Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Ein Sonderweg im Schulsystem von Rheinland-Pfalz

Mai 2016

In der Pisa-Debatte hatte sich das Land von Anfang an gegen eine Reform des Schulsystems gewehrt, aus Furcht vor den alten Grabenkämpfen um die Gesamtschule. Doch immer mehr hat die schwindende Akzeptanz der Hauptschule die Landesregierung gedrängt, über eine Strukturreform nachzudenken. Das hat dazu geführt, dass es 2006, als die SPD die absolute Mehrheit errang, nach der Grundschule fünf Schulformen gab: Gymnasium, Integrierte Gesamtschule, Realschule, Hauptschule und die Regionale Schule, ein Zusammenschluss von Haupt- und Realschule, die nach einer „Orientierungsstufe“ in 5/6 weiter integriert unterrichten kann oder aber abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bildet. Im Schulentwicklungsplan der neuen SPD-Alleinregierung sollte nun die Hauptschule nicht auch in die Regionale Schule integriert werden, sondern in eine weitere Schulart, die Kooperative Realschule, die nach der Orientierungsstufe abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bilden muss und nicht integriert weiter unterrichten darf.

Realschule plus und Fachoberschule

Um die Vielfalt weiterführender Schulformen zu reduzieren, wird in einer Novelle des Schulgesetzes 2008 eine neue Schulform kreiert, die Realschule plus, mit den beiden Varianten der Integrativen Realschule (neuer Name für die Regionale Schule) und der Kooperativen Realschule. Die neue Schulform konnte bereits ab dem Schuljahr 2009/10 eingerichtet werden und wurde ab dem Schuljahr 2013/14 verbindlich eingeführt. Neu ins Schulgesetz aufgenommen wurde eine berufsbildende Schulform, die Fachoberschule, die organisatorisch an eine Realschule plus angebunden sein kann. Sie führt in einem zweijährigen Vollzeitunterricht zur Fachhochschulreife. Neben der Fachoberschule stehen, wie bei der alten Realschule, auch bei der Realschule plus weiterhin alle Anschlüsse offen: die Berufsausbildung im dualen System, die gymnasiale Oberstufe, das berufliche Gymnasium und die vollzeitschulischen Angebote der Berufsschulen. (http://bildungsklick.de /11.3.2008)

Der Besuch der gymnasialen Oberstufe dürfte allerdings schwieriger werden. Die alte Realschule hatte ja den Anspruch, für die Sekundarstufe I ebenso leistungsfähig zu sein wie das Gymnasium und möglichst viele Schüler/innen für den Besuch der gymnasialen Oberstufe zu qualifizieren. Sie verstand sich wie das Gymnasium als eine allgemeinbildende Schule. In der Realschule plus gibt es nun ganz andere curriculare Schwerpunkte, etwa die „Vorbereitung auf die Wirtschafts- und Arbeitswelt, die beruflichen Orientierungsmaßnahmen, der Berufswahlunterricht und die Wahlpflichtbereiche“ als „zentrale inhaltliche Angebote“. (http://bildunsklick.de /11.3.2008)

In einer Presseerklärung der Kultusministerin Doris Ahnen vom August 2009 heißt es: „Die Stärkung der Angebote im Wahlpflichtbereich mit den Fächern Wirtschaft und Verwaltung, Hauswirtschaft und Sozialwesen sowie Technik und Naturwissenschaften, die ab der sechsten Klassenstufe wirksam werden, verbessern zusammen mit der Verstärkung der Berufsorientierung als Unterrichtsprinzip die Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung sowie das Berufsleben und stoßen auch in der Wirtschaft auf breite Zustimmung.“ (http://bildungsklick.de /24.8.2009)

Während die SPD auf Bundesebene in ihrem Grundsatzprogramm nach wie vor wirbt „für ein Schulsystem, in dem Kinder so lange wie möglich zusammen und voneinander lernen“, was am besten zu erreichen sei „in einer gemeinsamen Schule bis zur zehnten Klasse“, macht eine SPD-Alleinregierung in Rheinland-Pfalz ohne Not aus der fusionierten Haupt- und Realschule zu Lasten der Allgemeinbildung eine dezidiert berufsorientierte Schule, die für zehnjährige Kinder beginnt und nahtlos in eine berufliche Schule übergehen kann. Diesen Sonderweg der rheinland-pfälzischen SPD gibt es in keinem Bundesland, statt dessen verstärkt sich dort der Trend zu einem Zwei-Weg-Modell, in dem das Gymnasium und die nicht gymnasiale Schule (Integrierte Gesamtschule, Gemeinschaftsschule und andere Namen) denselben Bildungsanspruch haben und zur allgemeinen Hochschulreife führen. Beschlossen ist dieses Modell bereits in den Stadtstaaten, im Saarland und in Schleswig-Holstein.

