Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Bildungsstandards für den Deutschunterricht - aber welche und wie rasch?

Juli 2004

Positionen in der PISA-Debatte

Es gibt in der nach wie vor kontrovers geführten PISA-Debatte immerhin ein von allen Beteiligten akzeptiertes Ergebnis: Die deutschen Schulen müssen, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden, besser werden, um sich dem Leistungsstand der führenden Bildungsnationen anzunähern. Einig ist man sich landauf landab außerdem, dass es für alle Schulen bundesweit verbindliche Bildungsstandards und Testverfahren geben soll. Diese konsensfähige Forderung nach Standards und Tests wirft jedoch die Frage auf, ob die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems sich ohne eine grundlegende Strukturreform überhaupt verbessern lässt. Darauf gibt es in der aktuellen Debatte mindestens drei unterschiedliche Antworten:

  1. Die schlechten PISA-Ergebnisse haben mit dem deutschen Schulsystem, seiner Dreigliedrigkeit und seiner als mangelhaft kritisierten Durchlässigkeit nichts zu tun. Es wäre fatal, wenn wir nach Jahrzehnte langer Gesamtschuldebatte erneut Energie und Zeit mit grundlegenden Strukturfragen verschwendeten, indem wir den mühsam erreichten Kompromiss, Integrierte Gesamtschulen nur auf Elternwunsch einzurichten, in Frage stellten
  2. Ohne die Einführung eines integrierten Systems über die vierjährige Grundschule hinaus, also von 1 bis 9/10, wie das alle im PISA-Test erfolgreichen Nationen, die Ganztagsschule eingeschlossen, längst getan haben, sind alle Reformbemühungen ein Kurieren an Symptomen und letztlich zum Scheitern verurteilt; denn solange deutsche Schulen nicht auch die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler fördern müssen, sondern aussortieren können, indem sie sie nicht versetzen, am Ende der Grundschule in drei Niveaustufen einteilen und Schulformen zuweisen oder in der gesamten Sekundarstufe in weniger anspruchsvolle Schulformen zurück versetzen können, solange gibt es keinen systemimmanenten Druck, über eine bessere Qualität von Unterricht, über didaktische und methodische Innovationen nachzudenken, um alle Schülerinnen und Schüler, die leistungsschwachen und die leistungsstarken, angemessen zu fördern.
  3. Längerfristig wird sich auch bei uns das von 1 bis 9/10 integrierte System der erfolgreichen PISA-Länder durchsetzen, weil es nicht nur den für Chancengerechtigkeit Engagierten besser erscheint, sondern weil es die Wirtschaft im Sinne einer "Ausschöpfung aller Begabungsreserven" zunehmend fordert (Merkelbach 2003 a). Doch diese Entwicklung braucht Zeit und wird erst zu einem Konsens der relevanten gesellschaftlichen Akteure führen, wenn die alten Kampfhähne abgetreten sind und eine neue Politikergeneration sich pragmatisch aus den alten Grabenkämpfen verabschiedet. Diese Strukturdebatte, die die Kultusminister und Bildungspolitiker der beiden großen Parteien nach der Veröffentlichung der PISA-Studie geradezu reflexartig ablehnten, wird sich nicht mehr tabuisieren lassen, aber für morgen und übermorgen muss darüber nachgedacht werden, welche Reformschritte innerhalb des bestehenden Systems möglich sind und Erfolg versprechen.

 

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Zum Standardbegriff der Klieme-Expertise

Am 18.Februar 2003 wurde in Berlin die vom Bundesministerium in Auftrag gegebene Expertise "Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards" vorgestellt. Anwesend waren die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, die amtierende Präsidentin der KMK, Karin Wolff, und Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt, der mit einer Reihe von Fachkollegen das Gutachten erarbeitete (Klieme 2003). Der 150-seitige Text löste eine Debatte aus, die der bereits im Abschwung befindlichen PISA-Debatte unter einem spezifischen Aspekt noch einmal Auftrieb gegeben hat. Sind nationale Bildungsstandards und diese Standards kontrollierende Tests vielleicht doch der Pfad, der aus unserer Bildungsmisere herausführen könnte, - neben dem anderen Hoffnungsträger, der Ganztagsschule? Oder kann man mit einer inhaltlichen Veränderung des positiv besetzten Begriffs wieder einmal die grundlegende Reform des deutschen Bildungssystems vermeiden, die die offizielle Politik nach wie vor scheut wie der Teufel das Weihwasser?
Wer sich auf das Standard-Konzept der Klieme-Expertise einlässt und sich auch nicht von so unpädagogisch klingenden Begriffen wie Input-/Output-Steuerung irritieren lässt, kann sehr bald den Eindruck gewinnen, dass es von den Verfassern des Gutachtens bei der Formulierung, der schulformübergreifenden Verwendung und Überprüfung von Bildungsstandards nicht um Schnellschüsse in einer politisch überhitzten Debatte geht, vielmehr sollen, ganz im Sinne von PISA und dem von der Studie nahegelegten Systemvergleich, Strukturfragen nicht als marginal oder irrelevant ausgeklammert, sondern von Anfang an mitbedacht werden. (Merkelbach 2003 b) Über Leistungstests des Systems insgesamt und der einzelnen Schule hinaus sollen "im Rahmen einer nationalen Bildungsberichterstattung" "Systemziele wie etwa Abbau von Disparitäten, die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Benachteiligungen, die Integration von Migranten und die Begabtenförderung oder die Flexibilität und Offenheit von Bildungsgängen" thematisiert werden (Klieme 2003, S.7). Der Geist der Expertise zeigte sich mir besonders in der Frage, ob es bei den nationalen Bildungsstandards um ein nicht zu unterschreitendes Minimum ("Mindeststandards") gehen soll, um ein mittleres Niveau ("Regelstandards") oder ein Höchstniveau ("Maximalstandards"). Die Gutachter entscheiden sich eindeutig für Mindeststandards mit der Begründung:

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"Diese Konzentration auf Mindeststandards ist für die Qualitätssicherung im Bildungswesen von entscheidender Bedeutung. Sie zielt darauf ab, dass gerade die Leistungsschwächeren nicht zurückgelassen werden. Jeder Schule, jedem Lehrenden soll klar sein, welche Mindesterwartung gestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass unser Bildungssystem, verglichen mit den Systemen anderer Industriestaaten, Schwächen vor allem im unteren Leistungsbereich zeigt, kommt diesem Merkmal besondere Bedeutung zu. Die national und schulform-übergreifend verbindliche Formulierung von Bildungszielen und Mindestanforderungen - die dann Lehrplanarbeit, Unterrichts- und Förderkonzepte, Schulevaluation und anderes beeinflussen - kann einen entscheidenden Abbau von Disparitäten in unserem Bildungssystem leisten." (Klieme 2003, S.20)
Schon Regelstandards, die ein Durchschnittsniveau formulieren, schüfen Gewinner und Verlierer. Diesem, in unserem selektiven Schulsystem dominierenden "Defizit-orientierten" Ansatz soll, hoffen die Gutachter, "durch eine positive Beschreibung von Kompetenzen, insbesondere einer positiven Darstellung von Mindestanforderungen" entgegengewirkt werden (Klieme 2003, S.20f.).
Für alle die, die in und außerhalb der KMK meinen, das mit den Standards sei rasch zu erledigen, bringen die Gutachter einen wichtigen Zeitfaktor ins Spiel: Ob für Mindeststandards oder auch für erweiterte Profile: "die Höhe der Kompetenzanforderungen" sei "erst nach empirischen Befunden definitiv" festzulegen (Klieme 2003, S.22). Mit Standards kommen für die Expertise zwar auch Fragen der Bewertung von Lernergebnissen ins Spiel. Unterschieden werden müsse aber klar und deutlich "zwischen der Diskussion über die Qualität der Lernergebnisse einerseits sowie die Festlegung von Noten, Vergabe von Zertifikaten und der Entscheidung von Schullaufbahnen von Schülern andererseits". Standards sollten "ein Kriterium für Lernergebnisse jeder Schule, jeder Klasse und konsequenterweise jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers sein", dürften "aber nicht mit Benotungs- und Prüfungsregeln oder gar mit Regelungen zum Übergang auf weiterführende Schulen verwechselt werden". Dies schon deshalb nicht, weil Standards vom Gesamtcurriculum nur einen Kern der zentralen Fächer abdeckten. Darum rät die Expertengruppe auch dringend davon ab, Tests in den Abschlussklassen durchzuführen (Klieme 2003, S.39).
"Um es ganz deutlich zu sagen: Diese Expertise sieht die Funktion von Bildungsstandards nicht darin, den individuellen Leistungs- und Selektionsdruck auf Schülerinnen und Schüler zu verstärken. Im Vergleich mit anderen Staaten bzw. Kulturen zeichnet sich Deutschland ohnehin dadurch aus, dass die Schüler mehr Leistungsdruck als Unterstützung wahrnehmen, während die Schule in den nordischen und angelsächsischen Ländern, wo Standards und Schulevaluation vertraut sind, eher als unterstützend und anerkennend erlebt wird. Bildungsstandards könnten in unserer Gesellschaft vielmehr dazu führen, dass bestimmte Erwartungen an das Kompetenzniveau als selbstverständlich gelten, für deren Einlösung Schülerinnen und Schüler, Eltern und Schule gemeinsam die Verantwortung übernehmen." (Klieme 2003, S.39f.)
Die Verfasser des Gutachtens fordern, bei der Formulierung von Standards sich an allgemeinen Bildungszielen zu orientieren, in denen sich ausdrückt, "welche Chancen zur Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit, zur Aneignung von kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen, zur Bewältigung praktischer Lebensanforderungen und zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wir Kindern und Jugendlichen geben wollen". Bildungsstandards formulieren vor diesem Hintergrund Anforderungen an das Lehren und Lernen und konkretisieren den Bildungsauftrag allgemeinbildender Schulen. Sie benennen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen und die so konkret beschrieben werden müssen, "dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können"). Kompetenzen wiederum werden weiter konkretisiert in jeweils für verschiedene Altersstufen strukturierte Kompetenzmodelle, die mit adäquaten Testaufgaben Antwort geben auf die Frage, ob unser Bildungssystem seinen Auftrag erfüllt und inwieweit es der einzelnen Schule gelingt, Bildungsstandards zu erreichen. (Klieme 2003, S.13f.)

