrag sollte ein von der SPD in ihrem Wahlprogramm angekündigtes neues Lehrerbildungsgesetz „auf den Weg gebracht werden“, das eine schulform- in eine schulstufenbezogene Ausbildung der Lehrer/innen enthalten wird. Das hätte bedeutet, dass es neben dem Lehramt an Grundschulen ein Lehramt für die Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule, Oberschule) und ein Lehramt für Sekundarstufe I und II (Gymnasium , Integrierte Gesamtschule) geben wird. Zugleich soll die Ausbildungsdauer für die Lehrämter an Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I dem Lehramt an Gymnasien angeglichen werden und damit eine besondere Aufwertung erfahren.
Dieses einschneidende Reformvorhaben blieb bis zur vorgezogenen Wahl 2017 unerledigt und wäre wohl auch auf erbitterten Widerstand der Opposition aus CDU und FDP gestoßen. Während die SPD in ihrem Wahlprogramm 2017 weiterhin für ein „Lehrerbildungsgesetz“ eintrat, das Lehrer/innen „nicht länger nach Schulformen, sondern nach pädagogischen Ansprüchen der Schulstufe“ ausbildet (S.42), heißt es im Wahlprogramm der CDU, dass die Anforderungen an den Lehrerberuf seien „in unserem vielfältigen Schulsystem sehr unterschiedlich“ seien und deshalb brauche es „eine schulformspezifische Lehrerausbildung“ und keine „Einheitslehrerausbildung“. (S.23)
Koalitionsvertrag von SPD und CDU 2017
Durch den Wechsel einer Abgeordneten der Grünen zur CDU verlor Rot-Grün im Sommer 2017 die Mehrheit im Landtag. Die Wahl wurde deshalb vom 14.1.2018 auf den 15.10.2017 vorgezogen. Auch bei dieser vorgezogenen Wahl verlor Rot-Grün die Mehrheit. Mit SPD und CDU einigten sich auf eine Koalition zwei Parteien, die sich in der Schulpolitik seit Jahrzehnten bekämpften. Herausragender Streitpunkt war, wie oben gezeigt, die Integrierte Gesamtschule. Nun soll, laut Koalitionsvertrag, das Ziel ein „dauerhafter Schulfrieden“ sein, mit einer Schulstruktur, „die über die kommende Legislaturperiode hinaus Stabilität und Kontinuität garantiert“. (S.13)
Die neuen Koalitionäre setzen „auf die Vielfalt des Schulangebots und auf die Wahlfreiheit der Eltern“. Schulträger sollen in die Lage versetzt werden, „Schulstrukturen vor Ort in eigener Verantwortung weiterzuentwickeln“. Zum bisherigen schulpolitischen Hauptstreitpunkt heißt es jetzt: „Gesamtschulen sind gleichberechtigter Teil des niedersächsischen Schulsystems. Sie werden ebenso wie die anderen Schulen nach dem jeweiligen Bedarf und dem Elternwillen durch die Schulträger vor Ort errichtet.“ (S.14)
In solchen Formulierungen fehlt das, was die CDU in ihrem Wahlprogramm 2017 noch zu „garantieren“ versprach, dass für den „Erhalt der Schulvielfalt“ „jeder Schulträger, der eine Gesamtschule errichtet, auch weiterhin Gymnasien sowie Haupt- und Realschulen bzw. Oberschulen vorhalten muss“ (S.23). Im Koalitionsvertrag 2017 akzeptiert die CDU also, was Rot-Grün praktizierte, dass Eltern und Schulträger entscheiden, wie sich das Schulsystem in Niedersachsen entwickelt - und nicht das Kultusministerium. Wenn nichts mehr von Oben dekretiert wird, werden sich wohl längerfristig die beiden Schulformen durchsetzen, die alle Abschlüsse bis zum Abitur offenhalten, das Gymnasium und die Integrierte Gesamtschule.
Der Konflikt um eine Reform des Lehramtsstudiums wurde im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Dort heißt unter dem Stichwort „Besoldung“ lediglich, dass ein „Stufenplan“ entwickelt werden soll, „der zum Ziel hat, die Besoldungsstruktur für Lehrkräfte zu überarbeiten“. (S.9) Das aber kann ja aber wohl zusammen nur mit einer Reform des Lehramtsstudiums erfolgen.
Kann es eine Annäherung von Gymnasium und Gesamtschule geben?
Zur Entwicklung der Integrierten Gesamtschule in Niedersachsen
In einem Beitrag für die „Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule“ (GGG) in Niedersachsen von 2015 beschreibt Wolfgang Kuschel unter der Überschrift „Reformmotor, Stagnation, Aufbruch“ die wechselvolle Geschichte der Gesamtschule in Niedersachsen. Nachdem die rot-grüne Regierung nach der Wahl 2013 die „Schleusen“ für Neugründungen von Gesamtschulen geöffnet hatte, sind für Kuschel für die Gesamtschule verschiedene Entwicklungsvarianten denkbar - unter der Prämisse, dass auch in Niedersachsen das Schulsystem längerfristig auf ein Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasium und Gesamtschule hinausläuft, wie das in Göttingen bereits der Fall sei und bald wohl auch in Hannover.