Wer davon ausging, dass nach der SPD-Alleinregierung die Grünen als neue Koalitionspartner am Konzepte der Realschule plus Änderungen durchsetzen würden, sieht sich enttäuscht. Im rot-grünen Koalitionsvertrag 2011-2016 steht der lapidare Satz: „Wir werden Realschule plus, Integrierte Gesamtschule und Gymnasium in ihrer wichtigen Arbeit fördern.“ (S.9) Die Grünen akzeptieren also eine Schule mit eingeschränkter Allgemeinbildung.

Das Lehramtsstudium bleibt schulformbezogen

Bevor Jürgen Zöllner, der Amtsvorgänger von Kultusministerin Doris Ahnen, 2002 auch für das Lehramtsstudium, den Vereinbarungen von Bologna entsprechend, ein Bachelor/Master-Studium auf den Weg brachte, war in Rheinland-Pfalz die Welt eines hierarchisch gestuften Lehramtsstudiums des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch in Ordnung: 6 Semester für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen, der alten Volksschule, 7 für das der Realschule und 8 Semester für das Lehramt an Gymnasien. In den ersten sechs Semestern eines in Bachelor und Master gestuften Studiums studieren in Rheinland-Pfalz alle Lehramtsstudierende, unabhängig von der Schulform, ein im Wesentlichen identisches Studium, das mit dem Bachelor abschließt und das auch für Tätigkeiten außerhalb des Schuldienstes qualifizieren soll. Daran schließt sich ein Master-Studium für die Lehrämter Grundschule und Haupt- und Realschule von zwei, für die Sonderpädagogik von drei und für das Gymnasium von vier Semestern an.

Man kann davon ausgehen, dass der erfahrene Bildungspolitiker diese feine Abstufung wohl nicht mehr mit einer unterschiedlichen Komplexität des jeweiligen Lehramts begründen konnte, sondern dass hier der Finanzminister wohl auf den folgenreichen Unterschied von gehobenem und höherem Dienst bestehen musste. Und das wird wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass Zöllners Nachfolgerin im Amt das für die von ihr konzipierte Realschule plus eigens eingerichtete „Lehramt für Realschule plus“ nicht der Studiendauer des gymnasialen Lehramts angeglichen hat, sondern dem sonderpädagogischen Lehramt mit einem dreisemestrigen Master-Studium. Aus der alten Stufung der Studienzeiten von sechs, sieben und acht Semestern ist jetzt eine Stufung von acht (Grundschule), neun (Realschule plus und Sonderpädagogik) und zehn Semestern (Gymnasium) geworden. An Integrierten Gesamtschulen werden wohl in Rheinland-Pfalz, wie in anderen Bundesländer auch, weiterhin Lehrer/innen aus verschiedenen Lehrämtern unterrichten, mit all den Status- und Besoldungsproblemen, die eine solche Regelung mit sich bringt.

Programme zur Wahl 2016

Während im Wahlprogramm der SPD die Strukturreformen kein Thema mehr sind, wollen die Grünen „eine Schule für alle, in der Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen länger mit- und voneinander lernen können“. Dafür wollen sie „um politische und gesellschaftliche Mehrheiten“ werben. Um Schulstandorte im ländlichen Raum zu erhalten, fordert die Partei „Schulen, die wohnortnah alle Abschlüsse unter einem Dach anbieten“. Dafür müsse „das Land gemeinsam mit den Schulträgern Wege zur Errichtung weiterer Gesamtschulen ebnen“ (Wahlprogramm, S.76). Das ist eine klare Ansage der Partei an den Koalitionspartner, dem es mit der berufsorientierten Realschule plus gerade nicht, wie in einer Reihe von Bundesländern, mit dem Zwei-Wege-Modell um zwei Schulformen geht, die beide denselben Bildungsanspruch erheben und die beide auf einem direkten Weg zur allgemeinen Hochschulreife führen. Das aber ist offensichtlich das Konzept der Grünen, wenn sie weitere Integrierte Gesamtschulen fordern, ohne sich direkt von der Realschule plus zu distanzieren.