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Bildungsstandards statt Bildung?

Auf den Einwand, dass Bildungsstandards, auf messbare Kernbereiche von "Hauptfächern" beschränkt, allgemeine Bildungsziele und damit die Bildung des Subjekts und seiner Fähigkeiten aus dem Blick verdrängen könnte, setzten sich die Gutachter mit einem Zitat Hartmut von Hentigs auseinander, der als mögliche Kriterien für Bildung vorschlägt:
"Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; und - ein doppeltes Kriterium - die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung für die res publica." (von Hentig 1999, S.73)
Natürlich wisse von Hentig, dass solche Bildungskriterien weder messbar noch als Leistung von der Schule allein zu erwarten seien. Zwar habe man mit solchen Ansprüchen "die Diskussion über messbare und basale Bildungsstandards verlassen und das Feld der allgemeinen Bildungsziele betreten", über die zu diskutieren in der Zuständigkeit einer "aufgeklärten, moralisch verantwortlich argumentierenden Öffentlichkeit" liege, dennoch: Auch rein kompetenztheoretisch definierte Bildungsstandards müssten sich "an der Frage messen lassen, ob sie den Zugang zu solchen allgemeinen Bildungszielen und der Diskussion dieser Kriterien eröffnen". Die Gutachter sind da ganz optimistisch, weil Bildungsstandards "erkennbar der Logik bildungstheoretischer Debatten selbst" folgten und "sich in einem modernen Kerncurriculum allgemeiner Bildung systematisch verorten" ließen. (Klieme 2003, S.56) In diesem Verzicht auf eine bildungstheoretische Fundierung von Bildungsstandards sieht Eiko Jürgens dennoch ein gravierendes Versäumnis der Gutachter. Gerade in der aktuellen Debatte sei die "bildungstheoretische Betonung von Selbstbestimmung, Freiheit und 'Allseitigkeit', die Zurückweisung einer zu frühen beruflichen An- und Einpassung wie die Abwehr einer einseitigen Verzweckung des Individuums nach gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen" von großer Bedeutung. Jürgens misstraut der Annahme der Gutachter, es gebe, was "die Funktion allgemeiner Bildung" und "die Erwartungen an ihre Qualität" betrifft, "einen praktischen Konsens, den man jenseits der immer neuen Kontroversen nicht übersehen sollte". Wenn für die Gutachter der "Überdruss an den einschlägigen pädagogischen Debatten" sich aus dem "schreienden Missverhältnis" "zwischen utopischen Entwürfen und realen Möglichkeiten und Leistungen der Schule" erklärt (Klieme 2003, S.50f.), stellt Jürgens, von einer solchen Erklärung provoziert, die provokante Frage:
"Sieht sich die Gruppe der Protagonisten des 'bildungstheoretischen Pragmatismus' nicht vielleicht deshalb selbst von dem aus der Kultur und Tradition hervorgegangenen 'Bildungsideal' überfordert, weil eigentlich nicht der bisher gültige Bildungsbegriff auf Zweckrationalität und Angepasstheit an gesellschaftlich-ökonomische Verwertbarkeit zurückgestutzt werden müsste, sondern stattdessen das Schulsystem endlich einer radikalen Reform unterworfen werden müsste, mit der die praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse im internationalen Vergleich konstruktiv aufgegriffen würden?" (Jürgens 2003, S. 3f.)
Das ist die Kontroverse unter Erziehungswissenschaftlern, die Bildungsstandards wollen. Während jedoch die einen auf eine grundlegende bildungstheoretische Fundierung meinen verzichten zu sollen, weil sie einen "praktischen Konsens" unterstellen, fordern die anderen eine solche Fundierung, - nicht im luftigen Raum pädagogischer Theorien, sondern bezogen auf das, was noch und weiterhin Bildung sein soll bei der Definition von Bildungs-Standards. Es wird sich zeigen, wie die Protagonisten beider Positionen auf die KMK-Standards reagieren, die ja als Standards für den Mittleren Schulabschluss und - im Entwurf - als Standards für den Hauptschulabschluss gleich zwei wichtige Essentials des Klieme-Gutachtens ignorieren:

  • Bildungsstandards sind als Lernstandserhebungen nicht prüfungs-, sondern förderorientiert.
  • Bildungsstandards als Mindestanforderungen sind in der Sekundarstufe I schulformübergreifend zu formulieren und anzuwenden
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Bildungsstandards und traditionelle Leistungsmessung