Denkbar ist für Kuschel die folgende Entwicklungsvariante: Bei dem „anhaltenden Run auf die Gesamtschule“ gehe „ein Alleinstellungsmerkmal nach dem anderen“ verloren und die Gesamtschule unterscheide sich „äußerlich kaum noch von der anderen übrig bleibenden Schulform“, dem Gymnasium. Würde dann die rot-grüne Regierung „ nach der Abschaffung der Laufbahnempfehlungen auch noch ihre Vorstellungen von der Abschaffung des Sitzenbleibens und des Abschulens wahrmachen, dann würden die Gymnasien weiter und vielleicht noch mehr von Schülern geflutet“. Sie könnten sich dann aber „nicht mehr der 'Problemschüler' entledigen, sondern müssten auch für die schwächeren Schüler Verantwortung übernehmen“ (S.9). Für Kuschel ist eine solche Entwicklung allerdings „wenig wahrscheinlich“, solange „noch dem Mythos vom 'gymnasialen Niveau' gehuldigt“ werde und „die Konservativen auf einer eigenen 'höheren' Schule“ bestünden. (S.9)
Ein Konflikt zwischen Gymnasium und Gesamtschule in Göttingen
Der Mythos vom „gymnasialen Niveau“ und dem Gymnasium als der „höheren“ Schule wird wohl weiterhin einen Teil der Eltern mehr motivieren, ihre Kinder auf diese „höhere“ Schule zu schicken, als die pädagogische Qualität der Schulen vor Ort unvoreingenommen zu prüfen. Diese unvoreingenommene Prüfung der pädagogischen Qualität hat in Göttingen zu einer kuriosen Situation geführt. Zwei Jahre nach Kuschels Beitrag vom April 2015 erschien in der ZEIT vom 1.6.2017 ein Artikel von Christoph Farkas mit dem Titel „Das Gezerre um gute Schüler“. (S.6 f.)
Die Stadt Göttingen hatte, wie Farkas berichtet, 2015 beschlossen, alle Haupt- und Realschulen auslaufen zu lassen, weil kaum noch jemand dort hinwolle (offensichtlich gab es in der Stadt keine Oberschule), so dass es mittelfristig nur noch Gymnasien und Gesamtschulen geben wird. Von den vier Gesamtschulen seien drei gut nachgefragt, das heißt konkret „überwählt“, darunter die Georg-Christoph-Lichterberg-Schule in Göttingen-Geismar, die 2011 den Deutschen Schulpreis bekam. Die Schule konnte für das Schuljahr 2017/18 zwar 180 Fünftklässler aufnehmen, musst aber mehr als 100 Kindern eine Absage erteilen. Farkas beschreibt auch, wie die Schule nach einem Losverfahren auswählt: „Sechzig Prozent aus der Leistungsspitze der Grundschule, zwanzig Prozent aus der Mitte, zehn Prozent von den Schwachen, zehn Prozent Inklusionskinder.“
Da die beiden andern gut nachgefragten Gesamtschulen wohl ähnlich verfahren und nicht alle abgelehnten Kinder in der vierten, weniger nachgefragten Gesamtschule unterkommen, müssen die übrigen Kinder zwangsläufig den Gymnasien der Stadt zugeteilt werden, die nun, wie Farkas berichtet, über die sechzig Prozent leistungsstarker Schüler/innen an Gesamtschulen empört seien und auch über die vielen Schüler/innen, die eigentlich nichts auf einem Gymnasium zu suchen hätten. Der Schulleiter eines Gymnasiums, den Farkas zitiert, ist der Meinung, es sei „schon überraschend, dass wir Gymnasien uns jetzt für die schwachen Schüler stark machen müssen“ und die Gesamtschulen, die behaupten, „eine Schule für alle“ zu sein, „sich dann hintenrum eine ziemlich gymnasiale Schülerschaft zusammensuchen“. Dem erwidert der Leiter der Gesamtschule in Göttingen-Geismar, dass die Schule sich die Auswahlquote ja nicht ausdenke, sie entspreche „der Bevölkerungsverteilung und dem Willen der Eltern“.
Ausblick
Göttingen mit seinen attraktiven Gesamtschulen ist zur Zeit gewiss ein einmaliger Fall. Noch gibt es im übrigen Niedersachsen genug Haupt-, Real- und Oberschulen, in die Gymnasien ihre leistungsschwachen Schüler/innen abschulen können und noch hatte sich die rot-grüne Regierung bis zur Wahl am 15.10.2017 nicht getraut, den Gymnasien zuzumuten, die Verantwortung für alle Kinder zu übernehmen, die sie nach der Grundschule aufgenommen haben. Da nicht abzusehen ist, weder in Göttingen, noch in Niedersachsen, noch in den anderen Bundesländern, wann es nach der Grundschule auch von Klasse 5 bis 10 eine Schule für alle geben wird, wären Gymnasien und Gesamtschulen gut beraten, ernsthaft über die Situation in Göttingen nachzudenken.
Wäre es nicht auch für viele Gesamtschulen, die gerade durch die Wiedereinführung von G9 ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal verlieren, Anlass, von den erfolgreichen Göttinger Gesamtschulen zu lernen? Und wäre nicht, angeregt durch die Situation der Göttinger Gymnasien, die Reform des Gymnasiums, die wohl erst von wenigen Gymnasien ernsthaft betrieben wird („Deutscher Schulpreis“), eine gute Entwicklung für immerhin vierzig bis fünfzig Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in den Bundesländern ein Gymnasium besuchen? Gymnasien ohne Angst, die Schule wegen schwacher Leistungen verlassen zu müssen, und das in der kritischen Phase der Pubertät? Wäre nicht mit diesem „Wandel durch Annäherung“ der beiden Schulformen die Chance gegeben, den politischen Streit, der ja letztlich auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen wird, zu beenden und ihn in einen fairen Wettbewerb von Gesamtschule und Gymnasium zu überführen?