Die CDU stellt in ihrem Wahlprogramm fest, dass sich Realschule plus und Gesamtschule „um die gleiche Schülerschaft kümmern“, also mehr miteinander konkurrieren als Gesamtschulen und Gymnasien. Sie fordert darum nicht nur, dass beide Schulformen „gleichberechtigt behandelt werden“, sondern Gesamtschulen sollen „sich zur eignen Profilbildung sehr viel stärker als bisher der praxisorientierten Bildung der Realschule plus öffnen“, also auch eine berufsorientierte Schule werden und wie die Realschule plus über die neue Fachoberschule zu Fachhochschulreife führen. (S.16) Die Konsequenz solcher Überlegungen der CDU ist längerfristig auch ein Zwei-Säulen-Modell mit dem Gymnasium und einer berufsorientierten zweiten Säule, der Realschule plus.

Während das von der SPD weiterbetriebene schulformbezogene Lehramtsstudium im Wahlprogramm keine Erwähnung mehr findet, wollen die Grünen „die Lehramtsausbildung in Rheinland-Pfalz hin zu einem schulartübergreifenden Stufenlehramt reformieren, wie es in anderen Bundesländern bereits umgesetzt“ worden sei. (Wahlprogramm, S.78)

Koalitionsvertrag 2016

Die neue Regierung aus SPD, FDP und den Grünen einigte sich im Koalitionsvertrag auf zwei strukturrelevante Aussagen:

  • Wir wollen längeres gemeinsames Lernen verstärkt ermöglichen, wo es vor Ort gewünscht wird. Wir wollen die Errichtung weiterer Integrierter Gesamtschulen unter Sicherung des Qualitätsniveaus unterstützen. Zur Sicherung eines breiten Angebotes bei der Fächerwahl in der Oberstufe werden wir bei kleiner werdenden Schulen Kooperationen zwischen Schulen prüfen. (S.15)

  • Die Realschule plus ist eine tragende Säule unseres durchlässigen Bildungssystems und der erfolgreichen Fachkräftesicherung. Wir wollen die Schulart Realschule plus stärken und im Rahmen einer breit angelegten Informationskampagne die mit dem Besuch der Realschule plus verbundene Bildungs- und Aufstiegschancen im Land noch bekannter machen. (S.16)

Wenn die Realschule plus, die intensiv beworben werden soll, erfolgreich „Fachkräftesicherung“ gewährleistet, so unterstellt die Koalition, vor allem die SPD, dass ein Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und Integrierter Gesamtschule diese Sicherung für die Wirtschaft im Lande nicht zu leisten vermag. Dieser Sonderweg der SPD in Rheinland-Pfalz ist nicht nur eine Absage an das Zwei-Wege-Modell, sondern auch eine Absage an das Konzept der Integrierten Gesamtschule als einer die anderen Schulformen ersetzenden Schule für alle, die auch Kinder mit Behinderungen und mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen willkommen heißt und sie ihrem Leistungsvermögen entsprechend fördert. Dass diese inklusive Schule möglich ist, beweisen viele Grundschulen und Integrierte Gesamtschulen bei uns, darunter eine ganze Reihe mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete.

Ziel allgemeiner Bildung ist es, eine kritisch-reflektierte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben einzuüben, wozu auch eine distanziert-kritische Vorbereitung auf die Berufswelt gehört. Das aber setzt die Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung voraus, zumal berufliche Bildung doch sehr stark auf Ausbildung eingeschränkt ist und allgemeinbildende Inhalte im Curriculum kaum angeboten werden. Unter diesem Aspekt ist die Verkürzung der Schulzeit der allgemeinbildenden Schule auf 9 oder 10 Schuljahre ohnehin eine schwer begründbare Unterprivilegierung von immerhin noch mehr als der Hälfte der Schüler/innen, darunter viele aus sozial benachteiligten Familien, während Gymnasium und Integrierte Gesamtschule 12 oder 13 Schuljahre für allgemeinbildende Inhalte zur Verfügung stehen und alle Schüler/innen, die es wollen, dieses Angebot nutzen können.

 

Letzte Aktualisierung: 18.05.2016