Kompetenz ist die zentrale Kategorie der PISA-Studie und ist da, bezogen auf Lesefähigkeit, in ein fünfstufiges Kompetenzmodell gegliedert, das ganz pragmatisch und produktorientiert formuliert ist, ohne dass der Prozess, der zu einer bestimmten Kompetenzstufe oder einem Kompetenzniveau führt, eine Rolle spielt. Hier fordern die Verfasser der Klieme-Expertise über die PISA-Studie hinauszugehen. Kompetenzen sind für sie erlernbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, verbunden mit der Bereitschaft, gefundene Problemlösungen in unterschiedlichen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll zu nutzen. Es geht also bei Kompetenzen um kognitive Wissensinhalte, aber auch um Einstellungen, Werte und Motive.
Um dieses Konzept konkret auszufüllen, ist nach Auffassung der Gutachter, auf der Basis pädagogischer, soziologischer und entwicklungspsychologischer Forschung, vor allem die Fachdidaktik gefordert. Sie müsse für das einzelne Fach, für dessen Fach-Bereiche oder Teildimensionen festlegen, welche Anforderungen für eine bestimmt Niveaustufe zumutbar sind. Bildungsstandards trügen so dazu bei, solche Entscheidungen "transparent und damit nach wissenschaftlichen und professionellen Maßstäben prüfbar zu machen" (Klieme 2003, S.16).
Wie wird Leistungsmessung traditionell in unseren Schulen gehandhabt, wo ja kein Mangel herrscht an Prüfungen, Bewertungen und Zensuren? Es gibt für einzelne Schul- und Klassenstufen Lehrpläne, die im Bereich der Sekundarstufe I entweder als Rahmenpläne schulformübergreifend formuliert sind, zumindest in den allgemeinen Lernzielen, oder, wie in Hessen seit dem Schuljahr 2002/03, wieder streng schulformbezogen. Ob nun die Lernziele im Lehrplan einer bestimmten Klassenstufe von einer Schülerin oder einem Schüler erreicht wurden, wird an unseren Schulen in der Regel nicht mit Prüfungsaufgaben festgestellt, die die einzelne Klasse, Schule oder Schulform übergreifen, sondern die einzelne Lehrperson stellt fest, ob eine Schülerin oder ein Schüler in einem bestimmten Fach das Klassenziel erreicht oder verfehlt hat. Dieses Urteil basiert wesentlich auf Leistungskriterien, die sich die betreffende Lehrperson im Studium, meist jedoch danach, allein oder in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen, angeeignet hat. Dabei bleibt es ihr unbenommen, ihre Kriterien über Jahrzehnte unverändert anzuwenden oder sie in ständiger Auseinandersetzung mit der pädagogischen und fachdidaktischen Diskussion, bei der gemeinsamen Arbeit an einem Schulcurriculum weiterzuentwickeln. Ob an einer Schule Lehrpersonen der einen oder anderen Prüfungs- und Benotungspraxis dominieren, bestimmt wohl wesentlich die Unterrichtsqualität einer Schule. Beide Verhaltensweisen sind jedoch, das ist entscheidend, gleichermaßen legitim und bleiben administrativ in der Regel unkontrolliert.
Das Fatale an dieser Praxis des Prüfens und Messens ist, dass sie, ob im Eigenbau oder wissenschaftlich begründet, wesentlich funktioniert im Interesse eines hochselektiven Systems, das den Lehrenden erlaubt, Lebenschancen zuzuteilen, die wissenschaftlich und pädagogisch verantwortet, aber auch in hohem Maße unbegründet und ungerecht sein können, solange nur das systembedingte Aussortieren gewährleistet ist. Natürlich kann die einzelne Lehrperson, können Lehrergruppen und ganze Kollegien das Auslese-orientierte Messen und Prüfen auch partiell unterlaufen, um Lernprozesse nicht durch Zensuren zu blockieren, indem z.B. Klassenaufsätze erst nach der reellen Chance gründlicher Überarbeitung benotet werden. Aber diese wissenschaftlich und lernpsychologisch gut begründbaren Konzepte sind mehr oder minder subversive Akte im System.
Wie ein solcher Spagat im prekären Feld der Leistungsmessung im Schreibunterricht z.B. funktionieren kann, hat mich über Jahrzehnte als Fachdidaktiker beschäftigt. Es geht im Schreibunterricht um einen besonders komplexen Lernprozess, der die einzelne Klassenarbeit, die Klassen- und Schulstufe übergreift und auch am Ende der Schulzeit noch längst nicht abgeschlossen ist, - es sei denn, Prüfungsarbeiten dienen so ausschließlich der Notenfindung und Selektion, dass leistungsschwache oder besser: langsam lernende Schülerinnen und Schüler schon bald zu der Überzeugung gelangen, dass es in diesem Feld nichts zu lernen gibt, auch wenn ihnen mit jeder Klassenarbeit mitgeteilt wird, dass sie noch sehr viel lernen müssten. (Merkelbach 1996)
Bildungsstandards hingegen, die im Konzept der Klieme-Expertise die Kernideen der einzelnen Schulfächer herausarbeiten, legen die Kompetenzen fest, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht sein sollen. Es geht in ihnen gerade nicht darum, "dass Inhalte für eine Klassenarbeit gelernt und wieder vergessen werden, sondern dass übergreifende Kompetenzen in grundlegenden Bereichen aufgebaut werden und überprüfbar über einen längeren Zeitpunkt zur Verfügung stehen". Bildungsstandards intendieren ein Lernen, "bei dem Inhalte und Prozesse aufeinander aufbauen, systematisch vernetzt, immer wieder angewandt und aktiv gehalten werden". Die "Partialisierung von Lernerfahrungen in einzelne, nur wenig verknüpfte Abschnitte" ist für die Gutachter "eines der wichtigsten Probleme beim schulischen Lernen" und wohl auch ein Hauptgrund für das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei TIMSS und PISA, weil dort die Testaufgaben häufig Verknüpfungen erforderten und "die Anwendung von Wissen und Können aus unterschiedlichen Teilbereichen der Fächer verlangten" (Klieme 2003,S.19f.).
Damit beschreiben die Gutachter das oben für den Schreibunterricht angesprochene Dilemma, in das fachdidaktische Forschung und Unterrichtspraxis immer dann geraten, wenn sie längerfristige Lernprozesse fördern, d.h. Kompetenzen aufbauen wollen, und dabei auf Barrieren stoßen, die von kurzfristigen Prüfungsterminen einer Auslese-orientierten Leistungsmessung errichtet werden.

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Die Standards der KMK

Am 4.Juli 2003, vier Monate nach Veröffentlichung der Klieme-Expertise, erschienen KMK-Entwürfe "Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss in den Fächern Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache" mit der Aufforderung an die interessierten Institutionen und Organisationen, bis zum 10. September 2003 Stellung zu nehmen (Bildungsstandards: Mittlerer Schulabschluss, 2003). Und nun passierte das, was die KMK nicht hat verhindern können: Ihre "Bildungsstandards" werden seitdem an dem im Klieme-Gutachten formulierten Anspruch an Standards als Mindestanforderungen gemessen, die ja vor allem auf das PISA-Ergebnis reagieren sollen, dass fast ein Viertel der Fünfzehnjährigen am Ende der Schulpflicht nicht richtig lesen können (vom Schreiben als der größeren Kunst ganz zu schweigen) und als "funktionale Analphabeten" die Schule verlassen.
Unter hohem Zeitdruck (eine Fristverlängerung hat die KMK abgelehnt, um ihre "Standards" noch rechtzeitig für das Schuljahr 2004/05 beschließen zu können) ist von der GEW eine umfangreiche Stellungnahme erarbeitet worden, deren Untertitel bereits den Haupteinwand gegen den KMK-Aktionismus enthält: "Gute Bildungsstandards brauchen ein Konzept, Zeit, wissenschaftlichen Sachverstand und Akzeptanz"(GEW-Stellungnahme: "Zweite Chance für die KMK" 2003). Mit diesen in der Klieme-Expertise für gute Standards entwickelten Kriterien und auf der Basis fachdidaktischer Gutachten zu den Standards der drei Fächer fällt das Urteil für Deutsch und Mathematik negativ aus; nur die Standards für die Erste Fremdsprache, die sich am "Gemeinsamen Referenzrahmen für Sprachen" der Europäischen Union orientieren und sich dabei auf wissenschaftliche Studien stützen, werden zur Weiterarbeit empfohlen.
Das GEW-Urteil über die Deutsch-Standards basiert auf der Expertise der Bremer Fachdidaktikerin Ursula Helmke, die zum Kontext der aktuellen Standard-Debatte auf das OECD-"Länderexamen" von 1971 verweist. Mit der Note "Bildungswesen: mangelhaft" für die BRD-Schulpolitik war schon damals das zentrale Ergebnis der Studie die soziale Selektion und eine unakzeptabel große "Risikogruppe" unterhalb eines minimalen Bildungsniveaus. Helmke sieht im Klieme-Gutachten nach Jahrzehnten der Stagnation, nach TIMSS, PISA und IGLU, ein Konzept, das beschreibt, "wie verbindliche nationale Bildungsstandards entwickelt und implementiert werden können", die nicht alles umfassen, was in der Schule unter Bildung verstanden wird, wohl aber "Kerne des Wissens und Könnens", die als "Basis für alle in der Wissensgesellschaft unverzichtbar" seien. Auch wenn die KMK sich großem Zeit- und Handlungsdruck ausgesetzt fühle, "die desolaten Leistungsergebnisse so bald wie möglich zu verbessern, sollten die wissenschaftliche Expertise und auch die unterschiedlichen Erfahrungen, die andere Länder bereits mit ihren Konzepten zur Qualitätsentwicklung in Schulen" und mit nationalen Standards gemacht haben, berücksichtigt werden. Irritierend war für Helmke allerdings schon die Pressemitteilung der KMK zur Freigabe der Entwürfe, wonach die Standards ein "erster wesentlicher Schritt zu einer dauerhaften Qualitätssicherung" seien, dem mit Hilfe einer zukünftigen wissenschaftlichen Einrichtung Kompetenzstufen hinzugefügt würden. Es frage sich, ob es sich bei dieser Reihenfolge, Kompetenzen vor der Entwicklung von Kompetenzmodellen zu formulieren, um ein Missverständnis handelt oder "um ein bewusst und grundlegend vom Klieme-Gutachten abweichendes Prozessverständnis der KMK" (Helmke 2003, S.1-3).
Ein Missverständnis kann spätestens mit der Beschlussfassung der Standards für den Mittleren Schulabschluss(4.12.2003) und dem Entwurf von Standards für den Hauptschulabschluss im Fach Deutsch (23.4.2004) ausgeschlossen werden (Bildungsstandards: Hauptschulabschluss/Deutsch, 2004). Ein Vergleich der beiden Texte zeigt, wie grundlegend die KMK das Klieme-Gutachten, das sie ja ausdrücklich in ihre Standard-Entwicklung einbeziehen wollte, ignoriert hat und wie sie unter demselben Etikett "Bildungsstandards" ihre seit den 1990er Jahren laufende Arbeit an Standards für Abschlussprüfungen fortsetzt, als habe es PISA nie gegeben. Das betrifft zum einen das Ignorieren der Forderung des Klieme-Gutachtens, Standards für den Kernbereich eines Faches gerade nicht zu Prüfungszwecken zu verwenden, sondern ausschließlich für eine förderorientierte Lernstandserhebung; zum andern aber zeigt sich die Umdeutung des Begriffs "Bildungsstandard" darin, dass es statt schulformübergreifender Standards, die die Defizite einzelner Schulen und Schulformen deutlich machen und Unterstützungsmaßnahmen begründen können, schulformbezogene geben wird, und zwar erst einmal für Abschlussprüfungen, mit deren Ergebnis Zuweisungen zu anderen Bildungseinrichtungen, aber keine Förderungsmaßnahmen mehr möglich sind.
Die auf mehreren Seiten aufgelisteten "Standards für die Kompetenzbereiche im Fach Deutsch" sind nun keineswegs der Versuch, Standards für ein Kerncurriculum zu definieren, sondern ganz schlicht traditionelle Lernzielkataloge, wie sie immer schon Lehrplänen zu entnehmen waren. Vergleicht man etwa den Katalog "Lesen - mit Texten und Medien umgehen" mit den Lesekompetenzmodellen, wie sie in PISA und IGLU definiert und in Tests angewandt wurden, muss man feststellen, dass diese KMK-Standards so rasch vorgelegt werden konnten, weil sie schon vor PISA im Wesentlichen formuliert waren und nach PISA alles ignoriert wurde, was aus internationalen Studien und dem Klieme-Gutachten über Sinn und Funktion von Standards zu entnehmen und zu lernen gewesen wäre. Wie wenig es sich um den Versuch handelt, Standards eines Kernbereichs wie Lesen zu formulieren und nicht wieder alles abzudecken und als prüfungsrelevant für die beiden Abschlüsse vorzuschreiben, wie es ähnlich auch in Lehrplänen steht, zeigt sich z.B. beim für den Deutschunterricht immer noch zentralen Aufgabenbereich "Literarische Texte verstehen und nutzen", dem die folgenden Lerninhalte subsumiert werden:

Mittlerer Schulabschluss
Literarische Texte verstehen und nutzen
  • ein Spektrum altersangemessener Werke - auch Jugendliteratur - bedeutender Autorinnen und Autoren kennen
Hauptschulabschluss
Literarische Texte verstehen und nutzen
  • epische, lyrische, dramatische Texte unterscheiden, insbesondere epische Kleinformen, Novelle, längere Erzählung, Kurzgeschichte, Roman, Schauspiel, Gedichte
  • epische, lyrische, dramatische Texte unterscheiden und wesentliche Merkmale kennen, insbesondere epische Kleinformen, Erzählung, Kurzgeschichte, Gedichte
  • Zusammenhänge zwischen Text, Entstehungszeit und Leben des Autors/der Autorin bei der Arbeit an Texten aus Gegenwart und Vergangenheit herstellen
  • an einem repräsentativen Beispiel Zusammenhänge zwischen Text, Entstehungszeit und Leben des Autors/der Autorin herstellen
  • zentrale Inhalte erschließen
  • wesentliche Elemente eines Textes erfassen: z.B. Figuren, Raum - und Zeitdarstellung, Konfliktverlauf
  • zentrale Aussagen erschließen
  • wesentliche Elemente eines Textes erfassen: Figuren, Raum - und Zeitdarstellung, Konfliktverlauf
  • wesentliche Fachbegriffe zur Erschließung von Literatur kennen und anwenden, insbesondere Erzähler, Erzählperspektive, Monolog, Dialog, sprachliche Bilder, Metapher, Reim, lyrisches Ich
  • wesentliche Fachbegriffe zur Erschließung von Literatur kennen und anwenden: Autor, Erzähler, Monolog, Dialog, Reim
  • sprachliche Gestaltungsmittel in ihren Wirkungszusammenhängen und in ihrer historischen Bedingtheit erkennen: z.B. Wort-, Satz- und Gedankenfiguren, Bildsprache (Metaphern)
  • grundlegende Gestaltungsmittel erkennen und ihre Wirkung einschätzen: z.B. Wortwahl, Wiederholung, sprachliche Bilder
  • eigene Deutungen des Textes entwickeln, am Text belegen und sich mit anderen darüber verständigen
  • eigene Deutungen des Textes entwickeln, mit anderen darüber sprechen am Text belegen
  • analytische Methoden anwenden: z.B. Texte untersuchen,vergleichen, kommentieren
  • produktive Methoden anwenden: z.B. Perspektivenwechsel: innerer Monolog, Brief in der Rolle einer literarischen Figur; szenische Umsetzung, Paralleltext, weiterschreiben, in eine andere Textsorte umschreiben
  • untersuchende und produktive Methoden kennen und anwenden: z.B. Texte vergleichen, weiterschreiben, Paralleltexte verfassen, szenische Umsetzung
  • Handlungen, Verhaltensweisen und Verhaltensmotive bewerten
  • Handlungen und Verhaltensweisen beschreiben und werten
   

Der umfangreiche Katalog für den Mittleren Abschluss signalisiert, dass hier wieder an alles gedacht wurde, was eine auf Schule zugeschnittene Textanalyse, die produktiven Verfahren eingeschlossen, ausmacht und was mit literarischem Wissen ausgestattete Lerner am Ende des 10.Schuljahes zu leisten in der Lage sein sollten. Die Fachwissenschaft bestimmt nach wie vor die Inhalte, ohne Bezug auf allgemeine Bildungsziele und ohne den gesellschaftlichen Kontext, die Bedürfnisse der Schüler/innen, aber auch ohne einschlägige Studien der Schulforschung und der Fachdidaktik zur Kenntnis zu nehmen.
Der von der Klieme-Expertise eingeforderte schulformübergreifende Charakter von Standards wird mit Blick auf die Unterschiede zum Hauptschulabschluss auf eine geradezu komische Weise konterkariert:

  • Vom Nachweis, "ein Spektrum altersangemessener Werke - auch Jugendliteratur - bedeutender Autorinnen und Autoren" zu kennen, sind Hauptschüler/innen entbunden, was seine Logik hat bei einem so hohen Anteil an "funktionalen Analphabeten" unter den Hauptschulabgängern.
  • Beim Unterscheiden "epischer, lyrischer, dramatischer Texte" bleiben Hauptschüler/innen dann auch konsequent von Novelle, längerer Erzählung, Roman und Schauspiel verschont. Nur "epische Kleinformen" sind ihnen zumutbar.
  • Der Zusammenhang von Text, Entstehungszeit und Leben des Autors/der Autorin soll nicht an "Texten", sondern an einem "repräsentativen Beispiel" nachgewiesen werden.
  • Unter den "wesentlichen Fachbegriffen zur Erschließung von Literatur" sind Erzählperspektive, sprachlich Bilder, Metapher, lyrisches Ich wohl Hauptschüler/innen generell nicht vermittelbar.
  • Was das Erkennen "sprachlicher Gestaltungsmittel in ihren Wirkungszusammenhängen und in ihrer historischen Bedingtheit" betrifft, kann bei Hauptschüler/innen auf den historischen Aspekt dieser Erkenntnis offensichtlich verzichtet werden.
  • Der Vergleich der analytischen und produktiven Methoden des Textumgangs zeigt den ebenso realistischen wie armseligen Anspruch an die literarische Kompetenz von Hauptschüler/innen am Ende ihrer Schulzeit.
  • Dass Hauptschüler/innen lernen sollen, "Handlungen und Verhaltensweisen" zu beschreiben und zu werten, nicht aber über "Verhaltensmotive" nachzudenken und sich zu verständigen, ist noch einmal der krampfhafte Versuch, Anspruchsdifferenzen zu formulieren, um einen eigenen Hauptschulabschluss zu legitimieren.

Diese feinen Unterschiede sind guter alter Lehrplan-Wein im neuen Standard-Schlauch, - gut zu studieren auch an den auf dem Höhepunkt der PISA-Debatte verabschiedeten, wieder streng schulformbezogenen Hessischen Lehrplänen für die Sekundarstufe I, die so recht zu den neuen Standards passen. Da zeigt der Hauptschulplan im Vergleich zu Realschule und Gymnasium durchweg, dass er für Schüler/innen gemacht ist mit schwerwiegenden und schwer korrigierbaren Lerndefiziten, die, so der zugrundeliegende Begabungsbegriff, nicht in einer auslesenden Schule entstanden sind, sondern schon beim Zeugungsakt oder spätestens durch Versäumnisse in der vorschulischen familiären Sozialisation, woran die Schule wenig zu kompensieren vermag.
Die feinen Unterschiede im Bildungsprogramm für die beiden Abschlussprüfungen zeigen sich deutlicher noch in den beiden einleitenden Texten mit gleichen Titel: "Der Beitrag des Faches Deutsch zur Bildung". Dazu zwei Ausschnitte, die Ähnliches thematisieren:

Mittlerer Schulabschluss

Bei der Arbeit mit der Sprache erwerben die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen, die ihnen helfen, ihre Welt zu erfassen, zu ordnen und zu gestalten. Über die Grenzen des Faches und die Schule hinaus leistet der Deutschunterricht damit einen wesentlichen Beitrag zur Allgemeinbildung der Schülerinnen und Schüler in Form eines Orientierungs- und Handlungswissens in Sprache, Literatur und Medien und einer entsprechenden Verstehens- und Verständigungskompetenz. Den Heranwachsenden bietet dies die Voraussetzung, Interesse zu entwickeln, am kulturellen Leben teilzunehmen. Sie erfahren auf diese Weise, welche Bedeutung kulturelle Traditionen und ästhetische Vorstellungen für die gesellschaftliche Entwicklung haben, und werden dazu angeregt, sich mit zeitgenössischen und historischen Erscheinungsformen von Sprache und Literatur auseinander zu setzen. Diese Einsichten machen ihnen die Bedeutung des Reichtums kultureller, sprachlicher, literarischer und medialer Vielfalt für die eigene Entwicklung bewusst. Das schließt den Ausblick auf andere Kulturen ausdrücklich mit ein. Diese Bereiche des Deutschunterrichts bieten aus diesen Gründen auch weiterführende Ansätze für fachübergreifendes und fächerverbindendes Arbeiten.
Hauptschulabschluss

Lebensnahe, alters- und entwicklungsgerechte Situationen führen die Schülerinnen und Schüler dazu, Sprache situationsangemessen, sachgemäß, partnerbezogen und zielgerichtet zu gebrauchen. Dies gilt auch für den Unterricht in anderen Fächern. Ein angemessener mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch ist daher stets fachübergreifendes und fächerverbindendes Unterrichtsprinzip.

Für den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 kommt der Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf den Übergang in das Berufsleben besondere Bedeutung zu. Das Fach Deutsch leistet dazu seinen Beitrag, indem vor allem die für die Anforderungen der Berufsausbildung notwendigen sprachlichen und methodischen Kompetenzen zum Arbeitsschwerpunkt werden.
Die Heranwachsenden lernen, auf der Grundlage der mit den fachlichen Inhalten und Methoden vermittelten Werte- und Normvorstellungen gesellschaftlichen Anforderungen zu begegnen, Lebenssituationen sprachlich zu bewältigen, sich mitzuteilen - zu argumentieren, Gefühle und Vorstellungen sprachlich zu fassen -, Kritikfähigkeit zu entwickeln, Leseerfahrungen zu nutzen und in kritischer Distanz zwischen Lebenswirklichkeit und den in Literatur und Medien dargestellten virtuellen Welten zu unterscheiden. Dies dient wesentlich der Persönlichkeitsentwicklung, das heißt der Stärkung von Selbstbewusstsein, Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Für die persönliche und schulische Entwicklung, das Leben in der demokratischen Gesellschaft sowie für den beruflichen und privaten Alltag ist die Fähigkeit im Team zu arbeiten und sich mitzuteilen wesentlich. Dazu müssen die Schülerinnen und Schüler über eine angemessene Artikulations- und Ausdrucksfähigkeit verfügen.

Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich je nach Situation und Absicht partnergerecht, sachangemessen und verständlich zu äußern. Die Fähigkeit, dabei aufmerksam und genau zuzuhören, sich auf die Äußerungen anderer einzulassen und mit ihnen konstruktiv umzugehen, ist dafür eine wichtige Voraussetzung.

Ein Vergleich der beiden Texte zeigt auch auf dieser abstrakten Ebene den objektiven Zynismus eines Systems, das "Leistungsschwache" gnadenlos aussortiert, besonderen Schulformen zuweist, sie nicht 10 bzw. 13 Schuljahre allgemeinbildet, sondern nur 9 und ihnen dann auch noch einen Gutteil der Zeit für Allgemeinbildung raubt, um sie für einen reibungslosen Übergang in die Berufswelt fit zu machen, in der sie in zunehmendem Maße, weil ohne Mittleren Abschluss oder Abitur, nicht mehr gebraucht werden. Während die große Mehrheit der Schüler/innen - wie gut auch immer - lernen, "auf der Grundlage der mit den fachlichen Inhalten und Methoden vermittelten Werte- und Normvorstellungen gesellschaftlichen Anforderungen zu begegnen, Lebenssituationen sprachlich zu bewältigen, sich mitzuteilen - zu argumentieren, Gefühle und Vorstellungen sprachlich zu fassen -, Kritikfähigkeit zu entwickeln" usw., was "wesentlich der Persönlichkeitsentwicklung, d.h. der Stärkung von Selbstbewusstsein, Sozialkompetenz und Teamfähigkeit" dient, lernen die andern, was in ihren schwachen Kräften steht: "die Fähigkeit im Team zu arbeiten und sich mitzuteilen", "über eine angemessene Artikulations- und Ausdruckfähigkeit" zu verfügen, "sich je nach Situation und Absicht partnergerecht, sachgerecht und verständlich zu äußern" und "dabei aufmerksam und genau zuzuhören und sich auf die Äußerungen anderer einzulassen und mit ihnen konstruktiv umzugehen".
Auf solche "Bildungsstandards" werden Hauptschüler/innen nach schulformbezogenen Lehrplänen und nun auch nach Standards für den Schulabschluss vom 5.Schuljahr an vorbereitet, ungeachtet der gesetzlichen Forderung nach Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungsgängen. Im Resümee einer Stellungsnahme der GEW zu diesen Deutsch-Standards für die Hauptschule wird ein "Bruch sowie eine Lücke in Inhalts- und Methodenkenntnis" festgestellt, "deren Aufarbeitung in einer Jahrgangsstufe (10) nicht möglich" erscheine, was nur den Schluss zulasse, "dass offenbar von einer vorzeitigen Abkoppelung der Schülerinnen und Schüler, deren Schulabschluss mit dem Ende des Jahrgangs 9 in Aussicht genommen wird bzw. von einem eigenen Bildungsgang 'Hauptschule' ausgegangen wird". (GEW-Stellungnahme: "Chancen nicht weiter verspielen" 2004, S.16).
Kein Wunder, wenn nach statistischen Erhebungen mittlerweile 5 Schüler/innen, die im Laufe der Sekundarstufe I in eine anspruchsvollere Schulform aufsteigen, 100 gegenüberstehen, die nach unten durchgereicht werden. Vor zehn Jahren war das Verhältnis noch 20:100 (Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung). Diesen Trend werden die KMK-Standards für Abschlüsse nicht stoppen, eher verstärken, vor allem dort, wo, wie in Hessens neuem Schulgesetz, "Querversetzungen" bis ins 8.Schuljahr möglich sein werden. Konnte man seither nur die Schüler/innen im 5.Schuljahr rasch und problemlos in eine andere Schulform zurückversetzen, die keine entsprechende Empfehlung der Grundschule besaßen, so ist das jetzt generell auch in den Klassen 6, 7 und 8 möglich, "wenn eine erfolgreiche Mitarbeit im Unterricht des gewählten Bildungsganges nicht zu erwarten ist und die Wiederholung der Jahrgangsstufe die Schülerin und den Schüler in der Entwicklung erheblich beeinträchtigen würde" (Hess.Schulgesetz, §75,3). Die Logik eines solchen Paragraphen scheint die zu sein: Warum soll z.B. ein Realschüler im 8.Schuljahr sich quälen oder quälen lassen und zuletzt noch eine demütigende "Ehrenrunde" drehen, wenn seine Versetzung in eine 8.Hauptschulklasse ihm viel mehr Chancen bietet, sein "Selbstbewusstsein", seine "Sozialkompetenz" und seine "Teamfähigkeit" zu entwickeln. Konsequent dann auch, dass nach dem Gesetz Widerspruch oder eine Anfechtungsklage der Eltern gegen ein solches Schnellverfahren keine aufschiebende Wirkung haben. So wird das Nichtversetzen zwar nicht abgeschafft, aber gehörig eingeschränkt, nur mit einer ganz anderen Begründung, als dies in der PISA-Studie geschieht, wo Klassenwiederholungen als in der Regel völlig ineffektiv dargestellt werden und darum durch gezielte Fördermaßnahmen vermieden werden sollten.
Wenn im Standard-Konzept des Klieme-Gutachtens die Forderung erhoben wird, Bildungsstandards von Bildungszielen abzuleiten, so fehlt das für Eiko Jürgens in den KMK-Standards für den Mittleren Schulabschluss fast vollständig. Lediglich im Fach Deutsch seien Ansätze erkennbar, "den Anspruch von Bildung auf Humanisierung, Demokratiefähigkeit und (selbst)befreiende Erkenntnis einzulösen". Jedoch auch da überwiegen für ihn "zweckrationale, nach Nützlichkeitserwägungen ausgewählte Erwartungen, die den Schüler als funktionierendes, an vorgegebene fachimmanente Anforderungen" angepasstes "Objekt von Unterricht und Schule verstehen". Diese Standards stellten sich "als einer bestimmten Fachwissenschaft und Fachdidaktik entnommene Anforderungsprofile dar, die vermutlich aus der Essenz eingedampfter, schon länger in Gebrauch befindlicher länderspezifischer Lehrpläne gewonnen wurden". Der dafür verwendete Terminus "Bildungs"-Standards sei irreführend und wohl deswegen übernommen worden, "weil ein allgemeinbildendes Schulwesen sich nicht in aller Öffentlichkeit von 'Bildung' verabschieden kann, schon wegen der Zugkraft des Wortes nicht".(Jürgens 2003, S.15f.)
Der Vergleich der Deutsch-Standards für den Mittleren Abschluss mit den vorgesehenen Standards für den Hauptschulabschluss ergibt, dass die Kritik von Jürgens am Fehlen eines expliziten Bildungskonzepts für das Anforderungsprofil der Hauptschule verstärkt zutrifft, wo Bildung ganz unverblümt auf Ausbildung reduziert erscheint; wo stärker noch als beim Mittleren Schulabschluss auf "Anpassungskompetenz" des Schülers gesetzt wird und auf seine "Einsichtsfähigkeit", "dass die Bildungsstandards für das spätere Berufsleben von gesellschaftlichem Nutzen sind". (Jürgens 2003, S.16).

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Kompetenzmodelle als Voraussetzung für Standarddefinitionen

Im Unterschied zu den KMK-Regelstandards ist mit der Forderung des Klieme-Gutachtens, sich auf schulformübergreifende Mindeststandards zu konzentrieren, für Ursula Helmke "ein Wechsel der Philosophie der deutschen Schule" beabsichtigt. "Für benachteiligte oder/und vom Versagen bedrohte Schülerinnen und Schüler" werde "den Lehrkräften die Verantwortung dafür übertragen, dass die Standards erreicht werden". Sie müssten "alle Unterstützungsmöglichkeiten mobilisieren - für die bedrohten Jugendlichen wie für sich als Unterrichtende". Diese "Verantwortungsumkehr" könnte "ein wirksames Mittel sein, die vom Scheitern im Schulsystem bedrohte Risikogruppe entscheidend zu minimieren". Mindeststandards, die für Kompetenzen innerhalb eines Lernbereichs aufgebaut werden, setzten Kompetenzmodelle voraus, um zu konkretisieren, "welche Kompetenzen auf welcher Niveaustufe und in welchen Dimensionen die Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben haben sollen". Sie müssten "so konkret gefasst sein, dass sie exakt operationalisiert und ihr Erreichen in passgenauen Aufgabenstellungen getestet werden" können. (Helmke 2003, S.8)
Die Detailliertheit der KMK-Standards für den Mittleren Schulabschluss täuscht auch für Ursula Helmke "eine Präzision vor, die - kritisch gelesen - sicher zu stellen versucht, dass die ganze Fülle des methodisch-didaktischen Repertoires wie auch der traditionellen Formenkenntnis der Literatur im Deutschunterricht ausgeschöpft wird". Das aber widerspreche "der erklärten Funktion von Standards, die sich ausdrücklich auf je Fach definierte Kernkompetenzen bzw. ein Kerncurriculum, in dem die Kompetenzen aufgebaut werden können, beziehen sollen" (Helmke 2003, S.9). Darum frage es sich, was mit solchen Standards für das deutsche Schulwesen gewonnen ist, wenn die KMK, entgegen der nachdrücklichen Empfehlung des Klieme-Gutachtens, sich nicht für Mindest-, sondern für Regelstandards entscheidet, die "eine Bandbreite des Erreichbaren oder einen Durchschnitt des zu Erreichenden" definierten und gerade nicht eine "fixe Größe" darstellten, "auf die Schulen und Lehrkräfte als Lehr-/Lernziele verpflichtet werden" können. (Helmke 2003, S.11) Mit ihrer überstürzten Formulierung von Regelstandards für den Mittleren Schulabschluss riskiere die KMK, dass dieser Schnellschuss zum Fehlstart gerate, vor dem inzwischen zahlreiche Bildungsexpertinnen und -experten warnten - mit dem Hinweis auf die immense Entwicklungsarbeit, die der deutschen Schulforschung bevorstehe.
Auf diese Herausforderung der für den Deutschunterricht in erster Linie zuständigen fachdidaktischen Schul- und Unterrichtsforschung versucht Albert Bremerich-Vos in einer Standortbestimmung seiner Disziplin eine Antwort zu geben. In Kenntnis des Klieme-Gutachtens und des KMK-Entwurfs "Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss" verweist er auf Aktivitäten in einzelnen Bundesländern, "Kernlehrpläne" zu formulieren. Nordrhein-Westfalen z.B., das eine Kooperation mit den "Testmachern" der Schwedischen Bildungsbehörde Skolverket vereinbart hat (Eikenbusch/Lagergren 2004, S.32), arbeitet seit Mitte 2003 an gemeinsamen Lehrplänen für alle Schulformen der Sekundarstufe I, in denen knapp formuliert wird, "in welchen 'Domänen' (Sprechen und Zuhören, Schreiben, Umgang mit Texten und Medien, Reflexion über Sprache) in den Doppeljahrgangsstufen 5/6, 7/8 und 9/10 in welcher Sequenzierung anhand welcher exemplarischer Themen und Typen von Aufgaben welche Kompetenzen bzw. Leistungen der Schülerinnen und Schüler erwartet werden". Da also in diesen Kernlehrplänen "über Jahrgangsstufen hinweg Ergebnisse 'kumulativen Lernens' beschrieben werden sollen - eine Form des Lernens, bei der Prozesse und Ergebnisse aufeinander 'aufbauen' und durch vielfältige Applikation mehr und mehr vernetzt und 'aktiv' gehalten werden" sollen, könnten sie im Sinne des Klieme-Gutachtens als "output-orientiert" gelten. Betont werde, dass mit dieser Form von Lehrplänen, in denen es ja nur um "Kerne" und nicht um die ganze Bandbreite eines Faches gehe, die einzelnen Schulen "viel mehr Frei- und Spielräume" hätten als bislang. (Bremerich-Vos 2003, S.5)
So sehr dem Versuch in NRW prinzipiell zugestimmt wird, mit Kompetenzstufen in einem Kerncurriculum Anschluss zu finden an internationale Curriculumforschung, wie sie im Klieme-Gutachten ihren Niederschlag gefunden hat, - für Bremerich-Vos gibt es dennoch eine Fülle von Fragen an konkrete Standardformulierungen in den neuen Kernlehrplan-Entwürfen, deren Beantwortung empirisches Wissen erforderlich machten, "das zumindest in der Deutschdidaktik derzeit gar nicht zur Verfügung" stehe. Etwa im Bereich "Reflexion über Sprache" werden zwölf Standards formuliert, von denen der dritte zu den Wortarten lautet:

  • Jahrgangsstufe 5/6
  • Die Schülerinnen und Schüler unterscheiden Wortarten, erkennen und untersuchen deren Funktion und bezeichnen sie mit Hilfe der Terminologie
  • Jahrgangsstufe 7/8
  • Sie bestimmen mithilfe der Proben die unterschiedlichen Wortarten und können Wortarten funktional gebrauchen.
  • Jahrgangsstufe 9/10
  • Sie verfügen über genauere Kenntnisse in Bezug auf Funktion, Bedeutung und Funktionswandel von Wörtern; sie nutzen sie für die Untersuchung von Texten und das Schreiben eigener Texte."

Bremerich-Vos fragt zu diesem Standard:
"Es ist von der Funktion von Wortarten im Singular die Rede. Ist hier die syntaktische Funktion gemeint? Was heißt es, dass Wortarten funktional gebraucht werden können? Muss/kann das (nicht im Fall von Deutsch als Zweitsprache) überhaupt gelehrt werden, haben Schüler/innen hier nicht längst das einschlägige Know-how? Wieso spielen Proben erst in 7/8 eine Rolle und nicht schon in 5/6? Was heißt das konkret, dass man Kenntnisse von der Funktion von Wörtern für die Textanalyse nutzen soll?" (Bremerich-Vos 2003, S.5f.)
Solche Einwände seien, so Bremerich-Vos, "nicht beckmesserisch gemeint". Wer sich einmal selbst darum bemüht habe, "Standards, noch dazu wie hier in 'Progression' zu formulieren", wisse, "wie schwierig und damit auch kritikwürdig dieses Unterfangen" sei. Bei Kompetenzen gehe es eben nicht nur um "deklaratives Wissen", das sich allzu oft außerhalb der Lernsituation als "träge" und "nicht aktivierbar" erweise. Kompetenzen bezögen sich "auf Modelle des Zusammenspiels von Wissen und Können und damit auf Konstrukte"; sie zu "plausibilisieren" sei "Aufgabe empirischer Forschung".
Während für eine Theorie der Stufen von Lesekompetenz mit PISA und IGLU wichtige Studien vorliegen, gibt es nach Bremerich-Vos derzeit in den übrigen Lernbereichen des Deutschunterrichts "allenfalls mehr oder weniger differenzierte Stufentheorien des Rechtschreiberwerbs", von denen sich eine Version etwa "grob vereinfacht" so darstellen lasse:

  • "Auf einer untersten Stufe werden schriftlich sehr häufig Lautformen 'wiedergegeben', die nicht korrekt sind.
  • Auf einer 2.Stufe wird fast immer so verschriftet, dass die standardsprachliche Lautstruktur erkannt werden kann.
  • Auf einer 3.Stufe wird beherrscht, wofür es Regeln mit großer Reichweite und eine überschaubare Zahl von Ausnahmen gibt. So wird z.B. Wand nicht mehr wie auf Stufe 2 want geschrieben.
  • Auf Stufe 4 beherrscht man z.B. viele Fälle von 'Minderheitenschreibungen', z.B. der Schreibung mit Dehnungs-h, die viel seltener ist als die mit dem einfachen Vokalbuchstaben und für die es nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen gibt.
  • Auf der höchsten Stufe beherrscht man dann auch Schreibungen, die weder durch Regeln noch durch Analogien erschlossen werden können, z.B. bestimmte Eigennamen und Fremdwörter."
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Ob eine solche Stufentheorie wirklich "triftig"ist, könne allerdings "nicht im Lehnstuhl entschieden" werden; es handle "sich zu einem guten Teil um eine empirische Frage". Schwieriger noch als bei der Orthografie dürfte "sich die Konstruktion einer empirisch gehaltvollen Stufentheorie in den Lernbereichen 'Mündliche Kommunikation', 'Schreiben' und 'Reflexion über Sprache' gestalten". (Bremerich-Vos 2003, S.6f.)
Bremerich-Vos nennt diese Schwierigkeiten nicht, um eine notorisch Empirie-abstinente Fachdidaktik als reformunfähig darzustellen; er begreift im Gegenteil die aktuelle Debatte über Standards und Kompetenzmodelle als große Chance, zumal von der Bildungsforschung durchgängig auf die "Bereichsspezifität" von Kompetenzen verwiesen werde, d.h. auf die Zuständigkeit und Notwendigkeit fachdidaktischer Forschung.
Wenn die Deutschdidaktik ihre Chance nutzt und verstärkt in empirischen Studien sich auf die Entwicklung von Kompetenzmodellen und Testaufgaben und die Formulierung von Standards konzentriert, wie sie jetzt schon für die "Kernlehrpläne" von NRW gefragt sind, kann das zu einem Aufschwung fachdidaktischer Schul- und Unterrichtsforschung führen, die über definierte Kernbereiche und Grundqualifikationen hinaus Stufentheorien und Evaluationsverfahren auch für Lernfelder entwickelt, die nicht zu den "Kernen" des Fachs zählen und die doch für den Bildungsauftrag des Deutschunterrichts, für seinen speziellen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, bedeutsam sind, - Evaluationsverfahren in erster Linie zur Diagnose dessen, was gelernt und noch nicht gelernt wurde, also zur individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler. Warum sollte es nicht in einer sich entwickelnden Evaluationskultur an unseren Schulen auch empirisch überprüfte Stufentheorien geben für Lernbereiche des Deutschunterrichts, in denen zwar nicht gemessen, aber plausibel interpretiert werden kann, und zwar von Lehrenden und Lernenden gemeinsam, um auch in solchen Bereichen aus Gründen der Motivation und Ermutigung sich besser auf Lernfortschritte verständigen zu können? Gerade um der Gefahr zu begegnen, dass die in nationalen und internationalen Studien und Tests notwendige Konzentration auf ein Kerncurriculum einen Bedeutungsverlust für die übrigen Lernfelder zur Folge hat und sie in eine Nischenexistenz abgedrängt werden, wo sie von Schülerinnen und Schülern nicht mehr ernst genommen werden, sollte es auch Stufentheorien geben z.B.:

  • speziell zum literarischen Lesen und Verstehen als Ergänzung des pragmatisch orientierten Lesekompetenzmodells von PISA,
  • zum literarischen Gespräch,
  • zum Schreiben literarischer Texte,
  • zum mündlichen literarischen Erzählen,
  • zum Vorlesen und Vortragen,
  • zum szenischen Spiel.

Zu all diesen Lernfeldern liegen bereits empirische Studien vor, auf denen man aufbauen kann. Notwendig wird allerdings eine viel engere Verzahnung von Wissenschaft und Schule sein, die auch der allseits eingeforderten grundlegenden Reform der Ausbildung von Deutschlehrer/innen zugute käme. Die Akzeptanz jedenfalls von Kompetenzmodellen und empirisch erprobten Evaluationsverfahren wird unter Lehrerinnen und Lehrern mittel- und langfristig nur zu erreichen sein, wenn sie in schulpraktischen Studien der ersten und zweiten Ausbildungsphase und in Veranstaltungen der Lehrerfortbildung in diesen Forschungsprozess eingebunden werden und dabei Kompetenz, also Wissen und Können, erlangen.
In dem Maße, wie dieses langfristig zu realisierende Projekt, in enger Kooperation von Schulforschung und Schule, gelingt und das Erreichen einer Kompetenzstufe an "passgenauen Aufgabenstellungen" getestet werden kann, und zwar von den Lehrenden und den Lernenden, wird das leichter möglich sein, was alle Fraktionen der bildungspolitischen Debatte einmütig fordern und was als innere Differenzierung im traditionellen Klassenverband so schwer zu machen ist: das individuelle Lernen nach dem je eigenen Lerntempo eines Kindes oder Jugendlichen mit individueller Beratung und Unterstützung. Wenn das Ziel als Mindeststandards klar definiert ist und die Lernstufen auf dem Weg dahin, dann müssen Organisationsformen dafür gesucht werden, wie auch die Langsamen das Ziel erreichen, ohne als Versager demotiviert, stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Für die Lösung dieser pädagogisch-organisatorischen Aufgabe braucht es das Know-how all der Reformschulen bei uns und in anderen Ländern, die ja z.T. Jahrzehnte-lange Erfahrungen damit gemacht haben, nicht im Gleichschritt eines altershomogenen Klassenverbandes das Klassenziel erreichen zu wollen. Für Matthias von Salden und Arne Paulsen könnte die konsequente Einführung von Bildungsstandards "bei vorhandenem politischem Willen dazu führen, die altershomogene Jahrgangsklasse, die systembedingt durch die Annahme der Gleichschrittigkeit schwere Probleme hervorruft (Sitzen bleiben; Unterforderung Hochbegabter) abzuschaffen bzw. Wege zu öffnen in einigen Lernsequenzen Schülerinnen und Schüler mit homogenem Kompetenzniveau zusammenzufassen, und zwar unabhängig von ihrem Alter". "Man könnte letztlich ein Modulsystem entwickeln und Schulwege individualisieren, um das jeweilige Lerntempo der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen." (Salden/Paulsen, S.33)

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Ausblick

Das Projekt "nationale Bildungsstandards", das, wie die Klieme-Expertise überzeugend darlegt, Zeit in Anspruch nehmen wird, kann nicht bedeuten, dass reformwillige Schulen nun warten müssen auf erste verlässliche Ergebnisse des Projekts. Den Weg einer auf kollegialer Kooperation basierenden innerschulischen Reform, den die erfolgreichen deutschen PISA-Schulen und gewiss zahlreiche reformorientierte Schulen, die nicht getestet wurden, lange vor PISA ja beschritten haben, kann morgen jede andere Schule auch beschreiten. Wie erfolgreiche Schulen bei der Entwicklung eines eigenen Curriculums arbeiten, ist ja kein Betriebsgeheimnis. Die meisten dieser Schulen lassen sich schon aus Stolz auf ihre Leistung gerne in die Karten schauen und es gibt zahlreiche Publikationen über erfolgreiche Reformschulen. Kein Kollegium muss auf die von der Forschung zu leistenden nationalen Bildungsstandards und Tests warten. Das gilt für Grundschulen mit der oft alles überschattenden Zäsur am Ende des 4.Schuljahres, die durch die im Entwurf bereits vorliegenden Standards für den Primarbereich (23.4.2004) eher verstärkt wird. Es gilt mehr noch für Schulen der Sekundarstufe I. So kann morgen schon jedes Gymnasium und jede Realschule über Maßnahmen individueller Förderung beraten, um die diskriminierenden Auswirkungen der Nichtversetzung oder des Abschiebens in weniger anspruchsvolle Schulformen zu mindern. Nicht um Mitschleppen und ein Absenken des Leistungsniveaus kann es gehen, sondern um Förderung von Leistung und Leistungsbereitschaft und um ein Offenhalten der Abschlüsse. Von solchen Maßnahmen würden in jedem Falle Hauptschulen und Integrierte Gesamtschulen profitieren, deren Arbeit durch den hohen Anteil "querversetzter" Schülerinnen und Schüler ja nicht leichter wird.
Angenommen es gelingt einer kritischen Öffentlichkeit, die KMK erfolgreich zu drängen, ihr starkes Interesse an Standards für Abschlussprüfungen auf die Entwicklung nationaler, schulformübergreifender Bildungsstandards zu erweitern, mit der Konsequenz schulformübergreifender Lehrpläne, und in dieses nationale Bildungsprojekt gehörig zu investieren, so kann sie dafür auf das bereits vorhandene Know-how der deutschen Schulforschung zählen. Mit den Erfahrungen aus internationalen Studien wie TIMSS, PISA und IGLU und ihren speziellen Evaluationen an deutschen Schulen sollte es dieser Forschung in absehbarer Zeit möglich sein, erste Kompetenzmodelle und Tests zu entwickeln, und darüber hinaus auch Parteien-übergreifende Vorschläge zur Reform des deutschen Schulsystems insgesamt zu machen. Dabei wird sich zeigen, dass wir nicht nur von Finnland oder Schweden lernen können, sondern auch - viel mehr als bisher - von den zahlreichen erfolgreichen Reformschulen im eigenen Land.
Bildungsstandards als Mindestanforderungen für Schülerinnen und Schüler werden es Schulen möglich machen, ihre speziellen Probleme mit dem Erreichen der Standards klar zu benennen und Unterstützungsangebote einzufordern. Das könnte dann auch das abstrakte Reden über Chancengleichheit, die alle wollen, erschweren, weil deutlich würde, dass die vor allem sozial bedingte Chancenungleichheit schon beim Schuleintritt von unserem selektiven System nicht vermindert, sondern verstärkt wird und viele Schülerinnen und Schüler, nicht nur an Haupt- und Sonderschulen, nicht den Hauch einer Chance haben, die Mindeststandards für einen Mittleren Schulabschlusses zu erreichen.
Erst die Entwicklung und Anwendung von nationalen Bildungsstandards kann die notwendige Strukturdebatte auf eine ganz neue empirische Basis stellen und den in Gang gekommenen Diskurs über ein anderes Bildungssystem, auch in der Vorschulzeit, fördern. In dieser Auseinandersetzung sind die politischen Parteien nach wie vor die Hauptakteure, denen es jedoch zunehmend schwererfallen sollte, die Interessen und Forderungen von Eltern- und Lehrerorganisationen und nicht zuletzt den steigenden Anspruch der Wirtschaft an die Qualität unserer Bildungseinrichtungen zu ignorieren. (Merkelbach 2003 a).

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Literatur

Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss in den Fächern Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache. Entwurf vom 4.07.2003 www.kmk.org/aktuell/Bildungsstandards Zitiert wird nach der Beschlussfassung der KMK vom 4.12.2003.
Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss nach Jahrgangsstufe 9. www.kmk.org/aktuell/Bildungsstandards 23.04.2004.
Bremerich-Vos, Albert: Bildungsstandards, Kompetenzstufen, Kernlehrpläne, Parallel- und Vergleichsarbeiten. In: Deutschunterricht, Braunschweig 2003, S.4-10.
Eikenbusch, Gerhard/ Lagergren, Tommy: Keine Elchtests für die Schule. Erfahrungen mit Tests und zentralen Prüfungen in Schweden. In: Pädagogik 2004, H.6, S.28-32.
GEW-Stellungnahme: "Zweite Chance für die KMK". Gute Bildungsstandards benötigen ein Konzept, Zeit, wissenschaftlichen Sachverstand und Akzeptanz. GEW-Stellungnahme zu: KMK: Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss in den Fächern Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache. Entwurffassung vom 4.07.03. www.gew.de/Bildungsstandards 2003.
GEW-Stellungnahme: "Chancen nicht weiter verspielen". Nur 'gute' Bildungsstandards sind Instrumente für ein chancengleiches und leistungsfähiges Schulsystem. Stellungnahme zu den KMK-Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss Klasse 9 in den Fächern Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache sowie zu den Bildungsstandards Klasse 4 in den Fächern Deutsch und Mathematik. (KMK-Entwurffassungen Stand 23.04.2004) www.gew.de/Bildungsstandards 2004.
Helmke, Ursula: Expertise zu den Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. www.gew.de/Bildungsstandards 2003.
Hentig, Hartmut von: Bildung. Ein Essay. München 1996 = Beltz Taschenbuch 1999.
Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Frankfurt: Deutsches Institut für internationale pädagogische Forschung 2003.
Jürgens, Eiko: Bildungstheoretische Implikationen der KMK-Entwürfe "Bildungsstandards für die Fächer Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache": Bildungsbegriff, Menschenbild, Funktion von Bildung/Schule. www.gew.de/Bildungsstandards 2003.
Merkelbach, V.: Die Schönheit von Schülertexten wahrnehmen. Stilübungen für Lernende und Lehrende. In: Praxis Schule 5-10 1996, H.1, S.20-25.
Merkelbach, V.: Neue Akteure im alten Streit um ein anderes Schulsystem in Deutschland. www.rz.uni-frankfurt.de/~merkelba/ 2003 a.
Merkelbach, V.: Können unsere Schulen besser werden? Bildungsstandards und Tests im gegliederten System. www.rz.uni-frankfurt.de/~merkelba/ 2003 b.
Salden, Matthias von/ Paulsen, Arne: Die nationalen Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss der Kultusministerkonferenz im Vergleich zu den Vorschlägen des Gutachtens "Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards" ("Klieme-Gutachten") und den Erkenntnissen nach PISA. Universität Lüneburg: Arbeitsstelle Schulentwicklung. www.gew.de/Bildungsstandards

Letzte Aktualisierung: 01.07.2004